[151] Für den folgenden Tag, den 13. April, hatte Pitferge's Programm einen Besuch des canadischen Ufers angesetzt; wir waren um sieben Uhr Morgens aufgebrochen und folgten den Anhöhen, die auf dem rechten Ufer des Niagara liegen, zwei Meilen weit, um die schwebende Brücke zu erreichen, und bald bemerkten wir von unserem gewundenen Pfade aus die ruhigen Wasser des Flusses, an dem hier nichts mehr von den Störungen des Falles zu sehen ist.
Um acht Uhr kamen wir in Suspension-Bridge an; es ist dies die einzige Brücke, auf welche die Great-Western und die New-York-Central-Eisenbahn münden, und für Canada die einzige, die den Eintritt auf das Gebiet des Staates New-York gewährt. Die schwebende Brücke wird aus zwei Flügeln gebildet, über deren oberen die Züge hinweggehen; der untere Flügel, der dreiundzwanzig Fuß tiefer liegt, dient für die Wagen und[151] Fußgänger. Der kühne Ingenieur John A. Röbling aus Trendon (New-Jersey) hat es gewagt, diese Arbeit auszuführen. Es ist eine »schwebende« Brücke, zweihundertfünfzig Fuß hoch, über dem Niagara, der hier wieder in einer Stromschnelle dahingleitet; Suspension-Bridge ist achthundert Fuß lang, vierundzwanzig Fuß breit und wird durch eiserne Stützen, die an den Ufern eingeschlagen sind, vor dem Schaukeln bewahrt.
Die Kabel, von denen sie getragen wird, haben zehn Zoll im Durchmesser und können einem Gewicht[152] von 12,400 Tonnen widerstehen, während die Brücke selber nur achthundert Tonnen wiegt. Ihre Kosten beliefen sich bei ihrer Einweihung im Jahre 1855 auf 500,000 Dollars. Als wir in der Mitte der Suspension-Bridge angekommen waren, ging ein Zug über unseren Köpfen hin, und der Brückenflügel unter unseren Füßen sank um einen Meter.
Nur wenig tiefer als diese Brücke ist Blondin von einem Ufer bis zum andern auf gespanntem Seile über den Niagara gegangen. Das Unternehmen[153] war nicht minder gefährlich, weil es nicht, wie oft irrthümlich behauptet wird, über dem eigentlichen Niagarafall ausgeführt wurde, aber wenn uns Blondin durch seine Kühnheit in Erstaunen setzt, was sollen wir von der Waghalsigkeit seines Freundes sagen, der sich ihm auf den Rücken setzte und auf diese Weise den lustigen Spaziergang mitmachte.
Vielleicht war dieser gute Freund ein rechtes Leckermaul, dem viel an den vorzüglichen Omeletten lag, die Blondin auf seinem straffen Seil bereitete.
Wir waren jetzt auf canadischem Boden und gingen am linken Ufer aufwärts, um die Fälle aus einem anderen Gesichtspunkte anzusehen; eine halbe Stunde später traten wir in ein englisches Hotel ein, wo der Doctor ein Frühstück für uns bestellte; unterdessen hatte ich das Fremdenbuch genommen und überflog die Namen der Reisenden, deren sich hier Tausend und aber Tausend eingezeichnet hatten. Von den berühmtesten nenne ich hier folgende: Robert Peel, Lady Franklin, Graf von Paris, Herzog von Chartres, Prinz von Joinville, Louis Napoleon (1846), Prinz und Prinzessin Napoleon, Barnum (mit Adresse), George Sand (1865), Agassiz (1854), Almonte, Fürst Hohenlohe, Rothschild, Bertin (Paris), Lady Elgin, Burkardt (1832) u.s.w.
»Und nun wollen wir unter die Fälle«, sagte der Doctor, als wir mit unserem Frühstück fertig waren.
Ich folgte Dean Pitferge's Anweisungen, und bald befanden wir uns in einer Kleiderkammer, in der uns ein Neger mit wasserdichten Beinkleidern, Waterproof-Mänteln und Wachstaffethüten versah; dann gingen wir mitten durch die pulverisirten Wasserdünste hinter den großen Katarakt, der vor uns niederfiel, wie der Theater-Vorhang vor den Schauspielern. Aber was für ein Theater war dies! und wie projicirten sich auf ihm in ungestümen Strömungen die gewaltsam verdrängten Luftschichten! wir waren so betäubt, geblendet und benetzt, daß wir uns weder sehen, noch hören konnten; es war als wenn wir uns in einer, durch dichte Wasserteppiche hermetisch verschlossenen Höhle befänden, und dieser Verschluß war undurchdringlicher, als die festesten Steinmauern.
