[514] Die Nacht verging ohne Störung. Ihren Wachposten an den Kaminen hatten die Ansiedler nicht aufgegeben. Die Piraten ihrerseits schienen keinen Landungsversuch unternommen zu haben. Nach den letzten auf Ayrton nachgefeuerten Flintenschüssen verrieth keine Detonation, kein Geräusch die Anwesenheit der Brigg im Gewässer der Insel. Man hätte zur Noth glauben können, sie habe in Befürchtung eines überlegenen Widerstandes die Anker gelichtet und das Weite gesucht.[514]
So verhielt es sich indeß nicht, und beim Grauen des Tages konnten die Colonisten eine unbestimmte Masse schon durch den Morgennebel wahrnehmen Das war der Speedy.
»Folgende Maßnahmen, begann der Ingenieur, empfehle ich Euch, meine Freunde, letzt dringend, die wir, bevor sich der Nebel verliert, noch treffen können; dieser verbirgt uns den Augen der Piraten, und verhindert es, ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Am meisten muß uns daran liegen, bei Jenen den Glanden zu erwecken, daß die Anzahl der Inselbewohner groß genug sei, ihnen Widerstand zu leisten. Wir wollen uns zu dem Zwecke in drei Gruppen vertheilen; die erste stelle sich an den Kaminen, die zweite an der Mercy-Mündung auf. Die dritte, denk' ich, wird es gut sein, auf dem Eilande unterzubringen, um jeden Versuch einer Einschiffung zu verhindern, oder doch zu verzögern. Wir besitzen zwei Carabiner und vier Flinten. Jeder von uns wird seine Waffe und Keiner bei dem reichlichen Vorrath an Pulver und Blei mit dem Feuern zu geizen haben. Weder Gewehrschüsse, noch selbst die Kanonen der Brigg können uns schaden. Was vermöchten sie gegen die Felsen? Da wir ferner aus den Fenstern des Granithauses nicht schießen, so werden die Piraten nicht auf den Gedanken kommen, dorthin etwa Haubitzen zu werfen, die uns unersetzlichen Schaden anrichten könnten. Vor Allem müssen wir ein Handgemenge zu vermeiden suchen, da die Sträflinge das Uebergewicht an der Zahl haben; um jeden Preis ist also jede Ausschiffung zu verhindern, ohne daß wir uns dabei zeigen. Also kein Geizen mit der Munition. Schießen wir häufig und sicher! Jedem von uns stehen acht bis zehn Feinde gegenüber, die er erlegen muß!«
So zeichnete Cyrus Smith Alles mit Klarheit und einer so ruhigen Stimme vor, als handle es sich vielmehr um die Ausführung einer Arbeit, als um einen bevorstehenden Kampf. Seine Genossen billigten diese Maßregeln, ohne ein Wort zu erwidern. Es fiel jetzt Jedem die Aufgabe zu, seinen Posten vor der Zerstreuung des Morgennebels einzunehmen.
Nab und Pencroff begaben sich nach dem Granithause hinauf und brachten hinreichende Munitionsvorräthe herbei. Gedeon Spilett und Ayrton, beide gute Schützen, wurden mit den beiden Präcisionsgewehren, welche leicht eine Meile weit trugen, bewaffnet; die anderen Flinten aber unter Cyrus Smith, Nab, Harbert und Pencroff vertheilt.
Die Vertheilung der Posten war folgende:[515]
Cyrus Smith und Harbert blieben in den Kaminen versteckt und bestrichen von hier aus den Strand am Fuße des Granithauses in weiter Ausdehnung.
Gedeon Spilett und Nab verbargen sich inmitten der Felsen am Ausflusse der Mercy, – deren Brücke, ebenso wie die übrigen Stege, aufgezogen war, – um das Einfahren eines Bootes und eine Landung am anderen Ufer zu verhindern.
Ayrton und Pencroff endlich brachten die Pirogue wieder in's Wasser, um den Canal zu überschreiten und an zwei Punkten des Eilandes Stellung zu nehmen. So mußte das Gewehrfeuer von vier verschiedenen Punkten ausgehen und die Angreifer glauben machen, die Insel sei weit stärker bevölkert und wirksamer vertheidigt.
