Fünftes Capitel.
Ein Vorschlag, längs der Südküste zurückzukehren – Gestaltung des Uferlandes. – Auf der Untersuchung nach den vermeintlichen Schiffbrüchigen. – Eine Seetrift in der Luft. – Auffindung eines kleinen natürlichen Hafens. – Am Mitternacht an den Ufern der Mercy. – Ein wegtreibendes Boot.

[288] Cyrus Smith und seine Genossen schliefen wie unschuldige Murmelthiere in der Grotte, die der Jaguar ihnen so höflich überlassen hatte.[288]

Mit Aufgang der Sonne befanden sich Alle auf dem Ufer, ganz an der Spitze des Vorgebirges, und ihre Augen schweiften über den Horizont, den sie zu zwei Drittheilen übersehen konnten. Doch wiederum mußte der Ingenieur bestätigen, daß nirgends ein Segel, ein Schiffsrumpf oder irgend ein anderes Ueberbleibsel eines Seeunglücks sichtbar war.

Auch auf dem Küstengebiete, mindestens auf der geraden Linie desselben, welche sich drei Meilen weit vor ihnen erstreckte, zeigte sich keinerlei Anhaltepunkt; weiter hinaus freilich verbarg eine Biegung des Landes den letzten Theil der Südküste, so daß man auch von dem äußersten Theile des Reptil-End's das hinter hohen Felsen verborgene Krallen-Cap nicht gewahr werden konnte.

Dieser südliche Theil der Insel sollte nun genauer erforscht werden. Wenn man das aber jetzt vornahm und den 2. November dazu verwendete, so wich man von dem zuerst aufgestellten Programm ab.

Beim Verlassen der Pirogue nahe den Quellen der Mercy beabsichtigte man dieselbe nach Kenntnißnahme des westlichen Ufers wieder aufzusuchen und auf dem Wasserwege nach dem Granithause zurückzukehren. Damals glaubte Cyrus Smith freilich, einem Fahrzeuge in der Noth eine Zuflucht oder einem unbeschädigten eine geeignete Landungsstelle bieten zu können; da sich diese Voraussetzung nun als falsch erwies, mußte man längs der südlichen Küste suchen, was man an der westlichen nicht gefunden hatte.

Gedeon Spilett schlug zuerst die Weiterausdehnung des Ausfluges vor, um die Frage wegen des angenommenen Schiffbruchs zur endgiltigen Lösung zu bringen, und erkundigte sich deshalb, wie weit es von dem äußersten Theile der Halbinsel bis zum Krallen-Cap wohl sein könne.

»Ungefähr dreißig Meilen, antwortete der Ingenieur, wenn man die Biegungen der Küste in Anschlag bringt.

– Dreißig Meilen! wiederholte Gedeon Spilett, das wäre ein starker Tagesmarsch. Immerhin müssen wir ja nach dem Granithause zurückgelangen, wenn wir der südlichen Küste nachgehen.

– Vom Krallen-Cap bis zum Granithause, bemerkte Harbert, sind's aber auch noch zehn Meilen.

– Sagen wir also vierzig Meilen zusammen, fuhr der Reporter fort, und zögern nicht, sie zurückzulegen. Wir lernen dabei gleichzeitig den unbekannten Küstenstrich, ohne besondere Excursion dahin, kennen.[289]

– Sehr richtig! pflichtete ihm Pencroff bei, doch was wird aus der Pirogue?

– Hat sie einen Tag allein an der Mercyquelle gelegen, antwortete Gedeon Spilett, so wird sie auch zwei Tage über daselbst bleiben können. Bisher können wir noch nicht sagen, daß die Insel von Dieben unsicher gemacht würde.

– Indeß, warf der Seemann ein, wenn ich mir die Geschichte mit der Schildkröte vergegenwärtige, bin ich nicht gern zu vertrauensselig.

– Ei was, die Schildkröte! widersprach ihm der Reporter. Wissen Sie schon nicht mehr, daß die Fluth diese wieder umgedreht hat?

– Wer weiß? sagte da der Ingenieur halb für sich.

