[316] Johann glich einem Geisteskranken, als er aus dem geschlossenen Hause geflohen war. Das mit so rauher Hand zerrissene Geheimniß seines Lebens, die schrecklichen Worte Rip's, welche Clary gehört haben mußte, der Umstand, daß Fräulein de Vaudreuil jetzt aufgeklärt worden war, daß ihr Vater und sie bei der Gattin und bei dem Sohne jenes Simon Morgaz Zuflucht gefunden – daß Herr de Vaudreuil dasselbe sehr bald erfahren mußte, wenn er es in seinem Zimmer nicht überhaupt schon gehört hatte – Alles das trieb ihn rein zur Verzweiflung. In diesem Hause hätte er auch keinen Augenblick mehr verweilen können. Ohne sich Sorge darum zu machen, was Herr und Fräulein de Vaudreuil widerfahren könne, ohne sich zu fragen, ob der schmachbedeckte Name seiner Mutter hinreichen würde, sie gegen jede weitere Verfolgung zu sichern, ohne sich vorzustellen, daß Bridget gewiß nicht mehr werde in dem Orte wohnen wollen, wo ihr Herkommen bekannt werden mußte, und von wo man sie ohne Zweifel vertreiben würde, war er sinnlos durch die dichten Wälder[316] geeilt, die Nacht hindurch gelaufen, denn nirgendwo glaubte er sich weit genug entfernt von Denen, für die er von jetzt ab nur ein Gegenstand der Verachtung und des Schreckens sein konnte.
Und doch war sein Werk noch nicht vollendet! Seine Pflicht blieb es zu kämpfen, so lange er lebte! Er mußte sich tödten lassen, ehe sein wahrer Name bekannt werden konnte! War er erst todt, gefallen für das Vaterland, dann hatte er vielleicht wieder ein Anrecht, wenn auch nicht auf die Achtung, so doch auf das Mitleid seiner Nebenmenschen!
Allmählich begann wieder etwas Ruhe einzuziehen in das tieferregte Herz. Mit dem kalten Blute kehrte ihm auch die Thatkraft wieder, welche keine Anwandlung von Schwäche wieder lahmlegen sollte.
Auf seiner Flucht strebte er eiligst der Grenze zu, um die Patrioten wieder zu finden und einen neuen aufständischen Feldzug vorzubereiten.
Um sechs Uhr Morgens befand sich Johann schon vier Meilen von St. Charles, nahe dem rechten Ufer des St. Lorenzo und an der Grenze der Grafschaft Montreal.
Diesen von Reiterabtheilungen durchzogenen und von Polizeiagenten geradezu wimmelnden Landestheil mußte er natürlich möglichst bald hinter dem Rücken haben. Er hätte dazu den schräg durch die Grafschaft Laprairie führenden Weg einschlagen müssen, doch dieser wurde nicht weniger überwacht als der von Montreal. Am rathsamsten erschien es, dem Ufer des St. Lorenzo zu folgen, längs desselben bis zum Ontario-See vorzudringen und dann durch das Land im Osten von diesem bis zu den ersten amerikanischen Dörfern zu gelangen.
Johann entschied sich für diesen Plan, der immerhin viel Vorsicht erforderte, da er Schwierigkeiten gerade noch genug bot. Ihm kam es jedoch darauf an, selbst auf die Gefahr kürzerer oder längerer Verzögerungen hin, nur sein Ziel zu erreichen, und er durfte kein Gewicht darauf legen, seinen Fluchtplan je nach den Umständen ändern zu müssen.
In den Ufergrafschaften des Stromes standen zahlreiche Freiwillige auf der Lauer, die Polizei setzte unaufhörlich ihre strengen Haussuchungen noch fort, um die Hauptanführer der Aufständischen zu entdecken – mit diesen natürlich auch Johann ohne Namen, der in zahllosen Maueranschlägen die Summe lesen konnte, welche die Regierung für seinen Kopf zu zahlen anbot.