Im Fall eine Landung nicht zu verhindern und eine Umgehung zu befürchten wäre, sollten Pencroff und Ayrton mittels der Pirogue den Strand wieder zu erreichen suchen und sich nach dem bedrohtesten Punkte begeben.
Bevor sie ihre Einzelstellungen einnahmen, drückten sich die Colonisten noch einmal herzlich die Hände. Pencroff gelang es nur schwer, seiner Erregung Herr zu werden, als er Harbert, sein Kind, zum Abschied in seine Arme schloß! ... Dann trennten sie sich rasch.
Einige Augenblicke später verschwanden Cyrus Smith und Harbert nach der einen, der Reporter und Nab nach der anderen Seite, und nach Verlauf von fünf Minuten hatten Ayrton und Pencroff den Canal glücklich überschritten, sprangen aus Land und verbargen sich in den Höhlungen des östlichen Ufers.
Gewiß war Keiner von ihnen dabei gesehen worden, denn sie selbst erkannten durch den seinen Nebeldunst die Brigg erst in unklaren Umrissen.
Es war jetzt um sechs ein halb Uhr Morgens.
Bald zertheilte sich der Nebel in den oberen Luftschichten, und die Mastspitzen der Brigg hoben sich aus dem Dunste empor. Einige Minuten noch wogten große Wolken desselben auf der Meeresoberfläche umher, dann erhob sich ein frischerer Wind und zerstreute schnell die angehäuften Dünste.
Der Speedy trat jetzt, an zwei Ankern fest gelegt, die Spitze nach Norden und die Backbordseite nach der Insel gerichtet, deutlich hervor. So wie Cyrus Smith es geschätzt hatte, lag er nur wenig über eine Meile entfernt von der Küste.[516]
Die schwarze Flagge wehte noch immer vom Maste.
Der Ingenieur konnte mittels Fernrohr erkennen, daß die vier Schiffskanonen auf die Insel gerichtet und offenbar bereit waren, sogleich das Feuer zu eröffnen.
Für jetzt blieb der Speedy jedoch noch stumm. Etwa dreißig Mann der Piraten sah man auf dem Verdecke hin und her laufen. Einige befanden sich auf dem Oberdeck; zwei Andere saßen mit Ferngläsern in den Händen auf den Stangen des großen Bramsegels und beobachteten die Insel mit gespannter Aufmerksamkeit.
Offenbar konnten Bob Harvey und seine Leute sich den Vorfall während der vergangenen Nacht an Bord der Brigg nur schwierig erklären. War jener halbnackte Mann, der die Thür zur Pulverkammer gesprengt und gegen sie gekämpft, der sechsmal einen Revolver auf sie abgefeuert, Einen getödtet und Zwei verwundet hatte, zuletzt noch ihren Kugeln entgangen und schwimmend zur Insel zurückgelangt? Woher kam er? Was bezweckte er an Bord? Lag es, wie Bob Harvey annahm, wirklich in seiner Absicht, die Brigg in die Luft zu sprengen? Alle diese Fragen und Vermuthungen verwirrten die Sträflinge. Zweifelhaft konnten sie nur über das Eine nicht sein, daß die unbekannte Insel, an der der Speedy Anker geworfen, bewohnt sei, und sich auf ihr vielleicht eine ganze zur Vertheidigung derselben entschlossene Colonie befinden möge. Dennoch zeigte sich kein Mensch, weder auf dem Strande noch auf den Anhöhen, und das Ufergebiet schien vollkommen verlassen, zeigte wenigstens keine Spur von Bewohntsein. Sollten die Bewohner weiter in's Innere geflohen sein?
Diese Frage mußte der Piratenhäuptling sich wohl vorlegen und als kluger Mann erst das Terrain recognosciren, bevor er seine Mannschaft einen Kampf aufnehmen ließ.
Während anderthalb Stunden war seitens der Brigg kein Zeichen eines Angriffes oder Landungsversuches wahrzunehmen. Jedenfalls zauderte Bob Harvey noch. Auch seine besten Fernrohre hatten ihn keinen der zwischen den Felsen versteckten Ansiedler wahrnehmen lassen. Wahrscheinlich erregte auch der Vorhang von Lianen und grünenden Zweigen, der die Fenster des Granithauses verdeckend an der nackten Mauer herabhing, nicht seine besondere Aufmerksamkeit. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß in solcher Höhe in der Granitmasse eine Wohnung ausgebrochen wäre? Vom Krallen-Cap[517] bis zu den Kiefern-Caps, also längs des ganzen Umfangs der Unions-Bai, verrieth nichts, daß die Insel besetzt sei.
