III. Die Sierra Nevada.

[20] Wie viele Leute nicht schon von einer nach Art der Gaukler in einem Coach-House gemachten Reise geträumt haben! Sich weder um die Hotels noch um die Schenken, die unzuverlässigen Betten oder die noch unzuverlässigere Küche kümmern zu müssen, wenn es sich darum handelt, ein kaum mit Flecken oder Dörfern besäetes Land zu durchstreifen! Was reiche Liebhaber gewöhnlich an Bord ihrer Vergnügungs-Yachten mit allen Vorteilen des beweglichen Heims ausführen, das haben wenige mittels eines Wagens ad hoc vollbracht. Und dennoch, ist der Wagen nicht das gehende Hauss Warum sind die Jahrmarktsbesucher die einzigen, welche den Genuß der »Navigation auf terra firma« kennen?

In der That ist der Wagen des Gauklers eine vollständige Wohnung mit Zimmern und Möbeln, ein rollendes »Heim«, und derjenige des Cäsar Cascabel entsprach den Anforderungen eines Nomadenlebens vollkommen.

Die Belle-Roulotte – denn der Wagen hatte seinen Namen so gut wie irgend ein normännischer Schoner, und Sie können mir glauben, daß er demselben auf seinen vielen verschiedenen Wanderungen durch die Vereinigten Staaten Ehre machte – die Belle-Roulotte war vor kaum drei Jahren von den ersten Ersparnissen der Familie angekauft worden und ersetzte seitdem den alten, mit einem einfachen Plan bedeckten und jeglicher Feder entbehrenden Leiterwagen, welcher der ganzen Truppe solange als Wohnung gedient. Da Herr Cascabel nun schon über zwanzig Jahre auf den Messen und Märkten der Union einherzog, ist es selbstverständlich, daß sein Gefährt amerikanischen Ursprungs war.

Die Belle-Roulotte ruhte auf vier Rädern. Mit guten stählernen Federn versehen, verband sie Leichtigkeit mit Solidität. Sorgfältig gehalten, abgeseift,[20] gerieben, gewaschen, ließ sie ihre grellfarbigen Wände glänzen, wo Goldgelb sich angenehm mit Scharlachrot verband, um den Blicken die bereits berühmte Gesellschaftsfirma Cäsar Cascabel darzubieten. Vermöge ihrer Länge hätte sie mit jenen Chariots wetteifern können, welche noch jetzt die Prairien des Far West befahren, dort, wo der Great-Trunk, die Eisenbahn von Newyork nach San Francisco, noch keine seiner Zweiglinien projektiert hat. Offenbar[21] konnten zwei Pferde dieses schwere Gefährt nur im Schritt ziehen. Die Last war in der That eine bedeutende. Abgesehen von ihren Bewohnern, trug die Belle-Roulotte auf ihrer oberen Galerie die Zeltleinwand mit Stangen und Seilen, und dann einen unter dem Wagengestell befestigten Hängekorb, der verschiedene Gegenstände, große Trommel, Handtrommel, Klapphorn, Posaune und andere Geräte und Requisiten enthielt, welche geradezu als die Werkzeuge des Gauklers zu betrachten sind. Verzeichnen wir auch die Kostüme zu einer berühmten Pantomime, »Die Räuber des Schwarzwaldes«, welche auf dem Repertoire der Familie Cascabel figurierte.


Wagram, Warengo, John Bull und Jako. (Seite 19.)
Wagram, Warengo, John Bull und Jako. (Seite 19.)

Die innere Einrichtung war durchaus zweckmäßig und dank Cornelien, welche in dieser Hinsicht keinen Spaß verstand, selbstverständlich von tadelloser, von vlamländischer Reinlichkeit.