Unter solchen Verhältnissen sah sich der Flüchtling genöthigt, nur des Nachts seinen Weg fortzusetzen. Tagsüber verbarg er sich in zerfallenen Hütten oder[317] unter fast undurchdringlichem Gebüsch und hatte daneben die größte Mühe, sich nur einige Nahrung zu verschaffen.
Unfehlbar wäre Johann Hungers gestorben, ohne die Hilfe mildherziger Landleute, welche aus Besorgniß, sich selbst bloßzustellen, ihn gern nicht fragten, wer er sei und woher er komme.
So hatte er unvermeidliche Verzögerungen, dafür hoffte Johann jenseits der Grafschaft Laprairie, wenn er sonst die Provinz erreicht hatte, die verlorene Zeit wieder einzuholen.
Während des 4., 5., 6., 7. und 8. December konnte Johann kaum zwanzig Lieues hinter sich bringen. In fünf Tagen – richtiger in fünf Nächten – hatte er sich fast noch gar nicht vom Ufer des St. Lorenzo entfernt und befand sich da in den mittleren Theilen der Grafschaft Beauharnais. Das Schwerste war indeß überwunden, denn die canadischen Kirchspiele des Westens und des Südens erwiesen sich in dieser Entfernung von Montreal weniger überwacht. Dennoch mußte Johann mehr und mehr erkennen, daß die Gefahren, was seine eigene Person betraf, nur noch gewachsen waren. – Starke Rotten von Polizisten folgten seinen Spuren an der Grenze der Grafschaft Beauharnais. Wiederholt gelang es seiner Kaltblütigkeit, dieselben auf falsche Fährten zu führen.
In der Nacht vom 8. zum 9. December sah er sich aber von einem Dutzend Männern eingeschlossen, welche den Befehl hatten, ihn todt oder lebend festzunehmen. Nachdem er sich mit übermenschlichem Muthe vertheidigt und verschiedene Polizeiagenten schwer verwundet, wurde er doch schließlich gefangen genommen.
Heute war es nicht Rip, sondern der Polizeichef Comeau, der sich Johanns ohne Namen bemächtigt hatte. Diese so lohnende und aufsehenerregende Affaire entging dem Leiter des Hauses Rip & Cie. – Das waren sechstausend Piaster, welche auf der Einnahmeseite des Hauptbuches der Firma fehlen mußten.
Die Nachricht von der Verhaftung Johanns ohne Namen hatte sich sofort in der ganzen Provinz verbreitet. Den anglo-canadischen Behörden lag ja selbst so viel daran, sie überall bekannt werden zu lassen. So gelangte dieselbe am nächsten Tage schon bis nach den Kirchspielen der Grafschaft Laprairie und erreichte im Laufe des 9. December auch das Dorf Walhatta.
Am nördlichen Ufer des Ontario-Sees, wenige Lieues von Kingston, erhebt sich das Fort Frontenac. Es beherrscht das linke Ufer des St. Lorenzo,[318] durch den die Gewässer des Sees abfließen und dessen Lauf in dieser Gegend Canada und die Vereinigten Staaten von einander scheidet.
Dieses Fort wurde jenerzeit von dem Major Sinclair befehligt, der vier Officiere und etwa hundert Mann vom 20. Regiment unter sich hatte. Durch seine Lage vervollständigte es das Vertheidigungssystem der Forts Oswégo, Ontario und Levis, welche zum Schutze jener entfernten und ehedem öfter durch Einfälle von Indianern bedrohten Gebiete errichtet worden waren.
Nach dem genannten Fort Frontenac war Johann ohne Namen geschafft worden. Der General-Gouverneur hatte, als er die Nachricht von jener hochwichtigen Gefangennahme durch die Mannschaften Comeau's erhielt, nicht gewollt, daß der junge Patriot nach Montreal oder nach einer anderen bedeutenden Stadt eingeliefert würde, wo seine Anwesenheit möglicher Weise einen neuen Volksaufstand hervorgerufen hätte. Aus diesem Grunde erging von Quebec der Befehl, den Gefangenen nach dem Fort Frontenac zu transportiren, ihn dort einzukerkern und aburtheilen zu lassen – das war aber gleichbedeutend mit der Verurtheilung zum Tode.