Um acht Uhr aber bemerkten die Colonisten eine gewisse Bewegung an Bord des Speedy. Die Taue an den Bootskrahnen wurden gelöst und ein Canot in's Meer gelassen. Sieben Mann bestiegen dasselbe. Sie waren mit Gewehren bewaffnet; einer derselben setzte sich an das Steuer, vier Andere ergriffen die Ruder und Zwei nahmen im Vordertheile, die Insel schußfertig beobachtend, Platz. Ohne Zweifel beabsichtigten sie weit mehr, sich über die Verhältnisse aufzuklären, als zu landen, denn im letzteren Falle wären sie wohl in größerer Anzahl erschienen.
Die in der Takelage bis auf den Bramstangen sitzenden Piraten hatten ohne Zweifel bemerken müssen, daß noch ein Eiland vor der Küste der Insel, und von dieser durch einen etwa eine halbe Meile breiten Canal getrennt, ausgestreckt lag. Cyrus Smith überzeugte sich bei Beobachtung der Richtung des Canots aber bald, daß dieses nicht weit in den Canal einzufahren, sondern an dem Eilande zu landen beabsichtige, eine Maßregel, welche die Vorsicht den Feinden gebot.
Pencroff und Ayrton sahen jene auf ihr Versteck in den Felsen gerade zukommen und warteten nur, bis das Canot in bequemer Schußweite war. Letzteres bewegte sich nur mit größter Vorsicht weiter. Nur in langen Zwischenräumen tauchten die Ruder in's Wasser. Man bemerkte auch, daß einer der im Vordertheile sitzenden Verbrecher eine Sonde in der Hand hielt und den von dem Strome der Mercy ausgehöhlten Canal untersuchte; ein Beweis, daß Bob Harvey sich mit der Brigg so nahe als möglich an das Ufer zu legen beabsichtigte. Etwa dreißig der Piraten saßen in den Strickleitern vertheilt, verloren die Bewegungen des kleinen Bootes keinen Augenblick aus den Augen, und suchten Merkzeichen zu gewinnen, um ohne Gefahr anlaufen zu können.
Nur zwei Kabellängen von dem Eilande entfernt hielt das Canot an; der Steuermann schien nach einem geeigneten Landungspunkte auszuspähen.
Da krachten plötzlich zwei Gewehrschüsse. Ein leichter Rauch wirbelte über den Felsen des Eilandes auf. Der Mann am Steuer und der mit der Sonde stürzten rückwärts in das Boot. Ayrton's und Pencroff's Kugeln hatten Beide in demselben Augenblicke getroffen.
Fast gleichzeitig ließ sich aber auch ein furchtbarer Knall hören, und[518] eine mächtige Dampfwolke schoß aus der Seite der Brigg hervor; eine Kugel schlug gegen die Felsen, welche Ayrton und Pencroff deckten, und sprengte einige Stücke los, von denen die beiden Schützen indessen nicht verletzt wurden.
Aus dem Canot hörte man die schrecklichsten Flüche; es nahm jedoch sofort seine Fahrt wieder auf. An die Stelle des Steuermannes trat ein Anderer, und in raschen Schlägen peitschten die Ruder das Wasser.
Statt aber, wie man hätte erwarten sollen, geraden Wegs nach der Brigg zurückzukehren, fuhr es längs des Ufers am Eilande hin, um dessen Südspitze zu umkreisen. Dabei ruderten die Piraten mit aller Macht, um außer Schußweite zu kommen.
So gelangten sie bis auf fünf Kabellängen nach dem etwas einspringenden Theile der Küste, welche weiter südlich in der Seetriftspitze auslief, verfolgten diese immer unter dem Schutze der Kanonen der Brigg in halbkreisförmiger Linie und wandten sich nach der Mündung der Mercy.
Sie hatten offenbar die Absicht, in den Canal selbst einzufahren und die auf dem Eilande befindlichen Colonisten im Rücken zu fassen, dieselben zwischen das Feuer des Bootes und der Brigg zu nehmen und Jene in eine höchst gefährliche Lage zu versetzen.