Am äußersten Ende des Wagens befand sich eine mit Fenstern versehene Schiebthür, welche die erste, durch den Küchenherd geheizte Abteilung verschloß. Dann kam ein Wohn- oder Speisezimmer, in welchem die Wahrsagerei betrieben wurde; hierauf ein erstes Schlafzimmer, mit gleich den Schiffskojen über einander angebrachten Lagerstätten, wo, durch einen Vorhang getrennt, links die kleine Schwester, rechts die beiden Brüder schliefen; endlich, ganz vorn, die Stube des Herrn und der Frau Cascabel, in welcher die berühmte Handkasse neben dem mit dicken Matratzen und bunter gesteppter Decke belegten Bette einen Platz gefunden. In allen Ecken waren Bretter angebracht, die man aufstellen und herablassen und als Arbeits- oder Toilettentische benützen konnte, und schmale Schränke, in denen man die Kostüme, Perücken und Masken der Pantomime verwahrte. Das Ganze wurde von zwei Petroleumlampen erhellt, zwei echten Schiffslampen, welche auf unebenen Wegen zu balancieren verstanden; überdies ließ ein halbes Dutzend kleiner Fenster, deren Scheiben in Blei gefaßt und deren leichte Musselinvorhänge von bunten Bändern gehalten waren, das Tageslicht in die verschiedenen Abteilungen dringen und gab der Belle-Roulotte das Gepräge eines holländischen Flußschiffes.

Anspruchslos von Natur, schlief Clou-de-Girofle in der ersten Abteilung, in einer Hängematte, die er abends zwischen den beiden Seitenwänden aufspannte, und beim ersten Morgengrauen wieder herabnahm.

Bleibt noch zu erwähnen, daß die beiden Hunde Wagram und Marengo, in ihrer Eigenschaft als Nachtwächter, in dem Hängekorb unter dem Wagen schliefen, woselbst sie die Gegenwart des Affen John Bull trotz seiner ungestümen Natur und seiner Neigung zu mutwilligen Streichen duldeten; und daß der Papagei Jako in einem in der zweiten Abteilung hängenden Käfig untergebracht war.

Was die beiden Pferde, Gladiator und Vermout, betrifft, so hatten sie volle Freiheit, in der Umgebung der Belle-Roulotte zu grasen, ohne daß[22] man ihnen Spannstricke anzulegen brauchte. Und wenn sie das Gras jener weiten Prairien abgeweidet hatten, wo der Tisch stets gedeckt und das Lager stets bereitet ist, konnten sie sich auf dem Boden, der sie genährt, zur Ruhe legen.

Und das ist gewiß, daß die Belle-Roulotte vermöge der Flinten und Revolver ihrer Inwohner und der sie bewachenden Hunde nachts die vollste Sicherheit gewährte.

So war dieser Familienwagen beschaffen. Wie viele, viele, zahllose Meilen durch die Union, von Newyork bis Albany, vom Niagara bis Buffalo, Saint Louis, Philadelphia, Boston, Washington, längs des Mississippi bis New-Orleans, längs des Great-Trunk bis zu den Rocky-Mountains, ins Mormonenland und ins Innerste von Kalifornien er seit drei Jahren zurückgelegt hatte! Hygienische Reisen, wenn es je welche gegeben! Denn kein Mitglied der kleinen Truppe war jemals krank gewesen – mit Ausnahme von John Bull, dessen Indigestionen ebenso häufig waren, wie sein Instinkt ihm zur Befriedigung seiner unglaublichen Naschhaftigkeit verhalf.

Und welche Freude es sein würde, diese Belle-Roulotte nach Europa zu bringen, auf den Landstraßen des alten Festlandes umherzufahren! Welch sympathische Neugierde dieselbe auf der Fahrt durch Frankreich, durch die ländlichen Gegenden der Normandie erregen würde! Ah! Frankreich wiedersehen, »seine Normandie wiedersehen«, wie in dem berühmten Liede von Bérat dahin ging alles Denken, alles Sehnen Cäsar Cascabels!