– Aber ...« begann Nab zögernd.

Offenbar hatte dieser Etwas auf der Zunge, denn er öffnete den Mund, doch ohne sich auszusprechen.

»Was wolltest Du sagen, Nab? fragte ihn der Ingenieur.

– Wenn wir am Ufer bis zum Krallen-Cap zurückkehren, antwortete Nab, so wird über diesem hinaus die Mercy den Weg versperren ...

– Das ist wahr, meinte Harbert, und wir hätten dann weder Brücke noch Boot, sie zu überschreiten.

– Nun, Herr Cyrus, erklärte Pencroff, mit einigen schwimmenden Baumstämmen soll es uns nicht eben schwer werden, über den Fluß zu setzen.

– Dennoch möchte es sich empfehlen, sprach sich Gedeon Spilett aus, eine Brücke herzustellen, um nach dem fernen Westen einen bequemeren Zugang zu gewinnen.

– Richtig, eine Brücke! rief Pencroff. Nun, ist denn Herr Smith nicht Ingenieur von Fach? Er wird uns zu einer Brücke verhelfen, wenn wir eine solche brauchen. Sie heute Abend Alle nach dem andern Mercy-Ufer zu schaffen, ohne sich ein Fädchen am Leibe naß zu machen, dafür verbürge ich mich. Noch besitzen wir für einen Tag Lebensmittel, das ist ja wohl die Hauptsache, und auch das Wild wird heute so wenig fehlen als gestern. Also auf!«

Der von dem Seemann so lebhaft unterstützte Vorschlag des Reporters fand die allgemeine Billigung, denn Jeder wünschte seine Zweifel gehoben zu sehen, und bei der Rückkehr über das Krallen-Cap konnte die deshalb angestellte Untersuchung des Landes als beendigt gelten. Nun durfte man[290] aber keine Stunde verlieren, denn die Etappe von vierzig Meilen war lang, und vor Mitternacht rechnete man gar nicht darauf, am Granithause einzutreffen.

Um sechs Uhr Morgens zog denn die kleine Gesellschaft ab. In der Voraussicht unliebsamer Begegnisse mit zwei- oder vierfüßigen Thieren wurden die Gewehre mit Kugeln geladen und Top vorausgeschickt, das Terrain zu durchstöbern.

Von dem äußersten Punkte des Vorgebirges, das den Ausläufer der Halbinsel bildete, erstreckte sich die Küste in sanftem Bogen gegen fünf Meilen weit, welche schnell zurückgelegt wurden, ohne daß trotz genauesten Nachsuchens auch die mindeste Spur einer früheren oder neuerlichen Landung, oder eine Seetrift, der Rest eines Lagers, die Asche eines verloschenen Feuers oder endlich Eindrücke von Schritten auf dem Boden gefunden wurden.

Als die Ansiedler an dem Winkel anlangten, mit welchem der Uferbogen endigte, um in nordöstlicher Richtung weiter ziehend die Washington-Bai zu bilden, konnten sie die ganze südliche Küste mit einem Blicke überschauen. In einer Entfernung von fünfundzwanzig Meilen endigte dieselbe am Krallen-Cap, das durch den seinen Morgennebel kaum sichtbar und dessen Bild durch ein Reflexphänomen zwischen Erde und Himmel schwebend erkannt wurde. Zwischen der Stelle, an welcher sich die Colonisten jetzt befanden, und dem am meisten zurücktretenden Theile der ausgedehnten Bai bestand das Ufer zuerst aus einem sehr gleichmäßigen und ebenen Strande, den weiter rückwärts ein Wald begrenzte; darüber hinaus zeigte sich der Uferrand sehr zerrissen, streckte wiederholt scharfe Felsenvorsprünge in's Meer hinaus und endigte zuletzt mit regellos verstreuten, dunklen Felsmassen am entfernten Krallen-Cap.

Derart war das Bild dieses Theiles der Insel, der unsern Forschern zum ersten Mal vor Augen trat und über den sie jetzt einen flüchtigen Ueberblick gewannen.

