Vierzehntes Capitel.
Welches den Beweis liefert, daß menschliche Wesen nicht geschaffen sind, hundertundzweiunddreißig Millionen Meilen von der Sonne entfernt umherzuschweisen.

[395] Von diesem Tage ab kehrte die Gallia also auf ihrer elliptischen Bahn um und mit zunehmender Schnelligkeit zurück. Alle lebenden Wesen derselben hatten in der Tiefe der vulkanischen Bergmassen eine Zuflucht gefunden.

Wie hatten nun jene Engländer, welche freiwillig auf ihrem Eilande zurückblieben, die erste Hälfte des Gallia-Winters überstanden? Gewiß besser – wenigstens war das die allgemeine Meinung – als die Bewohner von Warm-Land. Jedenfalls hatten sie es nicht nöthig gehabt, aus einem Vulkan die Hitze der Lava zu entnehmen, um ihre gewöhnlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ihr Vorrath an Kohle und Lebensmitteln überhob sie dieser Mühe, denn an beiden konnten sie keinen Mangel gelitten haben. Ihre aus[395] soliden Kasematten bestehende, mit dicken Steinmauern umgebene Wohnung mußte sie wohl auch gegen eine sehr weitgehende Erniedrigung der Temperatur schützen. Reichliche Heizung bewahrte sie vor der Kälte, kräftige Nahrung vor dem Hunger – höchstens hätte ihre Kleidung zu enge geworden sein können. Brigadier Murphy und Major Oliphant mußten gewiß Gelegenheit gefunden haben, gegen einander die geistreichsten Angriffe auf dem geschlossenen Schlachtfelde des Schachbrettes auszuführen. Niemand zweifelte daran, daß das Leben in Gibraltar ein ganz gutes und bequemes gewesen sei. Jedenfalls konnte England den beiden Officieren und elf Soldaten, welche auf ihrem Posten so treu ausgehalten hatten, seine Anerkennung nicht vorenthalten.

Wären Kapitän Servadac und seine Gefährten bedroht gewesen, durch die Kälte umzukommen, so hätten sie gewiß eine Zuflucht auf dem Eilande von Gibraltar suchen können. Der Gedanke daran war wohl auch einmal aufgetaucht. Sie wären dort sicherlich gastfreundlich aufgenommen worden, wenn der erste Empfang von früher auch Manches zu wünschen übrig ließ. Engländer sind nicht die Leute dazu, ihres Gleichen zu verlassen, ohne Hilfe zu gewähren. Im Falle der unbedingten Nothwendigkeit würden sie auch nicht gezögert haben, nach Gibraltar auszuwandern. Ohne Schutz und ohne Feuer wäre das freilich eine lange und gefährliche Reise über das grenzenlose Eisfeld gewesen, bei welcher wahrscheinlich nicht Alle an das Ziel gelangt wären. Dieses Project sollte bestimmt auch nur unter den dringendsten Umständen ausgeführt werden, während Alle darin übereinstimmten, Warm-Land nicht zu verlassen, so lange der Vulkan hinreichende Wärme lieferte.

Wir erwähnten schon oben, daß alle lebenden Wesen der Gallia-Kolonie ohne Ausnahme in den Höhlen des Centralkamines Zuflucht gefunden hatten. Auch eine ziemliche Anzahl der Thiere war gezwungen gewesen, die Galerien des Nina-Baues zu verlassen, wo sie vor Kälte zu Grunde gegangen wären. Kapitän Servadac's und Ben-Zouf's beide Pferde ließen sich freilich nur mit Mühe in diese Tiefen schaffen. Dem Kapitän und seiner Ordonnanz lag aber vorzüglich daran, Zephyr und Galette zu erhalten und lebend nach der Erde mitzubringen. Sie liebten die beiden Thiere, welche für diese neuen klimatischen Verhältnisse allerdings nicht geschaffen schienen, viel zu sehr. Eine geräumige zum Stall umgeschaffene Nebenhöhle ward für sie eingerichtet und Futter besaß man für beide ja zum Glück genug.[396]

Die anderen Hausthiere mußten freilich zum Theil geopfert werden, da es unmöglich war, sie in den unteren Höhlenräumen der Bergmasse unterzubringen. Ließ man sie aber in den oberen Galerien, so verdammte man sie damit nur zu einem grausamen Tode. Man fand keinen anderen Ausweg als den, sie zu tödten. Da sich das Fleisch dieser Thiere in den alten Magazinen, worin es der strengen Kälte ausgesetzt war, unbegrenzt lange halten mußte, so erreichte man damit gleichzeitig einen sehr schätzenswerthen Zuwachs an Vorräthen.