Um neun Uhr kehrten wir ins Hotel zurück und entledigten uns unserer triefenden Kleider. Als wir das Ufer erreicht hatten; bemerkte ich einen hochgewachsenen Mann, ich schrie laut auf vor Freude und Ueberraschung:
»Hauptmann Corsican!«
Er hatte meine Worte gehört und kam auf mich zu.
»Sie hier, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen!« rief er fröhlich.[154]
Ich drückte ihm wiederholt die Hände.
»Und wie geht es mit Fabian und Ellen? fragte ich.
– O, so gut wie überhaupt möglich; sie sind Beide hier, und Fabian strahlt förmlich vor Glück und Hoffnung; unsere arme Ellen geht von Tag zu Tag mit sichtbaren Schritten ihrer Genesung entgegen.
– Aber wie kommt es, daß ich hier am Niagara mit Ihnen zusammentreffe?
– Nun, der Niagara ist ein sehr beliebter Sommeraufenthalt für Engländer sowohl als Amerikaner, und so mancher findet hier Erfrischung und Heilung. Da es uns schien, als ob das erhabene Schauspiel des Katarakts und die herrliche Gegend auf Ellen einen sehr günstigen Eindruck machten, haben wir uns an den Ufern des Niagara niedergelassen und leben in jener Villa, die Sie dort auf halber Hügelhöhe zwischen den Bäumen hervorragen sehen, ganz en famille, mit Frau R ...., Fabian's Schwester, die sich mit großer Aufopferung Ellen's Pflege gewidmet hat.
– Hat Ellen Fabian schon wiedererkannt?
– Nein, bis jetzt noch nicht, antwortete Hauptmann Corsican, Sie wissen doch, daß das arme Wesen in dem Moment, als Harry Drake zum Tode getroffen umsank, einen lichten Augenblick hatte, daß ihre Vernunft sich damals für kurze Zeit Bahn brach durch die Umnachtung des Geistes; bald jedoch machte diese sich wieder in traurigster Weise geltend, und die Hoffnung, Ellen geheilt zu sehen, rückte wieder in die Ferne. Seit die arme junge Frau hier angekommen ist, hat sich jedoch eine merkliche Aenderung in ihrem Zustande gezeigt; sie ist still, der Schlaf wird ruhiger, und in ihren Augen liest man eine gewisse Anstrengung, sich an Etwas zu erinnern oder Gegenwärtiges aufzufassen.
– O gewiß! sie wird durch Eure Sorgfalt und Liebe geheilt werden! rief ich aus, aber wo kann ich Fabian und seine Braut finden?
– Sehen Sie gefälligst dorthin«, sagte Corsican, und wies mit der Hand auf das Ufer des Niagara.
Dort, auf einem Felsen, stand Fabian, der uns augenscheinlich noch nicht bemerkt hatte, denn seine Blicke hafteten unausgesetzt an Ellen, die wenige Schritte von ihm entfernt unbeweglich auf einem großen Stein saß. Die Stelle, auf der sie sich befanden, liegt an dem linken Ufer und ist unter dem Namen »Table-Rock« bekannt; sie bildet eine Art Felsenvorsprung, der über[155] dem zweihundert Fuß darunter brüllenden Flusse hervorragt. Früher war die Plattform ziemlich groß und reichte weit über das Wasser hin, aber nach und nach sind bedeutende Felsstücke in den Abgrund herniedergestürzt, so daß die Fläche jetzt nur einige Meter Raum bietet.
Von dieser Stelle aus ist die Aussicht auf die Katarakte »most sublime«, wie die Führer versichern, und ich kann ihnen nicht Unrecht geben, zur Rechten schaut man auf den canadischen Fall, dessen Kamm mit Dünsten gekrönt wird und den Horizont abschließt; vorn der amerikanische Katarakt und darüber das zierliche Gemäuer von Niagara-Falls, das halb durch Bäume verborgen wird, zur Linken die ganze Perspective des Flusses, der zwischen hohen Ufern dahinfließt, und unten der Strom, der mächtig ankämpft und ringt gegen die umgestürzten Eisblöcke.