Einmal in Newyork angelangt, mußte das Gefährt zerlegt, eingepackt und an Bord eines nach Havre gehenden Paketbootes geschafft werden; dann brauchte man es nur wieder zusammenzustellen, um die Reise nach der Hauptstadt darin anzutreten.

Wie ungeduldig Herr Cascabel, seine Frau, seine Kinder und ohne Zweifel auch ihre vierfüßigen Gefährten, oder besser gesagt, ihre vierfüßigen Freunde, die Stunde der Abreise erwarteten! So verließen sie denn den großen Platz von Sakramento beim ersten Morgengrauen am 15. Februar, die einen zu Fuß, die andern im Wagen, jeder nach eigenem Gutdünken.

Die Luft war noch sehr frisch, aber das Wetter war schön. Selbstverständlich hatte man sich nicht ohne Zwieback, das heißt ohne verschiedene Fleisch- und Gemüsekonserven, eingeschifft. Übrigens würde man sich in den Städten und Dörfern neuerdings verproviantieren können. Und dann gab es ja Wild; sind doch Büffel, Damhirsche, Hafen und Rebhühner in diesen Gegenden reichlich vertreten! Und würde Jean sich's doch nicht versagen, seine Flinte zu nehmen und gehörigen Gebrauch davon zu machen, da die Jagd auf den weiten Prairien des Far West weder verboten, noch ein Erlaubnisschein dazu erforderlich ist! Jean war nämlich ein geschickter Schütze und der Wachtelhund[23] Wagram zeichnete sich vor dem Pudel Marengo durch die Jagd betreffende Eigenschaften ersten Ranges aus.

Als sie Sakramento verließ, schlug die Belle-Roulotte eine nordöstliche Richtung ein. Es handelte sich darum, die Grenze auf dem kürzesten Wege zu erreichen und die Sierra Nevada etwa zweihundert Kilometer weit bis zum Senora-Passe zu überschreiten, welcher den Zutritt zu den endlosen Ebenen des Ostens vermittelt.

Es war noch nicht der eigentliche Far West, wo man nur in weiten Zwischenräumen auf einen kleinen Flecken stößt; es war nicht die Prairie mit ihren fernen Horizonten, ihren weiten Wüstenstrecken, ihren indianischen Nomaden, welche die Civilisation allmählich gegen die minder besuchten Regionen Nordamerikas zurückdrängt. Schon in nächster Nähe von Sakramento wurde die Gegend hügelig. Man spürte die Ausläufer der Sierra, die mit ihren von schwarzen Tannen beschatteten, hier und da von fünftausend Meter hohen Spitzen überragten Bergketten einen herrlichen Rahmen um Alt-Kalifornien zieht. Es ist eine grüne Grenze, welche die Natur jener Gegend gegeben, wo sie soviel, jetzt von der menschlichen Habgier entführtes Gold aufgespeichert hatte. Der von der Belle-Roulotte eingeschlagene Weg berührte selbstverständlich die bedeutenden Städte Jackson, Mocquetenne, Placerville, guter berühmte Vorposten von Eldorado und Calaveras. Aber Herr Cascabel hielt sich dort nur eben lange genug auf, um einige Einkäufe zu besorgen, oder sich hin und wieder eine ruhigere Nacht zu gönnen. Er hatte Eile, die Berge der Nevada, das Land um den großen Salzsee und den ungeheuren Wall der Rocky-Mountains zu überschreiten, wo sein Gespann keine leichte Aufgabe haben würde. Hernach würde der Wagen bis zum Erie- oder Ontariosee nur mehr die von den Pferdehufen und Chariots der Karawanen durch die Prairie gebahnten Wege zu verfolgen brauchen.