Bei dem gewöhnlich höchst summarischen Gerichtsverfahren hätte Johann schon binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet sein müssen. Nichtsdestoweniger erlitt seine Vorführung vor das Kreisgericht unter der Leitung des Majors Sinclair einigen Aufschub.
Das kam nämlich daher:
Daß der Gefangene der fast sagenhafte Johann ohne Namen, der unermüdliche Agitator und früher die Seele der Aufstände von 1832, 1835 und 1837 sei, darüber herrschte nicht der geringste Zweifel. Doch welcher Mann verbarg sich unter diesem Pseudonym, unter diesem Kriegsnamen – das wollte die Regierung gern erfahren, da es Handhaben geboten hätte, weiter in die Vergangenheit zurückzugreifen, vielleicht wichtige Aufschlüsse zu erhalten und gewisse geheime Umtriebe aufzudecken, da in die Sache der Unabhängigkeit noch verschiedene unbekannte Fäden hineinspielen mochten.
Es schien also von Wichtigkeit, wenn nicht die Identität, so doch die Herkunft der Persönlichkeit festzustellen, deren Namen noch nicht bekannt war, und den zu verheimlichen jener besonders schwerwiegende Gründe haben mußte. Der Kriegsrath wartete also mit der Abgabe eines Urtheils, und man drang bezüglich dieser Frage so viel wie möglich auf Johann ein. Dieser ergab sich nicht; er verweigerte es sogar hartnäckig, auf irgend eine Frage nur zu antworten, die ihm[319] bezüglich seiner Familie gestellt wurde. Man mußte hierauf also verzichten, und am 10. December wurde der Proscribirte seinen Richtern vorgeführt.
Die Verhandlung verlief ohne besondere Verzögerung. Johann räumte unumwunden den Antheil ein, den er an den ersten wie an den letzten Aufstandsversuchen gehabt. Laut und mit stolzer Stimme forderte er von England die Canada zustehenden Rechte. Er erhob sich kühn gegenüber seinen Unterdrückern, er sprach, als hätten seine Worte die Umwallung des Forts übertönen und einen Widerhall im ganzen Lande finden können.
[320] Als der Major Sinclair noch zum letzten Male eine Frage nach seiner Herkunft, nach der Familie, der er entstammte, an ihn richtete, begnügte er sich zu antworten:
»Ich bin Johann ohne Namen, von Geburt französischer Canadier, und das muß Ihnen genug sein. Was kommt es denn viel darauf an, wer der Mann ist, der unter den Kugeln Ihrer Söldner fallen soll? Brauchen Sie denn einen Namen für einen Leichnam?«
Johann wurde zum Tode verurtheilt, und der Major Sinclair gab Befehl, ihn in seine Zelle zurückzuführen. Um auch den Vorschriften des General-Gouver neurs[321] Genüge zu leisten, sandte er noch einen besonderen Boten nach Quebec, um jenen zu benachrichtigen, daß das Civilverhältniß des Gefangenen von Frontenac nicht habe aufgeklärt werden können. Dabei fragte er an, ob er die Execution vollziehen lassen oder noch aufschieben solle.
Seit fast zwei Wochen schon sachte sich Lord Gosford so genau wie möglich über die Vorgänge bezüglich der Aufstandsversuche in St. Denis und St. Charles zu unterrichten und die Aburtheilungen zu beschleunigen. Fünfundvierzig der hervorragendsten Patrioten schmachteten in den Gefängnissen zu Montreal und elf in dem zu Quebec; der Gerichtshof mit seinen drei Richtern, dem General-Procurator und dem Staatsanwalt als Vertreter der Krone, sollte in Thätigkeit treten. Neben diesem Tribunal functionirte noch das Kriegsgericht unter dem Vorsitze eines General-Majors und bestand aus fünfzehn höheren englischen Officieren, welche bei der Unterdrückung des Aufstandes mitgewirkt hatten.