So verfloß eine Viertelstunde, während der das Canot dieselbe Richtung einhielt. Rings vollkommenes Schweigen; tiefe Ruhe in der Luft und auf dem Wasser.
Noch hatten Pencroff und Ayrton, obwohl sie einsahen, daß ihnen eine Umgehung drohe, ihre Posten nicht verlassen, entweder weil sie sich noch nicht zeigen und dem groben Geschütz des Schiffes aussetzen wollten, oder weil sie auf das Eingreifen Nab's und Gedeon Spilett's zählten, die an der Flußmündung wachten, und auf Cyrus Smith und Harbert, welche in den Kaminen versteckt lagen.
Zwanzig Minuten nach dem ersten Kugelwechsel befand sich das Canot kaum zwei Kabellängen weit der Mercy gegenüber. Da die Fluth mit gewohnter Heftigkeit – eine Folge der Enge dieser Wasserstraße – zu steigen begann, wurden die Sträflinge heftig nach dem Flusse hingetrieben und konnten sich nur durch angestrengtes Rudern in der Mitte des Canales halten. Als sie jedoch in Schußweite an der Mercy-Mündung vorüber kamen, begrüßten[519] sie zwei Kugeln, welche wiederum zwei Mann in das Boot niederstreckten. Nab und Spilett hatten ihr Ziel nicht verfehlt.
Sofort sandte die Brigg eine zweite Kugel nach der Stelle, welche der Pulverdampf bezeichnete, doch ohne weiteren Erfolg, als die Zertrümmerung einiger Felsstücke.
Jetzt trug das Boot nur noch drei kampffähige Männer. Von der Strömung erfaßt, schoß es pfeilgeschwind durch den Canal und an Cyrus Smith und Harbert vorüber, welche jedoch der zu großen Entfernung wegen[520] nicht Feuer gaben. Dann glitt es, nur noch von zwei Rudern getrieben, um die Nordspitze und suchte die Brigg wieder zu erreichen.
Bis hierher hatten die Colonisten sich nicht eben zu beklagen. Der Kampf nahm für ihre Gegner einen ungünstigen Anfang. Jene zählten schon vier Schwerverwundete oder gar Todte, sie selbst waren unverletzt und hatten keine Kugel verschwendet. Wenn die Piraten ihren Angriff in derselben Weise fortsetzten und nur mittels des Canots einen erneuten Landungsversuch wagten, so konnten sie bequem einzeln abgethan werden.
Der Vortheil der ersten Maßnahmen des Ingenieurs[521] lag jetzt auf der Hand. Die Piraten konnten wohl glauben, mit zahlreichen Gegnern zu thun zu haben, die nicht so leicht zu überwältigen sein würden.
Eine halbe Stunde verging, bis das Canot, das gegen die Meeresströmung anzukämpfen hatte, sich neben den Speedy legte. Ein wüstes Geschrei erhob sich, als es mit den vier Verwundeten ankam, und drei bis vier Kanonenschüsse wurden, freilich ganz erfolglos, abgegeben.
Da stürzten, vor Wuth und vielleicht noch vom Gelage der Nacht her trunken, wohl ein Dutzend Sträflinge in das Boot. Ein zweites Fahrzeug, in dem acht Mann Platz nahmen, wurde herabgelassen, und während das erste sich direct nach dem Eilande wandte, um die Colonisten von diesem zu vertreiben, suchte das zweite die Einfahrt in die Mercy zu erzwingen.
Für Ayrton und Pencroff gestaltete sich die Lage jetzt sehr bedenklich, und sie dachten daran, das Land der Insel wieder zu gewinnen.
Dennoch warteten sie so lange, bis das erste Canot in Schußweite kam, und zwei sichere Kugeln richteten unter der Besatzung desselben eine merkliche Unordnung an. Dann verließen Ayrton und Pencroff ihre Stellungen, liefen was sie konnten, während ein Dutzend Kugeln über ihre Köpfe pfiffen, quer über das Eiland, sprangen in die Pirogue, setzten in dem Augenblicke, als das zweite Canot die südliche Spitze des Eilandes erreichte, über den Canal und eilten, sich in den Kaminen zu bergen.
Kaum neben Cyrus Smith und Harbert angelangt, wurde das Eiland von den Piraten besetzt, die es nach allen Richtungen durchsuchten.