Indessen kam man auf diesen gebirgigen Gebieten nicht rasch vorwärts. Die Reise verzögerte sich durch unvermeidliche Umwege. Überdies hatte die letzte Kälte des Winters ihre volle Schärfe bewahrt, obgleich diese Gegend unter dem achtunddreißigsten Breitegrad liegt, demselben, der in Europa Sizilien und Spanien durchschneidet. Bekanntlich ist das Klima Nordamerikas infolge der Entfernung des Golfstromes – jener warmen Strömung, die sich nach ihrem Austritte aus dem Golf von Mexiko in schräger Richtung gegen Europa hinzieht – unter derselben Breite ungleich kälter, als das des alten Festlandes. Aber noch einige Wochen und Kalifornien würde wieder jenes vor allen anderen freigebige Land, jene fruchtreiche Mutter geworden sein, wo jedes Getreidekorn sich verhundertfacht, wo die verschiedenartigsten Produkte der tropischen und der gemäßigten Zone, Zuckerrohr, Reis, Tabak, Orangen, Oliven, Citronen, Ananas und Bananen sich im Überflusse vereinen.[24]

Es ist nicht das Gold, welches den Reichtum des kalifornischen Bodens bildet, sondern die aus ihm emporsprießende außerordentliche Vegetation.


In diesen Bergländern kam man nur langsam vorwärts. (Seite 24.)
In diesen Bergländern kam man nur langsam vorwärts. (Seite 24.)

»Wir werden uns nach diesem Lande zurücksehnen,« sagte Cornelia, die nicht gleichgültig gegen Küchenfreuden war.

»Näscherin!« versetzte Herr Cascabel.

»O, es ist nicht meinetwegen, sondern der Kinder wegen!«[25]

Mehrere Tage zogen sie längs der Wälder durch die grünenden Prairien dahin. So zahlreich auch die sich davon nährenden Wiederkäuer sein mochten, es gelang ihnen nicht, den Grasteppich abzunützen, den die Natur dort unaufhörlich erneut. Man kann die vegetabilische Kraft jenes kalifornischen Gebietes nicht genug betonen, welchem kein anderes vergleichbar ist. Es ist die Kornkammer des Stillen Oceans, und die Handelsflotten, die seine Produkte exportieren, vermögen es nicht zu erschöpfen. Die »Belle-Roulotte« hielt ihre gewohnte Fahrgeschwindigkeit inne, durchschnittlich sechs bis sieben Meilen pro Tag – nicht mehr. In dieser Weise hatte sie ihr Personal bereits in sämtlichen Bundesstaaten umhergeführt, wo der Name Cascabel von den Mississippimündungen bis Neu-England so vorteilhaft bekannt war. Damals hatte man freilich in jeder Stadt der Union Halt gemacht, um Einnahmen zu erzielen. Jetzt auf dieser Reise von Westen nach Osten, handelte es sich nicht mehr darum, die Bevölkerungen in Erstaunen zu setzen. Diesmal galt es keine artistische Rundreise, sondern die Rückkehr ins alte Europa, mit normännischen Gehöften am Horizont.

Die Fahrt ging so lustig von statten, daß manches feststehende Haus dies rollende um das darin enthaltene Glück beneiden konnte. Man lachte, man sang, man scherzte, und manchmal jagte das Klapphorn, mit dem der junge Xander wohl umzugehen wußte, die Vögel in die Flucht, die ebenso geschwätzig wie diese fröhliche Familie waren.

Das war nun alles recht schön und gut, aber Reisetage brauchen nicht notwendigerweise Ferientage zu sein.

»Kinder,« sagte Herr Cascabel wiederholt, »man darf sich darum doch nicht einrosten lassen!«

Und wenn man Halt machte, um dem Gespann Ruhe zu gönnen, so rastete die Familie nicht. Mehr als einmal eilten die Indianer herbei, um Jean seine Taschenspielerstückchen probieren, Napoleone einige anmutige Pas ausführen, Xander sich wie ein Kautschukwesen verrenken, Herrn Cascabel bauchrednerische Effekte erzielen und Frau Cascabel Kraftübungen anstellen zu sehen, derweil Jako in seinem Käfig plapperte, die Hunde zusammen arbeiteten und John Bull sich in Grimassen erschöpfte.