In Erwartung eines Urtheils, welches gewiß auf die härtesten Strafen hinauslief, sahen sich die Gefangenen einer Behandlung ausgesetzt, deren Grausamkeit durch keine politische Leidenschaft entschuldigt werden kann.
In Montreal im Gefängnisse der Pointe-à-Callières, in dem alten Kerker am Jacques Cartier-Platze, im neuen Gefängniß am Fuße des Courant, waren Hunderte von armen Leuten zusammengepfercht, welche furchtbar von der Kälte des canadischen Winters zu leiden hatten. Dazu wurden sie von Hunger zernagt, denn die Brotration, welche sie als einzige Nahrung empfingen, war völlig unzureichend.
Wohl flehten sie wenigstens um eine Untersuchung, um eine Verurtheilung, so hart diese auch ausfallen möchte. Ehe er sie aber dem ordentlichen oder dem Kriegsgerichte zuführte, wollte Lord Gosford warten, bis die Polizei ihre Nachforschungen beendigt hätte, damit dann alle Patrioten, deren sie hatte habhaft werden können, in seinen Händen wären.
Unser diesen Verhältnissen gelangte die Nachricht von der Gefangennahme Johanns ohne Namen und von der Einlieferung desselben in das Fort Frontenac nach Quebec. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Sache der Unabhängigkeit damit den Todesstoß erhalten habe.
Es war um neun Uhr Abends, als der Abbé Joann und Lionel am 12. December vor jenem Fort eintrafen. So wie Johann es gethan, waren sie erst dem rechten Ufer des St. Lorenzo gefolgt und hatten diesen dann überschritten[322] auf die Gefahr hin, bei jedem Schritte, den sie thaten, verhaftet zu werden. War auch Lionel durch sein Auftreten in Chipogan nicht eigentlich bedroht, so suchten die Agenten Gilbert Ar gall's doch den Abbé Joann jetzt desto eifriger. Jene Beiden mußten also gewisse Vorsichtsmaßregeln beobachten, welche ihr Fortkommen natürlich verlangsamten.
Dazu herrschte eine wahrhaft schreckliche Witterung. Seit vierundzwanzig Stunden tobte einer jener furchtbaren Schneestürme, welche die Meteorologen des Landes mit dem Namen »Blizzard« zu bezeichnen pflegen. Zuweilen bringt das Auftreten eines solchen einen Wärmesturz von dreißig Graden, das heißt eine solche Kälte hervor, daß dadurch zahlreiche Opfer verschlungen werden.1
Was hoffte denn der Abbé Joann davon, daß er selbst nach dem Fort Frontenac ging? Welchen Plan hatte er entworfen? Gab es für ihn ein Mittel, sich mit dem Gefangenen in Verbindung zu setzen? Wäre es möglich, nach vorheriger Verabredung dessen Entweichung zu begünstigen? – Jedenfalls kam es ihm darauf an, noch diesen Abend in die Zelle des Bruders Einlaß zu erhalten.
Wie der Abbé Joann war auch Lionel bereit, sein Leben hinzugeben, um das Johanns ohne Namen zu retten. Doch wie sollten Beide zu Werke gehen? Sie waren jetzt bis auf eine halbe Meile an das Fort Frontenac herangekommen, das sie hatten umgehen müssen, um einen Wald zu erreichen, dessen Saum sich in den Wellen des Sees badete. Hier unter diesen Bäumen, welche die Winterkälte ganz erstarrt hatte, brauste der eisige Samum dahin, dessen Wirbel die Oberfläche des Ontario in Aufruhr brachten.