Fast gleichzeitig knatterten wieder Flintenschüsse von dem Posten an der Mercy, dem das zweite Boot sich rasch genähert hatte. Zwei von den acht Mann in demselben wurden von Gedeon Spilett und Nab tödtlich getroffen, und das Boot selbst, von der Strömung gegen die Klippen getrieben, ging dicht an der Mündung der Mercy in Stücke. Hoch hielten die sechs Ueberlebenden ihre Waffen über die Köpfe, um sie vor Berührung mit dem Wasser zu schützen, und es gelang ihnen, auf dem rechten Ufer Fuß zu fassen. Da sie sich hier dem Feuer des Postens zu sehr ausgesetzt sahen, flohen sie so schnell als möglich in der Richtung nach der Seetriftspitze aus dem Bereiche der Kugeln.
Die Sachlage gestaltete sich also jetzt folgendermaßen: Auf dem Eilande schwärmten etwa zwölf Piraten, zwei davon mindestens verwundet, umher,[522] die noch ein Boot zur Verfügung hatten; auf der Insel waren sechs an's Land gekommen, aber nicht im Stande, nach dem Granithause vorzudringen, da sie wegen den aufgezogenen Brücken den Fluß nicht überschreiten konnten.
»Es macht sich! hatte Pencroff gerufen, als er in die Kamine stürzte, es macht sich, Herr Cyrus! Was meinen Sie darüber?
– Ich denke, erwiderte der Ingenieur, daß das Gefecht eine andere Gestalt annehmen wird, denn es ist nicht vorauszusetzen, daß die Piraten so unintelligent wären, dasselbe unter diesen für sie so ungünstigen Verhältnissen fortzusetzen.
– Den Canal werden sie niemals überschreiten, sagte der Seemann. Daran verhindern sie Ayrton's und Herrn Spilett's Büchsen. Sie wissen ja, daß diese eine Meile weit tragen!
– Gewiß, bemerkte Harbert, doch was vermöchten sie gegen die Geschütze der Brigg auszurichten?
– Ah, jetzt, denke ich, ist sie noch nicht im Canale, erwiderte Pencroff.
– Und wenn sie hereinkommt? fragte Cyrus Smith.
– Das ist fast unmöglich, denn sie liefe dabei Gefahr, zu stranden und zu Grunde zu gehen.
– Das kann wohl sein, fiel da Ayrton ein, aber die Sträflinge können das Hochwasser benutzen, um hier einzulaufen, unbekümmert darum, während der Ebbe aufzufahren, und gegenüber dem Feuer ihrer Kanonen sind unsere Stellungen nicht haltbar.
– Tausend Höll' und Teufel! rief Pencroff aus, es scheint wahrlich, als gingen die Schurken daran, die Anker aufzuwinden.
– Vielleicht sind wir genöthigt, uns nach dem Granithause zurück zu ziehen? äußerte Harbert.
– Noch wollen wir warten! antwortete Cyrus Smith.
– Aber Nab und Herr Spilett? ... mahnte Pencroff.
– Werden uns zur richtigen Zeit zu finden wissen. Machen Sie sich fertig, Ayrton. Hier muß Ihr Carabiner und der Spiletts ein Wort mitreden.«
Es war nur zu richtig! Der Speedy begann an seinem Anker sich zu drehen, und verrieth die Absicht, näher an das Eiland heran zu segeln. Das Meer hatte etwa noch anderthalb Stunden zu steigen, und da die Strömung[523] fast ganz nachgelassen hatte, war es leicht, mit der Brigg nach Belieben zu manövriren. Bezüglich der Einfahrt in den Canal widersprach Pencroff aber noch immer Ayrton, der dieses Wagestück für möglich hielt.
Inzwischen erschienen die Piraten, welche das Eiland absuchten, mehr und mehr an dem gegenüber liegenden, von der Insel nur durch den Canal getrennten Ufer. Bei ihrer Bewaffnung mit einfachen Flinten konnten sie den Colonisten in ihren Verschanzungen an der Flußmündung und in den Kaminen keinen Schaden zufügen; da ihnen aber unbekannt sein mußte, daß Letztere sehr weit tragende Gewehre führten, so glaubten sie auch sich selbst nicht bedroht. So streiften sie sorglos über das Eiland und liefen am Ufer hin.