Bemerken wir indessen, daß Jean seine Studien unterwegs nicht vernachlässigte. Er las wiederholt die wenigen Bücher, aus welchen die Bibliothek der Belle-Roulotte bestand: ein wenig Geographie und Arithmetik und verschiedene Reisebeschreibungen; er führte auch ein »Logbuch«, in welchem er die Zwischenfälle der Navigation in äußerst anziehender Weise aufzeichnete.

»Du wirst zu gelehrt werden!« sagte sein Vater manchmal zu ihm. Aber schließlich, wenn du Geschmack daran findest!...«[26]

Und Herr Cascabel hütete sich, die Instinkte seines Erstgeborenen anzufeinden. Im Grunde waren seine Frau und er sehr stolz darauf, einen »Gelehrten« in der Familie zu haben.

Am Nachmittage des siebenundzwanzigsten Februar langte die »Belle-Roulotte« vor den Engpässen der Sierra Nevada an. Vier bis fünf Tage hindurch würde die schwierige Übersteigung der Bergkette große Anstrengungen verursachen. Es würde eine harte Aufgabe für Menschen und Tiere sein, die Abhänge zu ersteigen. Man würde sich auf den engen, geschlängelten Wegen, welche die Flanken der ungeheuren Schranke umwinden, gegen die Räder stemmen müssen. Obleich das Wetter sich unter den frühzeitigen Einwirkungen des kalifornischen Frühlings fortwährend milder gestaltete, würde das Klima doch auf einer gewissen Höhe noch ziemlich rauh sein. Nichts Furchtbareres als die Regengüsse, die entsetzlichen Schneewehen, die wütenden Windstöße am Eingang der Schluchten, wo der Sturm sich wie in einem Trichter fängt. Überdies ragen die oberen Pässe in die Zone des ewigen Schnees hinein und man muß nicht weniger als zweitausend Meter emporklimmen, bevor man jenseits in das Land der Mormonen hinabsteigen kann.

Übrigens gedachte Herr Cascabel dasjenige zu thun, was er schon früher bei ähnlichen Anlässen gethan: er würde in den Dörfern oder Gehöften des Gebirges Aushilfspferde und Männer, Indianer oder Amerikaner, zu deren Führung mieten. Das würde ohne Zweifel eine Mehrausgabe bilden, aber es war eine Notwendigkeit, wenn die Familie ihr eigenes Gespann nicht dienstunfähig machen wollte.

Am Abend des siebenundzwanzigsten war der Sonora-Paß erreicht. Die bisher durchzogenen Thäler hatten nur unbedeutende Terrainschwierigkeiten geboten und Vermout und Gladiator hatten dieselben denn auch ohne allzu große Anstrengungen überwunden; aber der gegenwärtigen Aufgabe wären sie nicht einmal unter Mithilfe des ganzen Personals gewachsen gewesen.

In kurzer Entfernung von einem in den Schluchten der Sierra versteckten Dörfchen wurde Halt gemacht. Es bestand nur aus wenigen Häusern und einem auf doppelte Schußweite gelegenen Gehöfte, in welches Herr Cascabel noch denselben Abend zu gehen beschloß. Er wollte für den folgenden Tag Vorspann bestellen, welcher Vermout und Gladiator willkommen sein würde.

Vor allem mußte man Vorkehrungen treffen, um die Nacht an dieser Stelle zu verbringen.

Sobald das Lager gewohnheitsgemäß organisiert worden, setzte man sich mit den Einwohnern des Dörfchens in Verbindung, welche gern bereit waren, Menschen und Tiere mit frischer Nahrung zu versehen.

An jenem Abend war keine Rede vom »Repetieren« der Übungen. Alle[27] waren am Ende ihrer Kräfte nach dem schweren Tage, denn man hatte einen großen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen müssen, um das Gespann zu schonen. Herr Cascabel gestattete denn auch eine vollständige Ruhe, welche auf den ganzen Nevada-Übergang ausgedehnt werden sollte.