Zur Vervollständigung des Verzeichnisses der lebenden Wesen, welche in das Innere des Berges geflüchtet waren, erwähnen wir hier auch die Vögel, deren Nahrung aus den Brocken und Abfällen bestand, die man ihnen täglich zukommen ließ. Die Kälte hatte auch sie getrieben, die Höhen des Nina-Baues mit den dunklen Klüften des Berginnern zu vertauschen. Ihre Anzahl war leider zu groß und ihre Gegenwart zu unbequem, so daß man sich genöthigt sah, auf sie Jagd zu machen und einen großen Theil derselben zu vernichten.

Alles das nahm den Januar bis zum Ende in Anspruch, denn erst zu dieser Zeit konnte man die neue Einrichtung als vollendet betrachten. Nun aber begann für die Mitglieder der Gallia-Kolonie ein Leben von wahrhaft verzweifelter Eintönigkeit.

Würden sie wohl im Stande sein, der ertödtenden Langweile zu trotzen, welche ihre Einschließung mit sich brachte? Ihre Chefs suchten dieses Resultat zu erzielen durch ein enges Aneinanderschließen Aller, durch Unterhaltungen, an welchen Theil zu nehmen Jeder aufgefordert wurde, und durch lautes Vorlesen einzelner, besonders interessanter Theile aus den Reisewerken und wissenschaftlichen Büchern der Bibliothek. Dann saßen Alle rund um den großen Tisch, die Russen wie die Spanier hörten zu und lernten dabei, und wenn sie wirklich einmal zur Erde zurückkehrten, so kamen sie sicher mit mehr Kenntnissen wieder, als sie durch Verbleiben in ihrem Vaterlande je hätten erreichen können.

Was machte aber Isaak Hakhabut während dieser Zeit? Betheiligte er sich an den Gesprächen oder an der Lectüre? Nicht im Geringsten. Welchen Vortheil hätte er davon gehabt? Er verbrachte die langen Stunden mit Rechnen und wieder Rechnen, mit Zählen und wieder Zählen des Geldes, welches in seine Hände zusammenströmte. Das, was er hier verdient hatte,[397] betrug mit dem, was er schon vorher besaß, mindestens einhundertfünfzigtausend Francs, davon die Hälfte in gutem, europäischem Golde. Er hoffte sicher darauf, daß dieses klingende vollwichtige Metall auf der Erde seinen wahren Werth schon wieder erhalten werde, und wenn er die Zahl der verflossenen Tage ausrechnete, so geschah das nur aus Bedauern über die verlorenen Zinsen. Er hatte noch nicht Gelegenheit gefunden, so viel als er hoffte, auf gute Papiere und natürlich unter sicherster Garantie, auszuleihen.

Unter allen Kolonisten war es Palmyrin Rosette, der sich am schnellsten eine ausreichende Beschäftigung zu schaffen wußte. Mit seinen Ziffern fühlte er sich niemals allein, und das unausgesetzt betriebene Rechnen verkürzte ihm die langen Tage des Winters.

Ueber die Gallia kannte er zwar Alles, was man nur von einem Himmelskörper zu wissen wünschen kann, nicht so aber von der Nerina, ihrem Satelliten. Die Eigenthumsrechte, welche er über seinen Kometen beanspruchte, erstreckten sich auch auf dessen Mond. Es erschien ihm demnach als das wenigste, daß er die neuen Elemente desselben bestimmte, seitdem er der Zone der teleskopischen Planeten entrissen worden war.