»Ein Schiff, das hier an's Land zu gehen versuchte, äußerte sich Pencroff, wäre unbedingt verloren. Hier strecken sich Sandbänke weit hinaus, und dort erheben sich gefährliche Risse. Das ist ein schlechtes Wasser!

– Von einem solchen Schiffe müßte aber doch Etwas übrig geblieben sein, bemerkte der Reporter.[291]

– An den Klippen könnten sich wohl Holztheile desselben finden, sagte der Seemann, auf dem Sande voraussichtlich Nichts.

– Und warum das?

– Weil diese Sandbänke – im Allgemeinen fast gefährlichere Feinde, als Felsen – Alles verschlingen, was darauf geräth, so daß oft schon wenige Tage genügen, um ein Schiff von mehreren hundert Tonnen vollkommen zu versenken.

– Demnach wäre es also, fragte der Ingenieur, gar nicht zu verwundern, wenn man von einem auf diese Sandbänke verschlagenen Schiffe jetzt keine Spur mehr fände?

– Nein, Herr Cyrus, mit der Zeit oder in Folge eines Sturmes kann das sehr leicht der Fall sein. Immerhin müßte es sonderbar zugehen, wenn nicht Trümmer der Maste oder einzelne Raaen an's Ufer, außerhalb des Bereiches der Wellen, geworfen worden wären.

– So suchen wir also weiter«, erklärte Cyrus.

Um ein Uhr Nachmittags erreichten die Wanderer den Grund der Washington-Bai und hatten damit zwanzig Meilen zurückgelegt.

Man machte Halt, um zu frühstücken.

Von hier aus begann ein sehr unregelmäßiger, wunderbar zerklüfteter Küstenstrich, den eine lange Linie von Klippen auszeichnete, die das Meer, sobald dessen jetzt niedriges Wasser stieg, wohl bedecken mußte. Auch jetzt sah man die langen Wellen sich an jenen Felsen brechen, um die sie einen weißen Schaumkranz bildeten. Bis zu dem Krallen-Cap hin war der eigentliche Strand zwischen jenen Klippen und dem landeinwärts sich erhebenden Walde nur sehr schmal.

Der Weg wurde nun beschwerlicher, da ihn kleinere und größere Steine zahlreich bedeckten. Schon erhoben sich auch die Anfänge des Granitwalles mehr und mehr, so daß von den Bäumen dahinter nur die grünen, jetzt von keinem Lufthauch bewegten Gipfel sichtbar blieben.

Nach halbstündiger Rast setzten die Colonisten ihre Wanderung fort, und ihren Blicken entging auch nicht die kleinste Stelle auf dem Sande oder an den Klippen. Gesunden wurde auf dem Wege nichts, was ihnen hätte als Fingerzeig dienen können, wenn sie auch dann und wann eine eigenthümliche Felsbildung täuschte. Jedenfalls überzeugten sie sich aber, daß dieses Gestade überreich an eßbaren Muscheln war, von denen jedoch nur dann ein Vortheil[292] zu erwarten stand, wenn einerseits eine Verbindung zwischen den beiden Ufern der Mercy hergestellt, andererseits ihr Besitz an Transportmitteln vervollkommnet war.

An diesem Ufer zeigte sich also Nichts rücksichtlich des angenommenen Schiffbruches, und davon hätte ihnen doch jeder umfänglichere Rest, z.B. der Schiffsrumpf, in die Augen fallen oder sich ein Ueberbleibsel desselben am Strande finden müssen, so gut, wie man die beschriebene Kiste mindestens zwanzig Meilen von hier angetroffen hatte.

Gegen drei Uhr erreichten Cyrus Smith und seine Begleiter einen schmalen, gut geschützten Nothhafen, in welchen jedoch kein Wasserarm mündete. Von der offenen See her war er wegen des engen Zugangs, den die Klippen zwischen sich frei ließen, schwerlich erkennbar.

Im Hintergrunde dieser kleinen Bucht hatte irgend eine heftige Erschütterung die Felsenwand gebrochen, und dort gelangte man über einen sanften Abhang nach dem oberen Plateau, das gegen zehn Meilen vom Krallen-Cap und in gerader Linie etwa vier Meilen vom Plateau der Freien Umschau entfernt sein mochte.

