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[158] Christiania – in Norwegen eine große Stadt – würde in den bedeutenderen Culturländern Europas höchstens als mittelgroße Stadt gelten. Ohne wiederholte Zerstörungen durch Feuer möchte sie sich heute wohl noch ebenso zeigen, wie sie im elften Jahrhundert erbaut wurde Thatsächlich rührt sie erst vom Jahre 1624 her, zu welcher Zeit der König Christian sie wieder aufbaute. Aus Opsolo, wie ihr Name ursprünglich lautete, verwandelte sie sich damals erst in Christiania, zu Ehren ihres königlichen Neubegründers. Es ist eine regelmäßige Stadt mit breiten, nüchternen und geraden, wie nach dem Lineal angelegten Straßen mit weißen Stein- oder rothen Ziegelhäusern. Inmitten eines recht schönen Gartens erhebt sich das königliche Palais, das Oskarslot, ein gewaltiges viereckiges, aber, obwohl es in jonischem Stile gehalten ist, eigentlich stilloses Bauwerk. Da und dort zeigen sich einige Kirchen, in denen Schönheiten der Kunst gewiß keinen Andächtigen zu zerstreuen vermöchten. Endlich gibt es hier verschiedene Gerichtsgebäude und öffentliche Anstalten, ohne den in Form einer Rotunde errichteten, großen Bazar zu zählen, der einen Sammelplatz ausländischer und einheimischer Erzeugnisse bildet.
Unter Allem, was wir eben anführten, findet sich etwas besonders Bemerkenswerthes jedoch nicht; dagegen verdient rückhaltlose Bewunderung die schöne Lage der Stadt inmitten eines Kreises vielgestaltiger Berge, welche deren prächtigen Rahmen abgeben. Fast eben in ihren reichen neueren Theilen, erhebt sie sich nur, um eine mit unregelmäßigen Häuschen bedeckte Art Kasbah zu bilden, in denen die ärmlichere Bevölkerung lebt. Die Holz- oder Ziegelhütten hier fallen dem Blicke freilich mehr auf, als sie ihn zu ergötzen vermögen.
Man darf nicht etwa glauben, daß das Wort Kasbah, welches eigentlich nur von afrikanischen Städten gebraucht wird, für eine Stadt im Norden Europas nicht am Platze wäre. Christiania hat wirklich in der Nachbarschaft des Hafens Stadttheile, wie man sie ganz ähnlich in Tunis, Marokko oder Algier findet, und wenn hier keine Tunesier wohnen, so ist deren flottirende Bevölkerung doch kaum höher zu schätzen.[158]
Mit einem Wort, gleich jeder Stadt, deren Fuß sich im Meere badet und die das Haupt bis zur Höhe grüner Hügel erhebt, ist gerade Christiania ganz besonders malerisch gelegen, und nicht mit Unrecht vergleicht man dessen Fjord mit dem Meerbusen von Neapel. Wie der letztere geschmückt ist durch die Dörfer Sorrent und Castellamare, so sind dessen Ufer mit Villen und Einzelhäuschen bedeckt, die sich halb in dem schwarzen Tannengrün verlieren und in dem leichten Nebeldunst, der ihnen eine so eigenthümliche »Weichheit« verleiht, der man in nördlichen Gegenden so oft begegnet.
Sylvius Hog war also endlich in Christiania zurück; freilich hatte sich diese Rückkehr unter keineswegs vorausgesehenen Umständen – inmitten einer unterbrochenen Erholungsreise – vollzogen. Nun, letztere wollte er im folgenden Jahre sicher nachholen, jetzt nahmen nur Hulda und Joël sein ganzes Interesse in Anspruch. In seinem Hause hatte er sie nicht absteigen lassen, weil das nur angegangen wäre, wenn er zwei Zimmer noch übrig gehabt hätte. Der alte Fink und die alte Kate hätten jene gewiß ganz gut aufgenommen, doch hatte es an Zeit gefehlt, nur die nöthigsten Vorbereitungen zu treffen. Deshalb führte sie der Professor nach dem Hôtel Victoria, wo er die jungen Leute besonders empfahl.
Eine Empfehlung von Sylvius Hog, dem Storthing-Abgeordneten, durfte aber sicherlich auf Beachtung rechnen.