Er beschloß also, die nöthigen Rechnungen vorzunehmen. Hierzu waren ihm noch einige Aufnahmen der Nerina in verschiedenen Stellungen nothwendig. Nachdem das geschehen, gedachte er, da ihm durch directe Messungen die Masse der Gallia bekannt war, auch die Nerina von seinem dunklen Cabinete aus zu wiegen.

Leider besaß er nur jenen dunklen Winkel, dem er den Namen eines »Cabinets« beilegte, da es in der That unmöglich war, jenes vielleicht gar ein Observatorium zu nennen. In den ersten Tagen des Februar sprach er sich auch Kapitän Servadac gegenüber in dieser Richtung aus.

»Sie brauchen ein besonderes Cabinet, lieber Professor? antwortete dieser.

– Ja, Kapitän, aber ein solches, in welchem ich arbeiten kann, ohne jeden Augenblick irgend einen Störenfried fürchten zu müssen.

– Wir werden ein solches ganz nach Ihrem Wunsche schon finden, tröstete ihn Hector Servadac. Sollte es dann auch nicht so comfortabel sein, wie ich es selbst gern wünschte, so wird es Ihnen doch die nöthige Abgeschiedenheit und Ruhe gewähren.[398]

– Mehr beanspruche ich nicht.

– So sind wir also einig.«

Da der Kapitän bemerkte, daß Palmyrin Rosette gerade in ziemlich guter Laune war, so beeilte er sich, jenem eine ihm auf dem Herzen liegende Frage bezüglich der früheren Berechnungen zu unterbreiten, eine Frage, auf welche er ein ganz besonderes Gewicht legte.

»Lieber Professor, begann er, als dieser sich eben zurückziehen wollte, ich hätte wohl noch eine Frage an Sie.

– Ich höre.

– Die Berechnungen, auf Grund deren Sie die Dauer des Umlaufes der Gallia bestimmt haben, sind gewiß sehr genau, sagte Hector Servadac. Wenn ich mich indeß nicht täusche, genügt eine halbe Minute Verzögerung oder Beschleunigung, und der Komet trifft nicht mehr in der Ekliptik mit der Erde zusammen! ...

– Nun, was weiter?

– Nun, lieber Professor, erscheint es da nicht rathsam, jene Rechnungen auf ihre Genauigkeit zu prüfen.

– Das ist unnöthig.

– Lieutenant Prokop wäre gewiß erbötig, Ihnen bei dieser umfangreichen Arbeit zu helfen.

– Ich brauche Niemand, erwiderte Palmyrin Rosette etwas piquirt.

– Wenn nun aber ...

– Ich täusche mich niemals, Kapitän Servadac, und Ihr Drängen ist sehr am unrechten Platze.

– Alle Wetter, lieber Professor, Sie sind gegen Ihre Gefährten gerade nicht zu gefällig, und ...«

Er behielt bei sich, was er noch auf dem Herzen hatte, da Palmyrin Rosette zu den Leuten gehörte, welche mit Schonung behandelt sein wollen.

»Kapitän Servadac, erklärte trocken der Professor, ich wiederhole meine Rechnungen nicht, weil dieselben unbedingt verläßlich sind; doch theile ich Ihnen hierdurch mit, daß ich das, was ich in Bezug auf die Gallia gethan habe, nun auch bezüglich der Nerina, ihren Satelliten, vorzunehmen gedenke.

– Gewiß eine ganz zeitgemäße Beschäftigung, sagte Kapitän Servadac ernsthaft. Ich glaubte bisher freilich, Nerina gehöre zu den teleskopischen[399] Planeten und ihre Elemente seien den Astronomen der Erde schon längst bekannt.«

Der Professor warf dem Kapitän Servadac einen wüthenden Blick zu, als sei die Nützlichkeit einer seiner Arbeiten bezweifelt worden. Dann fuhr er erregt fort:


Er verbrachte seine Zeit mit Rechnen und Zählen des Geldes. (S. 397.)
Er verbrachte seine Zeit mit Rechnen und Zählen des Geldes. (S. 397.)