Gedeon Spilett schlug seinen Begleitern vor, an dieser Stelle auszuruhen. Diese gingen gern darauf ein, denn der lange Weg hatte Jeden hungrig gemacht, und obwohl es noch keine Zeit zum Mittagsmahle war, so schlug es doch Niemand ab, sich durch ein saftiges Stück Wild neu zu kräftigen. Durch dieses Zwischenmahl konnte man dann bis zum Abendbrod im Granithause warten.

Bald nachher verzehrten die Colonisten, am Fuße einer Gruppe herrlicher Strandkiefern gelagert, die Vorräthe, welche Nab seinem Reisesacke noch entnahm.

Der Platz lag fünfzig bis sechzig Fuß über dem Niveau des Meeres. Die Aussicht war sehr frei und reichte über die äußersten Felsen des Caps bis zur Unions-Bai hinaus. Doch konnte man weder das Eiland, noch das Plateau der Freien Umschau sehen, da die Erhebung des Bodens und der Vorhang von grünen Bäumen den nördlichen Horizont vollkommen verdeckten.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß trotz der großen Strecke des Meeres, die sich vor diesem Punkte ausbreitete, und trotz des Fernrohrs des Ingenieurs,[293] der die ganze Kreislinie, an der sich Himmel und Wasser berührten, sorgsam durchsuchte, kein Fahrzeug zu entdecken war.

Ebenso sorgfältig übersah man mit Hilfe des Fernrohrs den ganzen noch näher zu untersuchenden Strand bis an die Klippenreihe hinaus, ohne daß sich eine Seetrift im Gesichtsfelde des Instrumentes zeigte.

»So werden wir uns denn, sagte Gedeon Spilett, bescheiden und damit trösten müssen, daß Niemand uns den Besitz der Insel Lincoln streitig macht.

– Aber das Schrotkorn! bemerkte ihm Harbert. Auf bloßer Einbildung beruht das, meine ich, doch nicht.

– Tausend Teufel, nein! betheuerte Pencroff in Hinblick auf seinen fehlenden Backzahn.

– Zu welchem Schlusse gelangen wir demnach? fragte der Reporter.

– Zu dem, antwortete der Ingenieur, daß vor höchstens drei Monaten ein Schiff, freiwillig oder nicht, hier an's Land lief ...

– Wie, Cyrus, Sie glauben, daß ein solches ohne Hinterlassung jeder Spur von sich untergegangen sei? rief der Reporter.

– Das gerade nicht, mein lieber Spilett; doch bedenken Sie, daß, wenn die Anwesenheit eines menschlichen Wesens auf dieser Insel unzweifelhaft fest steht, es eben so sicher ist, daß es sie jetzt wieder verlassen hat.

– Verstehe ich Sie recht, Herr Cyrus, sagte Harbert, so wäre also jenes Schiff wieder abgesegelt.

– Offenbar.

– Und wir hätten eine Gelegenheit, in die Heimat zurück zu gelangen, ohne Wiederkehr vorüber gehen lassen? fragte Nab.

– Ich fürchte, ohne Wiederkehr.

– Nun denn, wenn die Gelegenheit einmal vorüber ist, vorwärts!« trieb Pencroff, der schon Heimweh nach dem Granithause verspürte.

Kaum hatte er sich jedoch erhoben, als man von Top ein lebhaftes Gebell vernahm, und der Hund aus dem Gehölz mit einem Fetzen schmutzigen Stoffes in der Schnauze hervorsprang.

Nab nahm ihm denselben ab: er bestand aus einem Stücke starker Leinwand.

Top bellte ohne Unterlaß und schien durch Hin- und Herlaufen seinen Herrn einladen zu wollen, ihm in den Wald zu folgen.[294]

»Dahinter steckt Etwas, das vielleicht über mein Schrotkorn Aufklärung gäbe! meinte Pencroff.

– Ein Schiffbrüchiger wird es sein, rief Harbert.

– Vielleicht verwundet, sagte Nab.

– Oder todt!« muthmaßte der Reporter.

Alle liefen eilig der Spur des Hundes zwischen jenen großen Fichten nach, welche das Vorholz des Waldes bildeten. Cyrus Smith und seine Begleiter hielten die Waffen für jeden Fall schußfertig.

Trotzdem sie ziemlich weit in das Gehölz eindrangen, bemerkten sie zu ihrer Enttäuschung doch keine Fährte eines Menschen. Büsche und Lianen zeigten sich unversehrt, so daß man sich erst, gleichwie in den dichtesten Theilen des früher durchzogenen Waldes, mit der Axt Bahn brechen mußte. Es war hiernach schwerlich anzunehmen, daß ein menschliches Wesen ebenda vorüber gekommen sein sollte, und dennoch verrieth Top zu deutlich, daß er nicht auf's Gerathewohl umherlief, sondern einer bestimmten Absicht folgte.

Nach etwa sechs bis sieben Minuten stand Top still. Die Colonisten befanden sich jetzt an einer Art Waldblöße, mit einer Umgebung von hohen Bäumen; sie sahen sich rings um, bemerkten aber weder im Gebüsch, noch zwischen den Stämmen etwas Besonderes.

»Was mag Top nur haben?« sagte Cyrus Smith.

Der Hund bellte noch lauter und sprang am Stamme einer riesigen Fichte in die Höhe.

Plötzlich rief Pencroff:

»Ah, prächtig! Das ist noch nicht dagewesen!

– Was soll's? fragte Gedeon Spilett.

– Wir suchen Etwas auf dem Wasser oder am Lande ...

– Nun, und ...


Von Top apportirt. (S. 294.)
Von Top apportirt. (S. 294.)

– Und in der Luft findet sich das Gesuchte!«

Der Seemann wies nach einem großen weißlichen Gewebe, das an der Krone der Fichte hing, und von dem Top ein jedesfalls auf der Erde liegendes Stückchen mitgebracht hatte.

»Doch das ist keine Seetrift, erklärte Gedeon Spilett.

– Dann bitte ich um Entschuldigung, erwiderte Pencroff.

– Wie? Das ist ja ...[295]

– Der Ueberrest unseres Luftschiffs, unseres Ballons, der da oben an der Baumspitze gescheitert ist!«

Pencroff irrte nicht und schmetterte ein herzhaftes Hurrah durch die Luft. Dann sagte er:

»Das giebt herrliche Leinwand und liefert uns Leibwäsche für eine ganze Reihe Jahre! Daraus sind Taschentücher und Hemden zu machen! He, Herr Spilett, was sagen Sie nun zu einer Insel, auf der die Hemden auf den Bäumen wachsen?«[296]

In der That war es ein Glücksumstand für die Ansiedler der Insel Lincoln zu nennen, daß das Luftschiff nach seinem letzten Sprunge in die Luft wieder auf die Insel niedergefallen und jetzt wieder aufgefunden wurde. Entweder bewahrten sie die Hülle in ihrer ursprünglichen Gestalt, wenn sie Luft bekommen sollten, noch eine Luftfahrt zu wagen, oder sie wendeten diese Hunderte von Ellen besten Gewebes nach Entfernung seines Firnißüberzugs anderweitig zu nützlichen Zwecken an. Selbstverständlich theilten die Uebrigen einstimmig Pencroff's Freude.


Die Reste des Ballons. (S. 298.)
Die Reste des Ballons. (S. 298.)

Zunächst galt es aber die Ballonhülle von dem Baume, an dem sie hing, herabzuholen und an sicherem Orte unterzubringen, was keine allzu leichte Arbeit war. Nab, Harbert und der Seemann, die den Baum erklettert hatten, mußten wahre Wunder von[297] Geschicklichkeit verrichten, um das ungeheure, zusammengefallene Luftschiff loszulösen.