Während der Professor hier für seine Schützlinge dieselbe Aufmerksamkeit beanspruchte, die man ihm selbst jedenfalls erwiesen hätte, gab er doch deren Namen nicht an, da es ihm um Joëls und noch mehr um Hulda Hansen's willen vor Allem wichtig er schien, deren Incognito zu bewahren. Der Leser weiß ja, wie viel schon von dem jungen Mädchen gesprochen und verbreitet worden war, und das hätte sie hier ungemein belästigen müssen, wenn die Leute ihre Ankunft in Christiania erfuhren.
Nach der Verabredung sollte der Professor die Geschwister am nächsten Tage nicht vor der Frühstückstunde, d. h. zwischen elf und zwölf Uhr, sehen.
Er hatte einige nothwendige Geschäfte zu besorgen, die den ganzen Vormittag in Anspruch nahmen, und erst nach Abwickelung derselben wollte er Hulda und Joël aufsuchen, um sie nachher nicht wieder verlassen zu müssen, denn er hoffte dann bei ihnen bleiben zu können, bis die Ziehung der Lotterie um drei Uhr ihren Anfang nahm.
Sobald Joël aufgestanden war, begab er sich zu seiner Schwester. Diese erwartete ihn schon völlig angekleidet in ihrem Zimmer.[159]
In der Hoffnung, sie ein wenig von ihren gerade heute gewiß schmerzlichen Gedanken abzulenken, schlug Joël ihr vor, bis zur Frühstückszeit etwas spazieren zu gehen. Um ihrem Bruder den Willen zu thun, nahm sie dessen Vorschlag an, und Beide begaben sich auf gut Glück hin gerade in die Stadt hinein.
Es war ein Sonntag. Ganz entgegen der gewöhnlichen Erscheinung in nördlichen Städten, wo an Sonn- und Festtagen die Anzahl der Spaziergänger meist eine beschränkte ist, zeigten sich die Straßen heute merkwürdig belebt. Nicht allein hatten die Einwohner selbst die Stadt heute nicht verlassen, sie sahen im[160] Gegentheil auch einen Theil der Landbevölkerung in den Straßen zusammenströmen. Auf der Eisenbahn des Mjöse-Sees, welche die Umgebungen der Hauptstadt durchschneidet hatte man sogar Extrazüge einlegen müssen; so viel Neugierige und zum größten Theil Interessenten hatte die volksthümliche Lotterie der Schulen von Christiania herbeigezogen.
So bewegten sich also viele Leute durch die Straßen hin, oft ganze Familien, wenn nicht gar ganze Dorfschaften, die alle in der geheimen Hoffnung gekommen waren, keine unnütze Fahrt unternommen zu haben. Doch, man[161] bedenke nur, die Million Loose war untergebracht worden, und wenn sie auch nur einen Gewinn von ein- oder zweihundert Mark machten, wie viele brave Leute wären, höchst zufrieden mit ihrem Loose, freudig nach ihren kleinen Saeters oder ihren bescheidenen Gaards heimgekehrt!
Vom Hôtel Victoria aus begaben sich Joël und Hulda zunächst hinunter bis nach den Quais, die sich an der Ostseite der Bucht hinziehen. Hier war der Menschenandrang nicht so groß, höchstens in den Wirthshäusern, wo das Bier und der Brantwein in vollen Schoppen und bis zum Rande vollen Spitzgläsern an fortwährendem Durste leidende Kehlen erquickte.
Während Bruder und Schwester so zwischen den Magazinen, den Reihen großer Fässer, den hohen Haufen von Kisten und Ballen von jeder Herkunft hinwandelten, zogen doch die am Lande vertäuten oder draußen im Wasser verankerten Schiffe ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich, da sich unter denselben ja leicht eines finden konnte, das zum Hafen von Bergen gehörte, nach dem der »Viken« nicht mehr zurückkehren sollte.
»Ole!... mein armer Ole!« murmelte Hulda.
Joël bemühte sich daher, sie wieder von der Bucht fort und nach den hochgelegenen Theilen der Stadt zu führen.
Hier hörten sie nun in den Straßen, auf den Plätzen und aus einzelnen Gruppen heraus wiederholt Aeußerungen, die sie selbst nahe berührten.
»Ja, sagte der Eine, man hat für die Nummer 9672 wohl bis zehntausend Mark geboten.
– Zehntausend? antwortete ein Anderer. Ich habe von zwanzigtausend und noch mehr reden hören.
– Herr Vanderbilt aus New-York soll bis auf dreißigtausend gegangen sein.
– Und die Herren Baring aus London bis auf vierzigtausend!
– Und die Herren Gebrüder Rothschild bis auf sechzigtausend.«
Man weiß ja, was von solchen volksthümlichen Uebertreibungen zu halten ist. Wenn die Steigerung in dieser Weise weiterging, wäre bald ein höherer Preis für das Loos erreicht worden, als der Ertrag des ersten größten Gewinnes ausmachte.
Doch wenn diese Neuigkeitsjäger bezüglich der Zahl der Hulda Hansen gemachten Anerbietungen und bezüglich deren Höhe nicht übereinstimmten, so war die Menge doch ganz einig in der Verurtheilung der elenden Handlungsweise des Wucherers in Drammen.[162]
»Welch' gottloser Schurke, dieser Sandgoïst, der kein Mitleid hat mit den wackeren Leuten!
– O, der ist schon in ganz Telemarken bekannt genug; das ist nicht der erste Streich des Kerls!
– Man sagt, er habe Ole Kamp's Loos, nachdem er es ziemlich theuer bezahlt, nicht weiter verkaufen können.
– Nein, kein Mensch wollte es annehmen.
– Das ist nicht zu verwundern! In den Händen der Hulda Hansen hatte das Loos einen Werth, in denjenigen Sandgoïst's aber gar keinen.
– Das ist recht! Mag er es auf dem Halse behalten und die fünfzehntausend Mark, die es ihm gekostet hat, verlieren.
– Doch, wenn der Spitzbube nun wirklich das große Loos darauf gewänne?
– Er!... Das wäre!
– Das wäre eine Ungerechtigkeit des Schicksals! Wenn er sich nur nicht etwa bei der Ziehung sehen läßt!...
– O, da sollt es ihm schlecht ergehen!«
So etwa lauteten die Ansichten bezüglich Sandgoïst's. Wir wissen, daß er – ob aus Klugheit oder aus irgend welchem anderen Grunde – nicht die Absicht zu haben schien, der Ziehung beizuwohnen, denn wenigstens gestern befand er sich ja in seinem Hause zu Drammen.
Hulda fühlte sich sehr erregt und Joël bemerkte, wie ihr Arm in dem seinen zitterte; so gingen sie rasch weiter, um nicht noch mehr zu hören, als hätten sie gefürchtet, von allen den unbekannten Freunden, die sich unter der Menge kundgaben, erkannt und angerufen zu werden.
Wenn sie darauf gerechnet hatten, vielleicht Sylvius Hog in der Stadt zu treffen, so ging das nicht in Erfüllung. Einzelne Worte aus den ihnen zu Ohren gekommenen Gesprächen ließen sie jedoch erkennen, daß des Professors Rückkehr nach Christiania schon unter den Leuten bekannt geworden war. Schon von früh an hatte man ihn sehr geschäftig und wie einen Mann, der weder zu fragen, noch Antwort zu geben Zeit hat, und zwar einmal nach dem Hafen und dann wieder nach den Marinebureaux dahineilen sehen.
Joël hätte gewiß jeden Vorüberkommenden fragen können, wo der Professor Sylvius Hog wohnte, und Jeder hätte ihm ebenso gewiß das betreffende Haus gezeigt oder ihn gleich selbst dahin geführt. Er that dies aber nicht, aus Furcht[163] indiscret zu erscheinen, und da sie verabredet hatten, sich im Hôtel wieder zu treffen, schien es ihm am besten, dahin zurück zu gehen.
Es war zehneinhalb Uhr, als Hulda ihren Bruder darum bat. Sie fühlte sich angegriffen, und jene Auslassungen, in welchen ihr Name immer wieder genannt wurde, thaten ihr wehe.
Sie begab sich also wieder nach dem Hôtel Victoria und daselbst nach ihrem Zimmer, um Sylvius Hog zu erwarten.
Joël blieb in dem im Erdgeschoß gelegenen Lesesaal des Hauses zurück, wo er sich damit beschäftigte, zum Zeitvertreib die Zeitungen von Christiania zu durchblättern.
Plötzlich wurde sein Gesicht todtenbleich und sein Auge trübe – das Blatt, welches er eben las, fiel ihm aus der Hand...
In der betreffenden Nummer des »Morgen-Blad« hatte er unter den Seenachrichten eben folgende, aus New-Foundland angelangte Depesche gelesen:
»Der Aviso »Telegraf« hat an der vermuthlichen Stelle des Schiffbruches des »Viken« keine Spur von letzterem entdecken können. Ebenso erfolglos waren seine Nachforschungen an der Küste von Grönland. Man darf also leider annehmen, daß von der Besatzung des »Viken« kein Mann mehr am Leben ist.«
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