»Kapitän Servadac, wenn die Astronomen der Erde Nerina beobachtet haben, wenn sie schon die mittlere Dauer ihrer täglichen Umdrehung, die[400] Dauer ihres siderischen Umlaufes, ihre mittlere Entfernung von der Sonne, ihre Excentricität, die Länge ihres Perihels, die mittlere Länge der Epoche, die Länge ihres aufsteigenden Knotens, die Neigung ihrer Bahn und noch sonst etwas kennen, so muß die Ergründung dieser Verhältnisse doch ganz von vorne angefangen werden, da die Nerina nicht mehr der Zone der teleskopischen Planeten angehört, seitdem sie ein Satellit der Gallia geworden ist. Da sie jetzt einen Mond darstellt, muß sie als Mond frisch beobachtet werden, und ich sehe nicht ein, warum die Bewohner der Gallia nicht berechtigt wären, das von ihrem Mond zu kennen, was die ›Erdenwürmer‹ von dem ihrigen wissen!«

Man mußte Palmyrin Rosette dieses Wort »Erdenwürmer« selbst aussprechen hören! Mit welch' wegwerfendem Tone sprach er jetzt von Allem, was auf die Erde Bezug hatte!

»Ich schließe dieses Gespräch, Kapitän Servadac, sagte er dann, ebenso wie ich es begonnen habe, indem ich Sie bitte, mir ein Cabinet zur Verfügung stellen zu lassen ...

– Wir werden es uns bestens angelegen sein lassen, lieber Professor ...

– O, ich bin nicht so pressirt, antwortete Palmyrin Rosette, wenn ich es nur in einer Stunde bekomme ...«

Es vergingen freilich drei Stunden, nachher aber konnte Palmyrin Rosette in einer Art Höhle untergebracht werden, in der ein Tisch und ein Stuhl eben Platz fanden. Im Laufe der nachfolgenden Tage stieg er trotz der heftigen Kälte noch immer viel nach seinem Observatorium, um die Nerina in verschiedenen Positionen zu beobachten. Dann aber schloß er sich in sein Cabinet ein und vorläufig sah ihn Niemand wieder.

Die Bewohner der Gallia, welche jetzt achthundert Fuß unter der Oberfläche vergraben lebten, bedurften wahrlich einer außergewöhnlichen moralischen Energie, um in dieser Lage, welche kein anregender Zwischenfall unterbrach, auszuharren. So mancher Tag verstrich, ohne daß nur Einer von ihnen nach der Oberfläche emporstieg, und hätte sie nicht die Noth gezwungen, von dort her Süßwasser in Form von Eis zu holen, so hätten sie wohl so gut wie niemals die dunklen Tiefen des Vulkanes verlassen.

Dagegen stattete man den allertiefsten Theilen des Centralkamines wiederholt Besuche ab. Kapitän Servadac, Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Ben-Zouf wollten den in dem Kern der Gallia ausgehöhlten[401] Abgrund soweit als möglich kennen lernen. Die Untersuchung der aus dreißig Hunderttheilen Gold bestehenden Bergmasse ließ sie sehr gleichgiltig. Uebrigens würde ja diese hier auf der Gallia ganz werthlose Substanz, auch wenn sie auf die Erde fiele, ihrer großen Menge wegen keinen besonderen Werth erlangen, und so schenkten sie diesem Tellurit nicht mehr Aufmerksamkeit als etwa einem Granitfelsen.

Eines lernten sie aber doch durch diese Nachforschungen kennen: daß das Centralfeuer noch immer in Thätigkeit war, und sie schlossen daraus, daß, wenn die Eruption nicht mehr durch ihren Vulkan vor sich ging, andere feuerspeiende Oeffnungen auf der Oberfläche der Gallia entstanden sein müßten.

So verstrichen der Februar, März, April und Mai, sozusagen in einer Art moralischer Erschlaffung, von der sich die Gefangenen kaum klare Rechenschaft gaben. Die meisten derselben vegetirten mehr in einer nachgerade beunruhigenden Erstarrung. Die früher mit so großem Interesse angehörten Vorlesungen vereinigten jetzt keine lauschenden Zuhörer mehr um den großen Tisch. Die Unterhaltung beschränkte sich auf zwei bis drei Personen und wurde nur mit halber Stimme geführt. Die Spanier vorzüglich schienen niedergeschlagen und verließen ihre Lager so gut wie gar nicht mehr. Kaum rührten sie sich noch, um ein wenig Nahrung zu nehmen. Die Russen widerstanden besser und betrieben die wenigen Arbeiten mit noch mehr Eifer. In dem Mangel an Thätigkeit lag die größte Gefahr dieser langdauernden Einschließung. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop bemerkten recht wohl die Fortschritte dieses Zustandes, doch was vermochten sie dagegen zu thun? Sie selbst fühlten sich ziemlich angegriffen von der tödtenden Langweile und widerstanden dieser Prüfung nicht immer. Bald zeigten sich die Folgen durch eine ungewöhnlich lange Dauer des Schlafes, bald durch einen unbesieglichen Widerwillen gegen jede Nahrung, welcher Art sie auch war. Man hätte fast sagen können, daß diese tief im Boden vergrabenen Gefangenen den Schildkröten im Winter glichen und auch wie diese bis zum Eintritt wärmerer Jahreszeit schliefen und fasteten.

Von der ganzen Gallia-Kolonie hielt sich die kleine Nina noch am besten. Sie ging und kam und munterte Pablo auf, den die allgemeine Erstarrung ebenfalls ergriffen hatte. Sie sprach bald zu dem Einen, bald zu einem Anderen, und ihre frische Stimme schallte durch die dunklen Tiefen[402] wie das lustige Lied eines Vögleins. Hier veranlaßte sie zu trinken, dort zu essen. Sie war mit einem Worte die Seele dieser kleinen Welt und belebte sie durch ihr munteres Wesen. Sie trällerte stets hübsche italienische Liedchen, wenn in diesem dunklen Grabe ein bedrückendes Schweigen herrschte. Sie summte wie eine kleine Fliege, die sich jedoch nützlicher und wohlthuender erwies als die Fliege des Fabeldichters. In diesem kleinen Wesen pulsirte ein so übersprudelndes Leben, daß sie sozusagen Jedem einen Theil desselben einflößte. Diese Wechselwirkung vollzog sich zwar gewiß, ohne daß die Betreffenden davon besonders wußten, war aber nichtsdestoweniger vorhanden, und zweifelsohne diente die Anwesenheit Nina's den in ihrer Wintergrube halb entschlafenen Gallia-Bewohnern nur zum Heile.

Indeß, die Monate vergingen. Wie? das hätten weder Kapitän Servadac noch seine Genossen sagen können.

Mit Anfang Juni schien die allgemeine Erstarrung sich nach und nach zu lösen. Dankte man das dem Einfluß des Strahlengestirns, dem man sich langsam näherte? Vielleicht, und doch stand die Sonne noch so unendlich fern. Lieutenant Prokop hatte während der ersten Hälfte der Gallia-Revolution ihre Stellung nebst den von dem Professor dazu angegebenen Ziffern genau notirt. Er gewann dadurch graphisch hergestellte Ephemeriden und konnte nun auf einer gezeichneten Bahn dem Lauf des Kometen mit mehr oder weniger Genauigkeit folgen.

Nach Ueberschreitung des Aphels war es ihm leicht, die Position der Gallia während ihrer Rückkehr zu verzeichnen und seine Gefährten auf dem Laufenden zu erhalten, ohne Palmyrin Rosette über jeden einzelnen Punkt zu befragen.

Dabei sah er denn auch, daß die Gallia nach nochmaliger Durchschreitung der Jupiterbahn noch in der enormen Entfernung von 114 Millionen Meilen von der Sonne schwebte. Entsprechend dem einen Kepler'schen Gesetze nahm die Schnelligkeit ihrer Bewegung aber fortwährend zu und vier Monate später trat sie der Rechnung nach in die Zone der teleskopischen Planeten, bei 75 Millionen Meilen Entfernung von der Sonne, wieder ein.

Zu dieser Zeit – in der zweiten Hälfte des Juni – hatten Kapitän Servadac und seine Gefährten ihre physischen und moralischen Fähigkeiten[403] vollkommen wieder erlangt. Auch Ben-Zouf reckte und dehnte sich wie ein Mensch, der aus langem, tiefem Schlafe erwacht.

Jetzt häuften sich die Besuche in den verlassenen Räumen des Nina-Baues. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop stiegen sogar wieder bis zum Strande des Meeres hinab. Zwar herrschte noch immer eine ungeheure Kälte, doch hatte auch die Atmosphäre nichts von ihrer gewohnten Ruhe verloren. Keine Dunstmasse zeigte sich, weder am Horizonte noch im Zenith, kein Windhauch zitterte durch die klare Luft.

Die letzten Fußspuren auf dem Strande sah man noch immer so rein wie am ersten Tage.

Nur an einer Stelle war das Bild des Ufers verändert, und zwar nahe dem felsigen Vorgebirge, welches die Hafenbucht deckte. Dort hatte die aufsteigende Bewegung der Eisschichten weitere Fortschritte gemacht. Sie erhoben sich jetzt daselbst bis auf hundertfünfzig Fuß. In derselben Höhe schwebten auch die Goëlette und die Tartane, zu welchen jeder Zugang abgeschnitten war. Ihr Sturz bei eintretendem Thauwetter schien gewiß, ihr Untergang unausweichlich, denn es gab kein Mittel, sie zu retten.

Glücklicher Weise begleitete Isaak Hakhabut, der seinen Kramladen in der Tiefe des Berges niemals verließ, den Kapitän Servadac nicht bei dieser Promenade.

»Wenn er jetzt hier wäre, meinte Ben-Zouf, welches Pfauengeschrei hätte der alte Spitzbube erhoben! Wie ein Pfau zu schreien und dessen Schweif nicht zu haben, das paßt aber nicht zusammen!«

Die zwei nächsten Monate, Juli und August, näherten die Gallia der Sonne bis auf 98.4 Millionen Meilen. Während der kurzen Nächte blieb die Kälte noch außerordentlich heftig; während des Tages aber strahlte die Sonne, da sie durch den Aequator der Gallia ging, eine merkbare Wärme aus und hob die Temperatur wohl um zwanzig Grade. Die Bewohner der Gallia kamen dann herbei, um sich an den belebenden Strahlen zu erfreuen, und machten es dabei ganz wie die Vögel, welche ebenfalls in der freien Luft herumflatterten, um erst mit dem sinkenden Tage wieder zu verschwinden.

Diese Art Frühling – doch darf man sich hier des Wortes bedienen? – übte einen sehr heilsamen Einfluß auf die Bewohner der Gallia aus. Die Hoffnung, das Vertrauen kehrte allmälig zurück. Während des Tages[404] zeigte sich die Sonnenscheibe am Horizonte schon vergrößert; während der Nacht schien die Erde mitten unter den tausend Sternen zu wachsen. Man sah jetzt das Ziel vor sich – noch war es zwar entfernt – doch, man sah es ja, wenn es im Weltraume auch nur gleich einem Punkte erschien.

Eines Tages veranlaßte diese Beobachtung Ben-Zouf zu folgender Bemerkung gegenüber Kapitän Servadac und Graf Timascheff:

»Wahrhaftig, sagte er, es wird mich Niemand glauben machen, daß mein Montmartre auch da unten liegen soll!

– Und doch, antwortete Kapitän Servadac, ich hoffe mit Sicherheit darauf, daß wir ihn daselbst noch wiederfinden!

– Ich auch, Herr Kapitän! Aber sagen Sie mir, ohne Ihnen Vorschriften machen zu wollen, wenn nun Herrn Rosette's Komet nicht so freundlich gewesen wäre, nach der Erde zurückzukehren, gäbe es dann gar kein Mittel, ihn dazu zu zwingen?

– Nein, mein Freund, erwiderte Graf Timascheff. Keine menschliche Macht wäre im Stande, die Stellung der Himmelskörper zu verändern. Welche Verwirrung müßte es geben, wenn Jeder den Gang seines Planeten nach Belieben bestimmen könnte! Aber Gott hat das nicht gewollt, und ich glaube, er that weise daran!«

Quelle:
Jules Verne: Reise durch die Sonnenwelt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXV–XXVI, Wien, Pest, Leipzig 1878, S. 395-405.
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