Nach zweistündiger Bemühung befanden sich nicht nur die Ballonhülle mit ihrem Ventile, dessen Federn und der kupfernen Garnitur, sondern auch das Netz, d.h. eine beträchtliche Last Stricke und Schnuren, der die letzteren zusammenhaltende Eisenring, sowie der Anker des Ballons auf der Erde. Die Hülle selbst erwies sich, bis auf einige Risse im unteren Theile, in ganz gutem Zustande.

Das war wirklich ein vom Himmel gefallenes Glück.

»Trotz alledem, Herr Cyrus, beugte der Seemann vor, werden wir doch nie daran denken, die Insel mittels Ballon zu verlassen, nicht wahr? Solche Luftsegler gehen nicht, wohin man will; davon wissen wir ein Liedchen zu singen! Sehen Sie, wenn Sie meinen Worten trauen, so bauen wir uns ein Schiff von so zwanzig Tonnen Last, und Sie lassen mich da aus dem Vorrath ein Focksegel und einen Klüver schneiden. Den Rest verbrauchen wir zur Bekleidung.

– Wir werden ja sehen, Pencroff, antwortete Cyrus Smith, wir werden sehen.

– Es ist doch besser, Alles vorher in Sicherheit zu bringen«, mahnte Nab.

Diese Last an Gewebstoff, Stricken, Schnuren u.s.w. sofort nach dem Granithause zu schaffen, daran war gar nicht zu denken, und bis zur Zeit, da sich das mittels Wagen ausführen lassen würde, durfte man diese willkommenen Schätze nicht jedem Witterungseinflüsse preisgeben. Mit vereinten Kräften gelang es den Ansiedlern, das Ganze bis zum Ufer zu schleppen, wo sich eine hinreichend große Felsenhöhle fand, deren Lage sie vollkommen vor dem Winde, dem Regen oder dem andringenden Meere sicherte.

»Wir brauchten einen Schrank, – hier ist er, sagte Pencroff; da er aber nicht verschließbar ist, möchte es sich empfehlen, seinen Eingang zu verbergen, wenn auch nicht wegen etwaiger Diebe mit zwei, doch wegen solcher mit vier Füßen!«

Um sechs Uhr Abends war Alles untergebracht, und nachdem man der[298] kleinen Uferbucht noch den Namen »Ballonhafen« beigelegt hatte, zog die Gesellschaft nach dem Krallen-Cap weiter. Pencroff und der Ingenieur besprachen verschiedene Projecte, deren Ausführung in der nächsten Zukunft wünschenswerth sei. Vor Allem sollte eine Brücke über die Mercy, zur Erleichterung der Communication mit dem südlichen Theile der Insel, geschlagen werden; dann wollte man den Ballon mit dem Wagen abholen, da das Canot voraussichtlich nicht so viel Tragkraft hatte; ferner sollte der Bau einer mit Verdeck versehenen Schaluppe vorbereitet werden, welche Pencroff mit Kuttertakelage auszurüsten versprach, damit könne man die ganze Insel umsegeln ...; endlich u.s.w.

Indeß kam die Nacht heran und wurde der Himmel schon recht dunkel, als sie die Seetriftspitze, jene Stelle, an der sich die kostbare Kiste fand, erreichten. Noch weniger als irgend sonst wo fanden sich hier Spuren eines stattgehabten Schiffbruches, dagegen Cyrus Smith's über diese Frage ausgesprochene Ansichten eine weitere Bestätigung.

Zwischen hier und dem Granithause lagen noch vier Meilen, die man schnell genug zurücklegte, doch ging Mitternacht vorüber, ehe man auf dem Wege längs des Seeufers bis zur Mündung der Mercy, und an dieser ihre erste Biegung erreichte. Dort maß das Flußbett noch immer achtzig Fuß Breite, und wäre nicht leicht zu überschreiten gewesen, doch Pencroff hatte sich für die Beseitigung dieser Schwierigkeit verbürgt und ging sofort an's Werk.

Es ist nicht zu verwundern, daß die Ansiedler sich erschöpft fühlten. Außer dem zurückgelegten langen Wege hatte der Vorfall mit dem Ballon ihre Arme und Beine auch noch besonders in Anspruch genommen. Sie sehnten sich also, nach ihrer Behausung zurückzukehren, um zu Abend zu essen und auszuschlafen. Wäre jetzt schon eine Brücke vorhanden gewesen, so konnten ihre Wünsche nach Verlauf einer Viertelstunde erfüllt sein.