Da sagte der Abbé Joann zu dem jungen Schreiber:
»Bleiben Sie hier, Lionel, ohne sich Jemand zu zeigen, und erwarten Sie meine Rückkehr. Die Wachtposten im Ausfalltsthore dürfen Sie nicht gewahr werden. Ich werde versuchen, in das Fort zu gelangen und mit meinem Bruder in Verbindung zu kommen. Gelingt mir nun das, so besprechen wir Beide die Möglichkeit einer Flucht. Wäre eine solche ganz unausführbar, so prüfen wir die Aussicht eines Angriffs, den die Patrioten unternehmen könnten, im Falle die Besatzung von Frontenac nicht gar zu zahlreich ist.«
Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Angriff länger dauernder Vorbereitungen bedurft hätte. Ueberdies wußte der Abbé Joann noch nicht, da sich die Nachricht hiervon bisher kaum verbreitet hatte, daß das Urtheil vor zwei[323] Tagen ergangen war und daß der Befehl zur Hinrichtung von einer Stunde zur anderen eintreffen konnte. Jenen Handstreich gegen das Fort Frontenac betrachtete der junge Priester auch nur als das äußerste Mittel; er bezweckte vielmehr, Johann Mittel und Wege zu verschaffen, in kürzester Frist zu entweichen.
»Haben Sie, Herr Abbé, fragte Lionel, einige Hoffnung, Ihren Bruder zu sehen zu bekommen?
– Lionel, könnte man den Eintritt ins Fort einem Diener des Herrn verweigern, der einem jedenfalls zur Todesstrafe verurtheilten Gefangenen den Trost der Religion bringen will?
– Das wäre unwürdig!... Das wäre abscheulich! antwortete Lionel.... Nein! Man wird es Ihnen nicht abschlagen!... Gehen Sie, Herr Abbé, ich werde hier warten.«
Der Abbé Joann drückte dem jungen Schreiber die Hand und verschwand um den Rand des Waldes.
In weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ausfallsthor des Fort Frontenac erreicht.
Das am Strande des Ontario errichtete Fort bestand aus einem in der Mitte gelegenen Blockhaus, welches hohe Palissaden umgaben. Am Fuße dieser Umplankung und nach der Seite des Sees hin erstreckte sich ein frei gelegtes schmales Gestade, welches jetzt unter der Schneedecke verschwand und mit der am Rande übereisten Seefläche verschmolz. An der anderen Seite stieß ein Dorf mit wenigen Feuerstätten daran, das in der Hauptsache von Fischersleuten bewohnt war.
Doch würde zunächst ein Entweichen und dann eine Flucht durch das Land möglich sein? Würde Johann seine Zelle verlassen, die Palissaden erreichen und die Aufmerksamkeit der Wachthabenden täuschen können? Das sollte von ihm und seinem Bruder erwogen werden, wenn dem Abbé Joann der Zutritt zum Fort nicht verboten wurde. Einmal in Freiheit, wollten sich Beide mit Lionel nicht nach der amerikanischen Grenze, sondern nach dem Niagara und der Insel Navy wenden, wo die Patrioten sich gesammelt hatten, um einen letzten Befreiungsversuch zu wagen.
Nachdem der Abbé Joann schräg über das Vorland geschritten, langte er vor dem engen Thore an, neben dem ein Wachtposten auf und ab ging. Er sprach den Wunsch aus, dem Commandanten des Forts zugeführt zu werden.[324]
Ein Sergeant trat aus dem Wachtlocal, das sich im Innern der Palissade befand. Der ihn begleitende Soldat trug eine Fackel, da es bereits ganz dunkel geworden war.
»Was wollen Sie? fragte der Sergeant.
– Mit dem Commandanten sprechen.
– Und wer sind Sie?
– Ein Geistlicher, der dem gefangenen Johann ohne Namen seinen Beistand leisten will.
– Sie können sagen dem verurtheilten!...
– Ist das Urtheil schon gefällt?
– Vorgestern, und Johann ohne Namen ist damit dem Tode verfallen!«
Der Abbé Joann besaß Selbstbeherrschung genug, um nichts von seiner Erregung zu verrathen, und er begnügte sich zu antworten:
»Das ist nur ein Grund mehr, einem Verurtheilten den Beistand des Geistlichen nicht zu versagen.
– Ich werde dem Major Sinclair, dem Commandanten des Forts, Meldung machen,« erwiderte der Sergeant.
Er begab sich mit diesen Worten schon nach dem Blockhause, während er den Abbé Joann zunächst in das Wachtlocal eintreten ließ.
Dieser setzte sich in einer dunklen Ecke nieder und überdachte, was er soeben gehört.
Die Verurtheilung war ausgesprochen. Sollte es ihm da nicht an Zeit fehlen, seine Pläne auszuführen? Doch da der schon vor vierundzwanzig Stunden gefällte Urtheilsspruch bis jetzt noch nicht vollzogen war, so konnte das doch vielleicht daher rühren, daß der Major Sinclair Befehl erhalten hatte, die Hinrichtung aufzuschieben. An diese Hoffnung klammerte sich der Abbé Joann, obwohl er nicht wußte, wie lange dieser Aufschub dauern und ob er hinreichen würde, die Entweichung des Gefangenen vorzubereiten, ja nicht einmal, ob der Major Sinclair ihm den Zutritt ins Gefängniß erlauben werde. Was sollte aber geschehen, wenn er nur dann die Herbeiholung eines Priesters zuließ, wenn Johann ohne Namen schon auf dem Wege zur Hinrichtung war?
Man begreift leicht, welche Seelenangst der Abbé Joann gegenüber dieser Verurtheilung ausstehen mußte, da diese ihm keine Zeit zum Handeln mehr ließ.[325]
In diesem Augenblicke betrat ein Unterofficier den Posten und wandte sich an den jungen Priester:
»Der Major Sinclair erwartet Sie!« sagte er.
Vor ihm der Sergeant, dessen Fackel den Weg erleuchtete, überschritt Joann den inneren Hof, in dessen Mitte das Blockhaus sich erhob. Soweit es die Dunkelheit gestattete, sachte er die Größenverhältnisse dieses Hofes und die Entfernung zu erkennen, die den Wachtposten von dem Ausfallsthore trennte, da letzteres den einzigen Ausweg aus dem Fort Frontenac bot, wenn man es nicht vorzog, die Palissade zu überklettern. Wenn Johann die Anordnung der Baulichkeiten und die Lage dieser Punkte nicht kannte, so wollte Joann sie ihm doch wenigstens beschreiben können.
Die Thür des Blockhauses stand offen. Der Sergeant voran und der Abbé Joann nach ihm durchschritten dieselbe. Eine Schildwache schloß sie wieder hinter ihnen. Dann betraten sie die Stufen einer nach dem oberen Stockwerk führenden und in die Wand selbst eingelassenen Treppe. Oben angelangt, öffnete der Sergeant eine gerade gegenüberliegende Thür, und der Abbé Joann trat in das Zimmer des Commandanten.
Der Major Sinclair war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, von rauhem Aeußeren und schroffem Auftreten, »sehr englisch« durch seine Steifheit und »sehr sächsisch« durch das geringe Mitgefühl, welches menschliches Elend ihm einflößte. Vielleicht hätte er es sogar abgeschlagen, dem Verdammten geistlichen Zuspruch zu gewähren, wenn er in dieser Hinsicht nicht Befehle erhalten hätte, die er nicht wohl unbeachtet lassen konnte. Den Abbé Joann empfing er nicht eben vielverheißend; ja er erhob sich nicht einmal aus dem Lehnstuhle, in dem er saß, und legte die Pfeife nicht aus der Hand, deren Rauch das durch eine einzige Lampe nur schwach erhellte Zimmer erfüllte.
»Sind Sie Geistlicher? fragte er den Abbé Joann, der einige Schritte vor ihm stehen geblieben war.
– Ja, Herr Major.
– Sie kommen, um dem Verurtheilten beizustehen?...
– Wenn Sie das gestatten.
– Woher kommen Sie?
– Aus der Grafschaft Laprairie.
– Dort haben Sie von seiner Gefangennahme gehört?...
– Ja, eben dort.[326]
– Und auch von seiner Verurtheilung?...
– Davon vernahm ich erst bei meiner Ankunft im Fort Frontenac, und ich glaubte, der Major Sinclair würde mir ein Zusammentreffen mit dem Gefangenen nicht verweigern.