Ihre Täuschung währte nicht lange. Ayrton's und Gedeon Spilett's Carabiner thaten den Mund auf, und angenehme Sachen konnten es für Diejenigen nicht sein, mit denen sie sprachen, denn diese stürzten zu Boden.
Das war das Zeichen zum Fersengeldgeben. Die zehn Anderen nahmen sich nicht einmal Zeit, ihre verwundeten oder todten Gefährten aufzuheben, sondern flohen nach dem gegenüber liegenden Ufer, sprangen in das Boot und ruderten aus Leibeskräften nach dem Schiffe.
»Acht weniger! rief Pencroff. Wahrlich, man sollte glauben, Herr Spilett und Ayrton hätten sich vorgenommen, es immer Einer dem Andern zuvor zu thun.
– Meine Herren, ließ sich Ayrton vernehmen, jetzt wird die Sache ernsthafter; die Brigg segelt heran.
– Die Ankerkette steht senkrecht ... sagte Pencroff.
– Ja, sie steigt schon auf.«
Wirklich hörte man deutlich das Knarren der Kurbelhölzer an der Spille, welche die Mannschaft drehte. Der Speedy folgte erst noch dem Zuge des einen Ankers nach, und als dieser sich aus dem Grunde erhob, begann er gegen das Land hin zu treiben. Der Wind blies von der offenen See her; das große Fock- und kleine Marssegel wurden aufgezogen, und langsam näherte sich das Fahrzeug dem Ufer.
Von den beiden Posten an der Mercy und in den Kaminen erkannte man, ohne ein Lebenszeichen zu geben, deutlich die Bewegungen des Schiffes, die hier nicht geringe Beunruhigung einflößten. Die Lage der Colonisten mußte furchtbar werden, wenn sie auf so kurze Distanz und ohne die Möglichkeit[524] einer wirksamen Erwiderung dem Feuer der Schiffsgeschütze ausgesetzt gewesen wären. Wie hatten sie dann eine Landung der Piraten hintertreiben sollen?
Cyrus Smith fühlte das recht gut und fragte sich, was dabei zu thun sei. Binnen Kurzem mußte er doch einen Beschluß fassen. Aber welchen? Sich ins Granithaus einschließen und wochen, ja, bei den reichlichen Proviantvorräthen vielleicht monatelang belagern lassen? Gut! Aber was dann? Die Piraten spielten doch inzwischen die Herren der Insel, die sie ungehindert verwüstet hätten, und mußten doch zuletzt die Gefangenen des Granithauses in ihre Gewalt bekommen.
Indessen blieb noch die eine Aussicht offen, daß Bob Harvey es nicht wagen werde, in den Canal einzulaufen, und sich außerhalb des Eilandes halten würde. Dann trennte ihn mehr als eine halbe Meile von der Küste und seine Schüsse konnten nicht allzu verderblich wirken.
»Niemals, wiederholte Pencroff, wird Bob Harvey als gewiegter Seemann sich in diesen Canal verirren! Er weiß wohl zu gut, daß er bei ungünstigem Wetter dabei die Brigg auf's Spiel setzte, und was soll ohne Fahrzeug aus ihm werden?«
Indessen segelte die Brigg auf das Eiland zu und schien nach dem unteren Ende desselben zu steuern Der Wind wehte nur mäßig, und da die Strömung viel von ihrer Kraft verloren hatte, konnte Bob Harvey ganz nach Belieben manövriren.
Der vorher von den Booten befahrene Weg belehrte ihn über das einzuhaltende Fahrwasser, auf welchem er mit sinnloser Kühnheit vordrang. Seine Absicht lag auf der Hand; er wollte sich vor den Kaminen aufstellen und mit Hohl- und Vollgeschossen auf die Kugeln antworten, die seine Mannschaft decimirt hatten.
Bald erreichte der Speedy die Spitze des Eilandes, umsegelte sie mit Leichtigkeit, setzte noch mehr Leinwand bei und befand sich der Mündung der Mercy gegenüber.
»Die Banditen! Da rücken sie heran!« rief Pencroff.
Gleichzeitig gesellten sich Nab und Gedeon Spilett zu den vier Uebrigen in den Kaminen.