Nachdem Herr Cascabel das Lager mit Herrscherblick gemustert, ließ er die Belle-Roulotte in der Obhut seiner Frau und Kinder zurück und schlug, von Clou begleitet, den Weg zu dem Gehöfte ein, dessen Schornsteine man durch die Bäume hindurch rauchen sah.

Jenes Gehöft war von einem Kalifornier und dessen Familie bewohnt, die den Gaukler gut aufnahmen. Der Landwirt verpflichtete sich, ihm am folgenden Tage drei Pferde und zwei Führer zur Verfügung zu stellen. Letztere sollten die Belle-Roulotte an die Stelle geleiten, wo die Abhänge sich gegen Osten zur Ebene hinabsenken; von dort würden sie mit dem Vorspann zurückkehren. Nur würde das einen hübschen Preis kosten.

Herr Cascabel erörterte diesen Preis als ein Mann, der sein Geld nicht zum Fenster hinauszuwerfen wünscht, und verstand sich schließlich zu einer Summe, welche den für diesen Teil der Reise bestimmten Kredit nicht überstieg.

Am folgenden Morgen um 6 Uhr erschienen die beiden Männer, und ihre drei Pferde wurden vor Vermout und Gladiator gespannt. Die Belle-Roulotte setze sich in Bewegung und bog in eine enge, stark bewaldete Schlucht ein. Gegen 8 Uhr waren jene wunderbaren Länderstrecken Kaliforniens, welche die Familie nicht ohne ein gewisses Bedauern verließ, an einer der Krümmungen des Engpasses vollständig hinter den Bergmassen der Sierra verschwunden.

Die drei Pferde des Landwirtes waren solide Tiere, auf die man schon bauen konnte. War das auch mit ihren Führern der Fall? Das schien zum mindesten zweifelhaft.

Es waren zwei starke Burschen, eine Art Mestizen, halb Indianer, halb Engländer. Ah! hätte Herr Cascabel das gewußt, wie schnell hätte er ihnen den Laufpaß gegeben!

Im ganzen genommen fand Cornelia ihr Aussehen verdächtig. Jean teilte die Ansicht seiner Mutter und Clou war derselben Meinung. Herr Cascabel schien nicht gut angekommen zu sein. Aber schließlich waren sie nur zu zweien und würden mit starken Gegnern zu thun haben, falls sie sich einer Übertretung schuldig machen wollten.

Was gefährliche Begegnungen in der Sierra betrifft, so waren dieselben nicht vorauszusehen. Die Straßen mußten in dieser Jahreszeit sicher sein. Die Zeit war vorüber, wo die kalifornischen Goldgräber, die sogenannten »Loafers« und »Rowdies«, sich mit aus allen Weltwinkeln gekommenen Missethätern[28] verbanden, um ehrlichen Leuten übel mitzuspielen. Das Lynchgesetz hatte sie schließlich zur Vernunft gebracht.

Indessen beschloß Herr Cascabel als vernünftiger Mann, auf seiner Hut zu sein.

Die auf dem Gehöft gemieteten Männer waren jedenfalls geschickte Fuhrleute. Der Tag verging denn auch ohne Unfall, und dazu mußte man sich vor allem anderen Glück wünschen. Das Brechen eines Rades oder einer Achse hätte die Bewohner der Belle-Roulotte, so fern von jeder menschlichen Wohnung, ohne die Möglichkeit, den Unfall zu reparieren, in die größte Verlegenheit versetzt.

Der Paß bot damals einen äußerst wilden Anblick. Keine andere Vegetation als schwärzliche Fichten und das den Boden bedeckende Moos. Hie und da vermehrten ungeheuere Felsmassen die Krümmungen des Weges, besonders längs eines Nebenflusses des Walkner, der aus dem See dieses Namens floß und sich tosend in tiefe Abgründe stürzte. In blauer Ferne ragte der Castle-Peak in die Wolken hinein und beherrschte die übrigen, pittoresk aus der Nevadakette emporstrebenden Gipfel.