– Nein, das nicht; doch ich werde Sie erst rufen lassen, wenn es dazu Zeit ist, antwortete der Commandant.
– Etwas ist niemals zu frühzeitig, erwiderte der Abbé Joann, wenn der Mensch zum Tode verdammt ist...
– Ich sagte Ihnen, daß Sie rechtzeitig Nachricht erhalten werden. Warten Sie darauf im Dorfe Frontenac, wo einer meiner Soldaten Sie dann aufsuchen wird...
– Verzeihen Sie, wenn ich noch auf meiner Bitte bestehe, Herr Major, entgegnete der Abbé Joann. Es kann ja der Fall eintreten, daß ich gerade in dem Augenblick abwesend wäre, wo der Gefangene meinen Beistand am meisten bedarf. Gestatten Sie mir also, denselben in dieser Stunde zu sprechen...
– Ich wiederhole Ihnen, daß ich Ihnen werde eine Meldung zugehen lassen, unterbrach ihn der Commandant. Mir ist verboten, den Gefangenen vor der Stunde seiner Hinrichtung mit irgend Jemand, wer es auch sei, sprechen zu lassen. Ich erwarte jetzt nähere Befehle von Quebec, und wenn diese anlangen, hat der Gefangene noch zwei Stunden für sich. Was Teufel, diese zwei Stunden werden Ihnen genügen, und Sie mögen diese anwenden, wie es Ihnen für das Heil seiner Seele passend erscheint. Der Sergeant wird Sie nach dem Thore zurückgeleiten!«
Dieser nicht mißzuverstehenden Erklärung gegenüber blieb dem Abbé Joann nichts übrig, als sich zurückzuziehen. Trotzdem konnte er sich dazu nicht entschließen. Sah er seinen Bruder nicht, konnte er sich nicht mit diesem besprechen, so wurde jeder Fluchtversuch zur Unmöglichkeit. Schon wollte er seine Zuflucht zu Bitten nehmen, um den Commandanten zu einem anderen Beschlusse zu bestimmen, als die Thür sich aufthat.
Der Sergeant erschien auf der Schwelle.
»Sergeant, sagte der Major Sinclair zu ihm, Ihr werdet diesen Geistlichen aus dem Fort hinausführen, und er erhält nicht eher Zutritt, als bis ich nach ihm schicke.
– Die Schildwachen werden Ordre erhalten, Herr Commandant, antwortete der Sergeant. Ich habe Ihnen auch noch mitzutheilen, daß ein Expreßbote eben in Frontenac eingetroffen ist.[327]
– Ein Courier von Quebec?...
– Ja, er überbringt diese Papiere...
– Geben Sie her, sagte der Major Sinclair.
Er entriß dem Sergeanten mehr das amtliche Schreiben, als er es dem Manne aus der Hand nahm.
Der Abbé Joann war todtenbleich geworden; er fühlte sich so schwach, daß seine Hinfälligkeit und die Farbenveränderung seines Gesichts dem Major hätten verdächtig erscheinen müssen, hätte dieser ihn im Augenblick beobachtet.[328]
Das geschah aber nicht.
Die Aufmerksamkeit des Majors war völlig von diesem mit dem Wappen des Lord Gosford versiegelten Briefe, dessen Umschlag er eilig aufriß, in Anspruch genommen.
Er durchflog denselben, dann wandte er sich wieder zu dem Sergeanten.
»Führt diesen Geistlichen nach der Zelle Johanns ohne Namen, befahl er. Ihr laßt ihn mit dem Gefangenen allein, und wenn er wieder fortzugehen wünscht, so führt Ihr ihn nach dem Ausfallsthore.«[329]
Es war der Befehl zur schleunigen Hinrichtung, den der General-Gouverneur eben nach Fort Frontenac geschickt hatte.
Johann ohne Namen hatte nur noch zwei Stunden zu leben.
1 In gewissen Theilen Canadas, wie z.B. im Thale St. Jean, hat man das Thermometer gelegentlich bis auf 40 und 45 Grad unter Null herabsinken sehen.
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