Der Reporter und sein Gefährte hatten es für geboten erachtet, den Posten an der Mercy aufzugeben, von dem aus sie gegen das Schiff doch[525] nichts unternehmen konnten, und ihre Vorsicht war auch ganz weise. Jedenfalls empfahl sich eine Vereinigung aller Colonisten, wenn sich ein Entscheidungskampf entspinnen sollte. Gedeon Spilett und Nab benutzten bei ihrem Rückzuge als Deckung die Ufergesteine, erhielten aber doch einen Kugelregen nachgeschickt, der ihnen glücklicher Weise nicht schadete.
»Spilett! Nab! rief der Ingenieur, Ihr seid nicht verwundet?
– Nein, antwortete der Reporter, einige Contusionen durch Prellstücke abgerechnet. Aber die verdammte Brigg segelt in den Canal ein!
– Ja wohl, bestätigte Pencroff, und binnen zehn Minuten liegt sie vor dem Granithause!
– Wissen Sie einen Ausweg, Cyrus? fragte der Reporter.
– Wir müssen in das Granithaus flüchten, so lange es noch Zeit ist und die Piraten uns nicht sehen können.
– Das ist zwar meine Ansicht auch, erwiderte Gedeon Spilett, aber einmal eingeschlossen ...
– Werden wir über das Weitere berathschlagen, ergänzte der Ingenieur seine Worte.
– Also vorwärts und kein Besinnen mehr! drängte der Reporter.
– Herr Cyrus, wollen Sie nicht, daß ich mit Ayrton hier zurückbleibe? fragte der Seemann.
– Wozu, Pencroff? entgegnete Cyrus Smith. Nein, wir trennen uns jetzt nicht mehr!«
Kein Augenblick war zu verlieren. Die Colonisten verließen die Kamine. Ein kleiner Vorsprung des Steinwalles entzog sie den Blicken der Mannschaft auf der Brigg, doch einige donnernde Knalle und das Anschlagen der Kugeln an die Felsen belehrte sie, daß der Speedy schon sehr nahe sei.
Sich in den Aufzug stürzen, nach der Thür des Granithauses, in dem Top und Jup seit dem Tage vorher eingeschlossen waren, hinauf winden und in den großen Saal drängen, das war das Werk nur eines Augenblickes.
Die höchste Zeit war es, denn durch die Zweige vor den Fenstern sahen die Colonisten schon den Speedy in Pulverdampf gehüllt den Canal heraussegeln. Unaufhörlich krachten die Geschütze und flogen die Kugeln blindlings ebenso auf den verlassenen Posten an der Mercy, wie auf die Kamine, daß die Felsen splitterten. Ein wildes Hurrah begleitete jeden Schuß.[526]
Noch immer gab man sich der Hoffnung hin, daß das Granithaus, dank der Vorsicht des Ingenieurs, die Fenster desselben zu verbergen, verschont bleiben werde, als eine Kugel, die Oeffnung der Thür streifend in den Vorraum eindrang.
»Verdammt! ... Wären wir entdeckt?« rief Pencroff.
Vielleicht hatte Niemand die Colonisten gesehen, aber Bob Harvey doch den Einfall gehabt, versuchsweise eine Kugel auf das verdächtige Blätterwerk abzufeuern, das an jenem Theile der Felswand hing. Bald häuften sich auch die dorthin gerichteten Schüsse, als eine andere Kugel nach Zerreißung der grünen Schutzwand eine Oeffnung im Granitfelsen bloßlegte.
Die Lage der Colonisten wurde allgemach verzweifelt. Ihre Zuflucht war verrathen. Sie konnten sich hier nicht mehr vor den Projectilen sichern, noch den Felsen schützen, dessen Stücke wie Kartätschenhagel um sie flogen. Jetzt blieb ihnen nichts mehr übrig, als sich in den aufwärts führenden Gang des Granithauses zurück zu ziehen und ihre Wohnung der Zerstörung preis zu geben, als sich ein furchtbarer dumpfer Knall hören ließ, den ein herzzerreißendes Geschrei begleitete.
Cyrus Smith und die Seinen eilten an ein Fenster ...
Die Brigg, welche mit unwiderstehlicher Gewalt von einer Art Wasserhose emporgehoben war, zerbarst scheinbar in zwei Stücke, und in weniger als zehn Secunden war sie sammt ihrer Verbrechermannschaft vom Meere verschlungen!
Buchempfehlung
Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik
78 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro