Zehntes Capitel.
Bridget Morgaz.

[352] Inzwischen sollten zwei andere, nicht minder furchtbare Schläge die nationale Partei treffen und die letzten Vertheidiger des Lagers auf der Insel Navy noch weiter entmuthigen.[352]

In der That war zu befürchten, daß die Reformisten allmählich eine Beute der Verzweiflung würden, angesichts der sich wiederholenden Mißerfolge, welche das Unglück auf sie häufte.

In erster Linie machte die im Bezirke von Montreal erfolgte Erklärung des Standrechtes ein Einvernehmen zwischen den Kirchspielen am St. Lorenzo fast unmöglich. Einerseits ermahnte der canadische Clerus, ohne sich jeder Hoffnung auf die Zukunft zu begeben, doch die widerstrebenden Mengen, sich zu unterwerfen; andererseits war es sehr schwierig, ohne Hilfe der Vereinigten[353] Staaten den Sieg zu erringen. Abgesehen von der nächsten Grenzbevölkerung, schien aber auf eine solche Hilfe nichts hinzudeuten. Die Bundesregierung lehnte es ausdrücklich ab, für die Nachbarn französischen Ursprungs offen Partei zu ergreifen. Gute Wünsche... ja; Thaten... nicht die geringste! Außerdem bemühten sich noch eine Anzahl Canadier, unter Vorbehalt ihrer Rechte und unter Protest gegen offenbare Mißbräuche, die Gemüther möglichst zu beruhigen.


Die Truppen hielten das linke Stromufer besetzt. (S. 350)
Die Truppen hielten das linke Stromufer besetzt. (S. 350)

Dieser Zustand der Dinge verursachte es, daß die kampfbereiten Patrioten im letzten Monate des Jahres 1837 nicht mehr als etwa tausend Mann zählten, welche noch überdies im Lande verstreut waren. An Stelle einer Revolution hatte die Geschichte damit nur noch eine Revolte in ihre Bücher einzutragen.

Inzwischen wurden in Swanton einige isolirte Aufstandsversuche unternommen. Auf Anrathen Papineau's und O'Callaghan's drang eine kleine Truppe von achtzig Mann in das canadische Gebiet ein, gelangte hier bis Moore's-Corner und stürzte sich auf einen Haufen von vierhundert Kronfreiwilligen, welche den Patrioten den Weg verlegten. Letztere schlugen sich mit rühmenswerthem Muthe, wurden aber doch zurückgedrängt und mußten die canadische Grenze wieder rückwärts überschreiten.

Als die Colonialregierung von dieser Seite nichts zu fürchten hatte, konnte sie ihre Streitkräfte mehr nach Norden hin zusammenziehen.

Am 14. December kam es zu einem Gefechte in St. Eustache, in der Grafschaft Deux-Montagnes, nördlich vom St. Lorenzo. Hierbei zeichnete sich inmitten seiner kühnen Kampfgenossen, wie Lorimier, Ferréol und Andere, durch Entschlossenheit und Todesverachtung vorzüglich der Doctor Chénier aus, auf dessen Kopf ein Preis ausgeschrieben war. Zweitausend von Sir John Colborne entsandte Soldaten, neun Kanonen, hundertzwanzig Mann Cavallerie und eine Compagnie von achtzig Freiwilligen griffen St. Eustache an. Chénier und die Seinigen leisteten heldenhaften Widerstand. Den Vollkugeln und den Gewehrsalven ausgesetzt, mußten sie sich nach dem Pfarrhause, dem Kloster und in die Kirche zurückziehen; die Meisten besaßen nicht einmal Flinten, und als sie solche zu haben verlangten, antwortete Chénier kaltblütig:

»Ihr nehmt die Gewehre Derjenigen, welche schon gefallen sind!«

Der Kreis der Angreifer zog sich jedoch um das Dorf immer enger zusammen, und auch eine Feuersbrunst kam den Königlichen zu Hilfe.

Chénier sah sich gezwungen, die Kirche zu verlassen; da streckte ihn eine Kugel zu Boden. Er raffte sich noch einmal auf und feuerte; jetzt traf ihn eine[354] Kugel mitten in die Brust, so daß er auf der Stelle todt zusammensank. Siebenzig seiner Gefährten fielen mit ihm.

Man sieht wohl noch heute die Zerstörungen an der Kirche, in der jene Verzweifelten kämpften, und die Canadier haben niemals aufgehört, den Ort zu besuchen, wo der muthige Arzt den Tod fand. Im ganzen Lande pflegt man noch immer zu sagen: »muthig wie Chénier.«

Nach der erbarmungslosen Niederwerfung der Aufständischen in St. Eustache sandte Sir John Colborne seine Truppen nach St. Benoit, wo sie am folgenden Tage eintrafen.

Es war das ein Schloß und reiches Dorf, einige Meilen nördlich in der Grafschaft Deux-Montagnes.

Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen, die sich von Anfang an hatten unterwerfen wollen. Wie hätten sie auch nur die Möglichkeit gehabt, sich gegen die von St. Eustache kommenden regulären Truppen und gegen die von St. Andrew heranziehenden Freiwilligen zu vertheidigen, welche zusammen mehr als sechstausend Mann zählten und von dem General persönlich angeführt wurden?

Verwüstungen, Zerstörungen, Plünderungen, Feuersbrünste und Diebstähle – alle Ausschreitungen einer wüthenden Soldatesca, welche weder Alter noch Geschlecht schonte, Kirchenschändung, Entweihung heiliger Gefäße durch die Benützung zu den gemeinsten Zwecken, Entwendung von Meßgewändern, welche sie an den Hals ihrer Pferde banden – das waren die Acte des Vandalismus und der Unmenschlichkeit, deren Schauplatz dieses Kirchspiel wurde.

Und wenn die Freiwilligen großen Antheil an diesen Schändlichkeiten nahmen, so ist doch anzuführen, daß die Soldaten der regulären Armee nur wenig oder gar nicht von ihren Vorgesetzten davon zurückgehalten wurden. Wiederholt ertheilten letztere sogar selbst den Befehl, verschiedene Häuser von Vornehmen den Flammen zu übergeben.

Als die Nachrichten hiervon am 16. December nach der Insel Navy kamen, erregten sie natürlich einen Sturm der Entrüstung. Die Blaumützen wollten mit aller Gewalt den Niagara überschreiten und das Lager Mac Nab's angreifen, so daß Herr de Vaudreuil die größte Mühe hatte, sie zurückzuhalten.

Nach der ersten Erregung des Zornes jedoch griff eine tiefe Entmuthigung Platz. Sogar schon einzelne Desertionen begannen die Reihen der Patrioten zu lichten, wobei vielleicht ein Hundert nach der amerikanischen Grenze übertraten.[355]

Endlich sahen auch selbst die Führer ihren Einfluß sich abschwächen und geriethen in so manchen Zwiespalt untereinander. Vincent Hodge, Farran und Clerc kamen häufig in Meinungsverschiedenheiten mit anderen Führern. Nur Herr de Vaudreuil vielleicht hätte diese Reibereien schlichten können, welche in der verzweifelten Lage ihren Ursprung fanden. Zum Unglücke fühlte er, bei fortdauernder geistiger Energie trotz schlecht verheilter Wunden, seine Körperkraft täglich abnehmen und sagte sich, daß er eine letzte Niederlage nicht überleben werde. Inmitten der Besorgnisse, welche ihm die nächste Zukunft einflößte, beschäftigte sich Herr de Vaudreuil auch mit dem traurigen Zustand, in dem er seine Tochter hinterlassen würde.

André Farran, William Clerc und Vincent Hodge bemühten sich fortwährend, die Niedergeschlagenheit ihrer Kampfgenossen zu bannen. Wenn die Partie auch diesmal verloren ging, wiederholten sie, so werde man nur die geeignete Stunde zur Wiederaufnahme derselben abzuwarten haben. Nachdem die Keime zu einer späteren allgemeinen Schilderhebung einmal gelegt seien, würden sich die Patrioten auf das Gebiet der Vereinigten Staaten zurückziehen, um sich hier zum neuen Feldzuge gegen ihre Unterdrücker vorzubereiten.

Nein, man durfte an der Zukunft nicht verzweifeln, und das war sogar die Meinung des Meister Nick, der gelegentlich zu Herrn de Vaudreuil sagte:

»Wenn der Aufstand vorläufig auch noch nicht siegen konnte, so müssen die Forderungen der Reformer schon allein durch die Gewalt der Thatsachen erfüllt werden. Canada wird seine Rechte früher oder später zurückerlangen, wird sich seine Selbstständigkeit erkämpfen und höchstens noch dem Namen nach mit England zusammenhängen. Sie werden das ja noch erleben, Herr de Vaudreuil; wir finden uns schon einmal wieder mit Ihrer lieben Clary in der aus den Ruinen entstandenen Villa Montcalm zusammen. Und ich – o, ich rechne stark darauf, nach endlicher Ablegung des Herrschermantels der Sagamores, der mir kaum bis an die Notarschultern reicht, in meine Expedition nach Montreal zurückzukehren.«

Sprach Herr de Vaudreuil, der sich um die Zukunft seiner Tochter sorgte, darüber mit Thomas Harcher, so antwortete ihm der Farmer:

»Gehören wir nicht auch etwas zu Ihrer Familie, gnädiger Herr? Wenn Sie für Fräulein Clary fürchten, warum senden Sie diese nicht zu meiner Frau Catherine? Dort, in der Farm von Chipogan wird sie in Sicherheit sein; dort finden Sie sie wieder, sobald die Verhältnisse das gestatten.«[356]

Herr de Vaudreuil machte sich jedoch keine Illusionen bezüglich seines Zustandes, und da er den Tod in seinem Innern nagen fühlte, wollte er die Zukunft Clarys unter schon längst von ihm gewünschten Umständen sichergestellt wissen.

Da er Vincent Hodge's Liebe für sein Kind wohl kannte, mußte er annehmen, daß diese Liebe auch erwidert würde. Niemals hätte er geahnt, daß Clarys Herz von dem Gedanken an einen Anderen erfüllt sein könne. Unzweifelhaft mußte sie ja, wenn sie an die Verlassenheit dachte, die ihr nach des Vaters Ableben drohte, selbst die Nothwendigkeit fühlen, eine Stütze in dieser Welt zu haben. Und gab es da eine verläßlichere als die Liebe Vincent Hodge's, der an sie schon durch die Bande des wärmsten Patriotismus gefesselt war?

Herr de Vaudreuil beschloß nun demgemäß zu handeln, um die Erfüllung seines liebsten Herzenswunsches zu erreichen. Er zweifelte ja nicht an den Empfindungen Hodge's und konnte an denen Clarys noch weniger zweifeln. So wollte er sie Beide vor sich kommen lassen, mit ihnen reden und ihre Hände ineinanderlegen. Wenn er dann starb, würde er nur noch ein Bedauern haben – das Bedauern, der Heimat ihre Unabhängigkeit noch nicht haben wiedergeben zu können.

Vincent Hodge wurde eingeladen, sich am Abend des 16. December bei ihm einzufinden.

Es war ein kleines Haus an der Ostküste der Insel, gegenüber dem Dorfe Schlosser, das Herr de Vaudreuil mit seiner Tochter bewohnte.

Bridget wohnte ebenfalls da, sie verließ dasselbe aber am Tage niemals. Meist ging das arme Weib nur mit der Dämmerung aus, versenkt in das Angedenken an ihre beiden Söhne, Johann, der für die nationale Sache gestorben war, und Joann, von dem sie keine Nachrichten mehr erhalten, und der vielleicht in einem Gefängnisse Quebecs oder Montreals nur die Stunde erwartete, wo auch er den Tod finden sollte.

Uebrigens sah sie auch niemals Jemand in dem Hause, wo Herr und Fräulein de Vaudreuil ihr die Gastfreundschaft vergalten, welche sie im geschlossenen Hause genossen hatten. Hier quälte sie nicht die Furcht, erkannt zu werden, oder die Besorgniß, daß man ihr ihren Namen ins Gesicht schleudern könne; denn wer hätte in ihr die Gattin Simon Morgaz' vermuthen können? Es war für sie aber schon zuviel, daß sie unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil[357] wohnte, und daß Clary ihr die Liebe und Achtung einer Tochter für ihre Mutter entgegenbrachte.

Vincent Hodge stellte sich pünktlich zur bestimmten Stunde ein. Als er eintraf, war es um acht Uhr Abends.

Bridget, welche ausgegangen war, durchirrte die Insel.

Vincent Hodge drückte Herrn de Vaudreuil die Hand und wandte sich dann zu Clary, welche ihm die ihrige entgegenstreckte.

»Ich habe über ernste Dinge mit Ihnen zu sprechen, lieber Hodge, begann Herr de Vaudreuil.

– Ich lasse Dich allein, lieber Vater, sagte Clary, sich nach der Thür begebend.

– Nein, mein Kind. Was ich zu sagen habe, geht Euch Beide an.«

Er machte Vincent Hodge ein Zeichen, sich vor seinem Lehnstuhle niederzusetzen. Clary nahm auf einem anderen Stuhle neben ihm Platz.

»Mein Freund, nahm er nun das Wort, ich habe nicht mehr lange zu leben; ich fühle es, daß meine Kräfte tagtäglich mehr schwinden. So hören Sie mich denn an, als säßen Sie am Bette eines Sterbenden, um dessen letzte Worte zu vernehmen.

– Mein lieber Vaudreuil, antwortete Hodge rasch, Sie übertreiben...

– Und Du machst uns rechten Schmerz, liebster Vater! setzte das junge Mädchen hinzu.

– Ihr Beide würdet mir noch mehr bereiten, erwiderte Herr de Vaudreuil, wenn Ihr es abschlügt, meinen Worten zu lauschen.«

Er sah Beide lange Zeit an. Dann wandte er sich an Vincent Hodge.

»Mein Freund, sagte er, bisher haben wir miteinander von nichts anderem gesprochen, als von der Angelegenheit, der wir Beide, Sie und ich, unser ganzes Leben widmeten. Meinerseits war das ja etwas sehr Natürliches, da ich von französischem Geblüt bin, und ich nur für den Triumph des französischen Canada gekämpft habe. Sie aber, der unserem Vaterlande nicht durch die Bande der Geburt angehört, Sie haben ebenfalls nicht gezaudert, in die vordersten Reihen der Patrioten einzutreten...

– Sind die Amerikaner und Canadier nicht Brüder? antwortete Vincent Hodge. Und wer weiß denn, ob Canada nicht dereinst einen Theil der amerikanischen Union bildet?...

– O, möchte dieser Tag doch kommen! rief Herr de Vaudreuil.[358]

– Ja, mein Vater, er wird kommen, ließ sich da Clary vernehmen, er wird kommen und Du wirst ihn noch sehen...

– Nein, mein Kind, ich werde ihn nicht sehen.

– Halten Sie denn dafür, daß unsere Sache für immer verloren ist, weil sie dieses Mal besiegt wurde? fragte Vincent Hodge.

– Eine gerechte Sache muß immer zuletzt triumphiren, antwortete Herr de Vaudreuil. Die Zeit, die mir fehlt, wird doch Ihnen nicht fehlen, diesen Triumph mit anzusehen. Ja, Hodge, Sie werden Zeuge desselben sein, und gleichzeitig werden Sie auch Ihren Vater gerächt haben, Ihren Vater, der durch den Verrath eines Morgaz auf dem Schaffot sein Leben aushauchte!«

Nach diesem so unerwartet ausgesprochenen Namen fühlte sich Clary wie ins Herz getroffen. Fürchtete sie wohl, die Röthe sehen zu lassen, die ihr Gesicht überflog?

Ja, wahrscheinlich, denn sie erhob sich und nahm an einem Fenster Platz.

»Was fehlt Ihnen, Clary? fragte Vincent Hodge, der zu dem jungen Mädchen herantrat.

– Du bist leidend? setzte Herr de Vaudreuil hinzu, und machte schon eine Anstrengung, den Armstuhl zu verlassen.

– Nein, mein Vater, es ist nichts!... Ein wenig frische Luft macht Alles wieder gut!«

Vincent Hodge öffnete die Fensterflügel und wandte sich an Herrn de Vaudreuil zurück.

Dieser wartete einige Minuten. Als dann Clary wieder an seine Seite gekommen, ergriff er ihre Hand, indem er gleichzeitig das Wort an Vincent Hodge richtete:


 »Ihr nehmt die Gewehre derjenigen, welche schon gefallen sind,« antwortete Chénier. (S. 355.)
»Ihr nehmt die Gewehre derjenigen, welche schon gefallen sind,« antwortete Chénier. (S. 355.)

»Mein Freund, sagte er, obwohl nur der Patriotismus bisher Ihre Brust erfüllt hat, ließ er in Ihrem Herzen doch noch für eine andere Empfindung Raum. Ja, Hodge, ich weiß es, Sie lieben meine Tochter, und ich weiß auch, welche Hochachtung diese für Sie hegt. Ich würde weit ruhiger sterben, wenn ich wüßte, daß Sie das Recht und die Pflicht hätten, über sie zu wachen, wenn sie allein in der Welt steht. Wenn sie nun dazu Ja sagte, würden Sie Clary als Weib nehmen?«

Clary hatte die Hand aus der ihres Vaters gezogen; die Augen auf Vincent Hodge gerichtet, erwartete sie dessen Erklärung.[359]

»Mein lieber Vaudreuil, antwortete Vincent Hodge, Sie bieten mir da die Erfüllung des höchsten Glücks, das ich mir je geträumt, das, mich durch ein süßes Band an Sie zu fesseln. Ja, Clary, ich liebe Sie – schon seit langer Zeit – von ganzem Herzen; doch bevor ich Ihnen von meinen Empfindungen sprach, hatte ich die Sache unseres Volkes triumphiren sehen wollen. Jetzt sind die Verhältnisse freilich sehr ernste geworden und die jüngsten Ereignisse haben die Lage der Patrioten geändert, so daß wohl mehrere Jahre vergehen können, ehe es zu erneutem Kampfe kommt.[360]

Nun also, wollen Sie diese Jahre an meiner Seite und in dem Amerika, welches ja fast auch Ihr Vaterland ist, verleben? Wollen Sie mir das schöne Recht einräumen, den Vater an Ihrer Seite zu ersetzen, ihm die Freude gewähren, mich seinen Sohn zu nennen?... Sprechen Sie, Clary, ist das auch Ihr Wille?«

Das junge Mädchen schwieg.

Vincent Hodge senkte diesem Schweigen gegen über den Kopf und wagte keine Wiederholung seiner Frage.


Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen. (S. 355.)
Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen. (S. 355.)

»Nun, mein Kind, nahm Herr de Vaudreuil wieder das Wort, Du hast mich verstanden?... hast gehört, was Hodge darauf sagt?... Es hängt jetzt nur davon ab, ob ich auch sein Vater sein kann, und ob ich, nach[361] so vielen Leiden in diesem Leben, als letzte Tröstung die haben soll, Dich mit einem Patrioten, der Dich liebt und Deiner würdig ist, vereinigt zu sehen!«

Da gab Clary mit tief erregter Stimme eine Antwort, welche freilich jede solche Hoffnung abschnitt.

»Du weißt, mein Vater, daß ich Dir gewiß stets die größte Achtung bewahrt habe; auch für Sie, Herr Hodge, empfand ich von jeher die aufrichtigste Hochachtung und die Liebe einer Schwester; Ihre Gattin aber kann ich nicht werden!

– Du kannst nicht, Clary? murmelte Herr de Vaudreuil, den Arm seiner Tochter erfassend.

– Nein, lieber Vater!

– Und weshalb nicht?...

– Weil mein Leben einem Anderen gehört.

– Einem Anderen?... rief Vincent Hodge, in dem sich unwiderstehlich ein Gefühl der Eifersucht regte.

– Seien Sie nicht eifersüchtig, Hodge, fuhr das junge Mädchen fort. Warum sollten Sie das auch sein, mein Freund? Derjenige, den ich liebe und gegen den ich von dieser Liebe niemals eine Silbe sprach, der... ist nicht mehr! Auch wenn er noch lebte, wär' ich vielleicht sein Weib nicht geworden. Doch er ist todt, gestorben für sein Vaterland, und ich... ich werde seinem Andenken treu bleiben...

– Es ist also Johann?... rief Herr de Vaudreuil.

– Ja, Vater, es ist, oder es war Johann...«

Clary konnte ihre Antwort nicht vollenden.

»Morgaz!... Morgaz...« so ertönte es plötzlich aus einem wüsten, jetzt noch ziemlich entfernten Geschrei hervor; gleichzeitig hörte man ein Lärmen unruhiger Massen, welches vom Norden der Insel und vom Ufer des Niagara herkam, an dem das Haus des Herrn de Vaudreuil sich erhob.

Bei diesem geräuschvoll ausgerufenen Namen, der ja den Johanns jetzt so seltsam vervollständigte, wurde Clary leichenblaß.

»Was hat der Lärm zu bedeuten? fragte Herr de Vaudreuil.

– Und warum dieser Name?« fragte Vincent Hodge.[362]

Er erhob sich, trat an das noch offene Fenster und beugte sich hinaus.

Das Uferland lag ziemlich hell vor ihm. Gegen hundert Patrioten, viele derselben mit Fackeln aus Birken- oder Buchenrinde, drängten sich am hohen Stromufer daher.

Männer, Frauen und Kinder umringten, den verhaßten Namen ausstoßend, eine alte Frau, welche ihren thätlichen Mißhandlungen nicht entfliehen konnte, da sie sich kaum selbst weiter zu schleppen vermochte.

Es war Bridget.

In diesem Augenblicke stürzte Clary aus Fenster und erkannte das Opfer der Volkswuth, deren Grund sie recht wohl errieth.

»Bridget!...« rief sie.

Sofort sprang das junge Mädchen nach der Thür, riß diese auf und eilte hinaus, ohne ihrem Vater, der ihr mit Vincent Hodge folgte, noch eine Erklärung zu geben.

Die Volksmenge befand sich jetzt kaum noch fünfzig Schritte vom Hause und das Geschrei nahm immer mehr zu. Einige warfen Bridget Straßenkoth ins Gesicht; wüthende Hände streckten sich drohend nach ihr aus, und viele sammelten Steine von der Erde, um sie damit zu werfen.

Im nächsten Augenblick stand Clary neben Bridget und deckte diese mit ihren Armen, während die Menge desto heftiger heulte und ihr zurief:

»Das ist Bridget Morgaz!... Das ist das Weib des Simon Morgaz!... Zum Tode mit ihr!... Zum Tode!«

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge, welche sich schon zwischen die rasenden Leute hatten stürzen wollen, hielten plötzlich still. Bridget, die Gattin Simon Morgaz'!... Bridget trug diesen... diesen von Allen verfluchten Namen!

Clary unterstützte die Unglückliche, welche in die Knie gesunken war; deren Kleid war zerrissen und beschmutzt. Die weißen, jetzt wirr herabhängenden Haare verhüllten ihr Gesicht.

»Tödtet mich!... Tödtet mich! murmelte sie flehend.

– Unglücksel'ge! rief Clary, sich an die Nächststehenden wendend, welche sie bedrohten, Achtung vor dieser Frau!

– Vor der Frau des Verräthers Simon Morgaz'! heulten hundert wüthende Stimmen.[363]

– Ja... vor der Frau des Verräthers, erwiderte Clary so laut sie konnte, doch auch der Mutter Desjenigen...«

Sie wollte den Namen Johanns aussprechen, den Namen, der Bridget vielleicht allein zu schützen und zu retten vermochte.

Bridget aber, die sich noch einmal mit aller Kraft aufrichtete, flüsterte ihr zu:

»Nein, Clary, nein!... Aus Mitleid für meinen Sohn... aus Mitleid gegen sein Andenken!«

Und wiederum erschallten die Rufe lauter und wurden die Drohungen schlimmer. Die Menge war angewachsen und schien besessen von jenem unbesieglichen Wahnwitz, der oft zu den schrecklichsten Thaten treibt.

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge wollten versuchen, dem Volke sein Opfer zu entreißen, und einige Freunde derselben, welche den Tumult gehört, kamen ihnen bereits zur Hilfe. Vergebens versuchten sie aber Bridget, und mit dieser Clary, die sich an sie klammerte, zu befreien.

»Zum Tode!... Zum Tode mit dem Weibe Simon Morgaz'«! brüllten zahllose Stimmen.

Plötzlich erschien ein Mann unter der Menge, die er mit kraftvollem Arme theilte. Er entriß Bridget den Armen, welche schon geschwungen waren, ihr den Tod zu geben.

»Meine liebste Mutter!« rief der Mann.

Es war Johann ohne Namen, war Johann Morgaz!

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 352-364.
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