Trotz der sehr dunklen Nacht eilte Pencroff sein Versprechen einzulösen und eine Art Floß herzurichten, mit dessen Hilfe man die Mercy überschreiten könnte. Nab und er ergriffen die Aexte und wählten zwei nahe dem Ufer stehende, geeignete Bäume, um sie dicht über dem Erdboden zu fällen.

Cyrus Smith und Gedeon Spilett lagerten sich an dem steilen Ufer und warteten ab, bis ihre Hilfe wünschenswerth erschien, während Harbert, ohne sich allzu weit zu entfernen, hier- und dorthin ging.[299]

Plötzlich kam der junge Mann, der dem Ufer stromaufwärts eine kurze Strecke gefolgt war, eilends zurück und wies nach der Mercy:

»Was treibt denn da auf dem Wasser?« fragte er.

Pencroff unterbrach seine Thätigkeit und bemerkte irgend einen beweglichen Gegenstand in unklaren Umrissen.

»Ein Canot!« rief er bald darauf.

Alle liefen näher und erkannten zu ihrem größten Erstaunen ein Boot, das mit der Strömung hinabschwamm.

»Boot ahoi!« rief der Seemann mit dem Reste der ihm verbliebenen professionellen Gewohnheit, ohne zu bedenken, daß es vielleicht gerathener gewesen wäre, sich ganz still zu verhalten.

Keine Antwort. Das Fahrzeug trieb weiter hinab und mochte jetzt kaum zehn Schritte weit entfernt sein, als der Seemann aufjubelte:

»Das ist ja unsere Pirogue! Ihre Leinen sind zerrissen und sie ist mit der Strömung flußabwärts getrieben. Wahrlich, zu gelegenerer Zeit konnte sie gar nicht erscheinen!

– Unsere Pirogue?« ... sagte der Ingenieur halb für sich.

Pencroff hatte Recht. Es war das Boot, dessen Leine ohne Zweifel zerrissen, und das nun allein die Mercy stromabwärts geschwommen kam. Natürlich mußte man dasselbe schnell aufzuhalten suchen, bevor es durch die jetzt ziemlich schnelle Strömung über die Flußmündung hinausgeführt wurde, was Nab und Pencroff denn auch mittels einer langen Stange glücklich gelang.

Das Canot stieß an's Land. Der Ingenieur sprang zuerst hinein und überzeugte sich, ob die Leine wirklich durch Reibung an Felskanten durchgescheuert sei.

»Diesen Zufall, bemerkte leise der Reporter, kann man wirklich ...

– Sonderbar nennen!« fiel der Ingenieur ein.

Doch ob sonderbar oder nicht, ein glücklicher Zufall blieb es. Harbert, der Reporter, Nab und Pencroff stiegen nun auch ein. Ihnen war es ganz selbstverständlich, daß sich die Leine durchgerieben habe; das Erstaunlichste blieb es aber doch, daß die Pirogue gerade zu der Zeit herantreiben mußte, als die Passagiere über den Fluß setzen wollten, denn eine Viertelstunde später wäre sie auf Nimmerwiederfinden aufs Meer hinaus getrieben.

Zur Zeit des Glaubens an das Walten guter Geister hätte dieser Vorfall[300] gewiß auf den Gedanken geleitet, daß die Insel ein höheres Wesen berge, einen Schutzengel für Schiffbrüchige!

Mit wenigen Ruderschlägen gelangten die Colonisten zur Mündung der Mercy. Das Boot zogen sie bis nahe an die Kamine auf den Sand und eilten Alle dem Granithause zu.

Doch plötzlich ließ Top ein wüthendes Bellen hören, und Nab, der die unteren Stufen der Strickleiter suchte, stieß einen Schrei aus ...

Eine Strickleiter war – nicht mehr vorhanden.

Quelle:
Jules Verne: Die geheimnisvolle Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIV–XVI, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 288-301.
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