Ich wollte Fabian nicht durch einen Ruf stören, aber Corsican, der Doctor und ich näherten uns langsam dem Table-Rock. Ellen saß noch immer vollständig unbeweglich da und schaute in das Wasser; welchen Eindruck mochte wohl diese Scene auf ihren Geist machen? Erstand ihre Vernunft allmälig wieder unter dem Einfluß dieses grandiosen Schauspiels? Plötzlich sah ich, wie Fabian aufsprang und auf Ellen zustürzte; sie hatte sich erhoben und war ungestüm, indem sie beide Arme ausbreitete, an den Abgrund getreten. Dann zuckte sie jäh zusammen, blieb stehen und fuhr mit der Hand über ihre Stirn, als wollte sie ein unheimliches Bild verscheuchen, Fabian stand bereits, todtesbleich, aber fest und ruhig zwischen seiner Geliebten und dem Gefahr drohenden Abgrunde. Ellen schüttelte in tiefer Erregung ihr blondes Haar zurück, und ich bemerkte, daß ihre reizende Gestalt heftig zitterte. Ob sie jetzt Fabian erkannte? Nein! es war, als ob eine Todte soeben ins Leben zurückkehrte und um sich her tastet, sich ihrer Existenz zu versichern und ihre Umgebung zu begreifen.
Hauptmann Corsican und ich wagten keinen Schritt vorwärts zu thun, und doch standen Fabian und Ellen so nah am Abgrunde, daß wir uns der Furcht nicht erwehren konnten.
»Ueberlassen Sie Alles dem Hauptmann Mac Elwin«, flüsterte uns Doctor Pitferge zu.
Jetzt hörten wir, wie die junge Frau laut schluchzte, unarticulirte Worte entrangen sich ihren Lippen, sie schien sprechen zu wollen, und doch versagte ihr die Stimme.[156]
»Gott! mein Gott! allmächtiger Gott! wo bin ich?« preßte sie endlich heraus; sie schien zu fühlen, daß sie nicht allein sei, und als sie sich halb umwandte, war eine sichtbare Veränderung mit ihr vorgegangen, ihre Augen hatten einen klaren, lebhaften Blick bekommen. Fabian stand stumm und tief ergriffen vor ihr und breitete ihr die Arme entgegen.
»Fabian! Fabian!« rief sie plötzlich aus.
Ellen war ohnmächtig geworden, und Mac Elwin fing sie in seinen Armen auf; aber er hielt sie für todt und schrie laut auf vor Schrecken und Schmerz.
Aber schon war der Doctor hinzugetreten und sagte beruhigend:
»Es ist eine Krisis eingetreten, diese Ohnmacht kann zu ihrer Rettung führen!«
Ellen wurde nun nach Clifton-House und auf ihr Lager gebracht, wo sie bald aus ihrer Ohnmacht in friedlichen Schlummer sank.
Fabian hatte durch den Doctor neue Hoffnung und frischen Muth bekommen. Ellen hatte ihn jetzt unzweifelhaft erkannt. – Bald kehrte er zurück und rief uns entgegen:
»Wir werden sie retten! jeden Tag beobachte ich, wie ihre Seele neu aufersteht, und jetzt scheint die Zeit der Heilung gekommen zu sein; morgen, vielleicht heute schon werde ich meine Ellen wieder haben; ach, Gott sei gelobt! – Wir werden hier noch so lange bleiben, wie es für ihren Zustand irgend dienlich ist, nicht wahr, Archibald?«
Der Hauptmann drückte Fabian an seine Brust; dann wandte sich mein Freund zu mir und Pitferge, und begrüßte uns mit herzlichen, jubelnden Worten; die Hoffnung leuchtete aus seinem Wesen, seiner Stimme, seinen Augen – er war wie verwandelt vor Glück und Lebensmuth. Und seine Hoffnung war nicht vergebens, Ellen's Genesung stand wirklich nahe bevor ...
Aber unsere Zeit drängte, wir mußten abreisen. Kaum blieb uns eine Stunde über, wenn wir Niagara-Falls noch erreichen wollten. Als wir uns von den lieben Freunden trennten, lag Ellen immer noch in tiefem, sanftem Schlaf, aber Corsican versprach, uns baldige Nachricht über ihr Ergehen zukommen zu lassen. Er war tief bewegt, als wir von einander Abschied nahmen; Fabian umarmte uns noch einmal, und um 12 Uhr hatten wir Clifton-House verlassen.[157]
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