Gegen fünf Uhr abends, als die Tiefen der engen Schlucht sich bereits in Schatten hüllten, hatte man eine scharfe Biegung zu überwinden. Der Weg war an dieser Stelle so steil, daß es notwendig wurde, den Wagen teilweise zu entlasten und den Hängekorb sowie die meisten auf der oberen Galerie untergebrachten Gegenstände einstweilen zurückzulassen.

Jedermann legte Hand an und man muß gestehen, daß die beiden Führer bei dieser Gelegenheit großen Eifer bewiesen. Herr Cascabel und die Seinigen kamen denn auch in Bezug auf diese Leute ein wenig von ihrem ersten Eindrucke zurück. Übrigens würde ja der höchste Punkt des Engpasses binnen zwei Tagen erreicht sein; dann ging es wieder bergab und der Vorspann kehrte in das Gehöft zurück.

Als ein Rastplatz gewählt war und während die Fuhrleute sich mit ihren Pferden beschäftigten, gingen Herr Cascabel, seine Söhne und Clou zurück, um die unterhalb des Abhanges gelassenen Gegenstände zu holen.

Ein gutes Nachtmahl beschloß diesen Tag und man dachte nur mehr daran, sich auszuruhen.

Herr Cascabel bot den Führern Schlafstätten in einer der Abteilungen der Belle-Roulotte an; aber sie dankten ihm mit der Versicherung, daß der Schutz der Bäume ihnen genügen werde. In große Decken gehüllt, würden sie im Freien besser über die Pferde ihres Herrn wachen können.

Wenige Sekunden später war das Lager in tiefen Schlaf versunken.

Am folgenden Morgen war alles beim ersten Tagesscheine auf den Beinen.


Herr Cascabel stürzte hinaus und rief: »Gestohlen!« (Seite 31.)
Herr Cascabel stürzte hinaus und rief: »Gestohlen!« (Seite 31.)


[29] Herr Cascabel Jean und Clou, welche die Belle-Roulotte zuerst verließen, begaben sich nach der Stelle, wo Gladiator und Vermout am vorigen Abend eingepfercht worden.

Beide waren dort; aber die drei Pferde des Landwirts waren verschwunden.[30]

Da sie nicht weit sein konnten, ging Jean, um die Führer auf die Suche nach ihnen zu senden; aber die beiden Männer waren nicht mehr im Lager.

»Wo sind sie nur?« sagte er.

»Wahrscheinlich,« antwortete Herr Cascabel, »laufen sie ihren Pferden nach.«

»Holla!... Holla!...« rief Clou mit scharfer Stimme, die in großer Entfernung hörbar sein mußte.

Er erhielt keine Antwort.

Neue Rufe, welche Herr Cascabel und Jean aus vollem Halse ausstießen.

Die Führer erschienen nicht.

»Sollten wir uns doch nicht über ihr Aussehen getäuscht haben?« rief Herr Cascabel.

»Warum hätten die Leute uns verlassen?« fragte Jean.

»Weil sie uns irgend einen schlimmen Streich gespielt haben!«

»Welchen denn?«

»Welchen?... Warte!... Wir werden es gleich wissen!...«

Und von Jean und Clou gefolgt, kehrte er laufend zu der Belle-Roulotte zurück.

Auf den Tritt springen, die Thür aufschieben, sich durch die Abteilungen in das letzte Gelaß stürzen, wo die kostbare Handkasse untergebracht worden, das war für ihn das Werk einer Sekunde; dann erschien er wieder und schrie:

»Gestohlen!«

»Die Handkasse?« fragte Cornelia.

»Ja, von diesen Schuften gestohlen!«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 20-31.
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