V. Die Liakhoff-Inseln.

[220] Im nördlichen Eismeere befinden sich drei Inselgruppen, welche unter dem allgemeinen Namen »Neusibirien« bekannt sind und aus den Long-, den Anjou- und den Liakhoff-Inseln bestehen. Der letztere, dem asiatischen Festlande am nächsten gelegene Inselkomplex erstreckt sich zwischen dem dreiundsiebzigsten Grad und fünfundsiebzigsten Grad nördlicher Breite und dem einhundertfünfunddreißigsten Grad und einhundertvierzigsten Grad östlicher Länge insgesamt über einen Raum von neunundvierzigtausend Quadratkilometer und umfaßt unter andern die Kotelnii-, die Blinii-, die Malii- und die Belkoff-Insel.

Unfruchtbare Gebiete; kein Baum, kein Bodenprodukt, kaum ein schwacher Ansatz zur Vegetation während der wenigen Sommerwochen; nichts als seit der geologischen Formationsperiode angehäufte Walfisch- und Mammutknochen, eine Unmasse fossiles Holz – so sind die neusibirischen Inseln beschaffen.

Die Liakhoff-Inseln wurden zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts entdeckt.

Es war auf Kotelnii, der bedeutendsten und am südlichsten gelegenen Insel der Liakhossgruppe, daß die Belle-Roulotte nach einer Eisfahrt von vierzig Tagen, in denen sie eine Strecke von sechs- bis siebenhundert Meilen zurückgelegt hatte, gelandet war. Im Südwesten, an der sibirischen Küste, öffnete sich die weite Lenabucht, ein breiter Einschnitt, durch welchen die Wasser der Lena, eines der bedeutendsten Ströme Nordasiens, sich ins nördliche Eismeer ergießen.

Wie man sieht, ist diese Liakhossgruppe die Ultima Thule der Polar-Region unter diesen Längegraden. Jenseits derselben haben die Seefahrer bis an die unübersteigliche Grenze der Eisbarriere kein Land mehr erblickt. Fünfzehn Breitegrade höher hinauf liegt der Nordpol. Die Schiffbrüchigen waren also an die Grenzen der Welt getrieben worden, wenngleich sie sich unter einem minder hohen Breitegrad befanden, als es die Grade sind, unter welchen Spitzbergen und die nördlichsten Gegenden Amerikas liegen.

Im ganzen genommen hatte die Familie Cascabel, wenn ihr Weg auch ein viel nördlicherer als der anfangs geplante gewesen war, sich beständig dem europäischen Rußland genähert. Die seit der Abfahrt von Port-Clarence zurückgelegten Hunderte von Meilen hatten ihr weniger Anstrengung als Gefahr bereitet. Die Eisfahrt, die sie unter den gegebenen Verhältnissen gemacht, hatte ihr eine Reise durch Gegenden erspart, welche während des[220] Winters fast unüberwindliche Schwierigkeiten boten. Und vielleicht würde man keinen Grund zur Klage gehabt haben, wenn ein letztes Mißgeschick Herrn Sergius und seine Gefährten nicht in die Gewalt der Liakhoff-Insulaner gebracht hätte. Würden sie ihre Freiheit bewahren, oder dieselbe später wieder zu erlangen vermögen? Das war zweifelhaft. Jedenfalls würden sie es bald erfahren, und wenn sie in dieser Hinsicht aufgeklärt waren, würde es noch immer Zeit sein, einen den Umständen entsprechenden Plan zu schaffen.

Die Kotelnii-Insel ist von einem Stamm finnischen Ursprungs bewohnt, der, Weiber und Kinder mit eingerechnet, zweihundertfünfzig bis dreihundert Seelen zählt. Diese Eingeborenen sind von widerlichem Äußern und gehören zu den am wenigsten civilisierten Völkerschaften des Küstengebietes, den Tschuktschen, Jukaghiren und Samojeden. Ihre Götzenverehrung spottet jeder Beschreibung, trotz der aufopfernden Bemühungen der Herrnhuter Missionäre, welche den grenzenlosen Aberglauben und die räuberischen Instinkte der Neusibirier nimmer zu besiegen vermochten.

Die Hauptindustrie auf den Liakhoff-Inseln bildet der Fang der in diesen Seestrichen sehr zahlreichen Walfische und die Seehundsjagd, die hier fast ebenso ausgiebig wie auf der Beringinsel während der heißen Jahreszeit ist.

Der neusibirische Winter ist außerordentlich rauh und kalt. Die Eingeborenen wohnen oder verkriechen sich vielmehr in dunklen Löchern, die sie sich in die Schneemassen graben. Diese Löcher sind manchmal in Stuben abgeteilt, in denen es nicht schwer fällt, eine ziemlich hohe Temperatur zu erhalten. Was man hier brennt, ist fossiles, der Steinkohle ähnliches Holz, von dem sich auf diesen Inseln beträchtliche Lager vorfinden, abgesehen von den Walfischknochen, die ebenfalls als Brennmaterial benützt werden. Eine im Dache dieser Troglodytenhöhlen angebrachte Öffnung dient dem Rauche der äußerst primitiven Feuerstätten zum Ausgang. Auf den ersten Anblick scheint die Schneefläche über solchen Wohnungen Dämpfe emporzusenden wie eine Solfatara.

Was die Nahrung der Eingeborenen betrifft, so bildet das Fleisch von Renntieren deren Hauptbestandteil. Diese Wiederkäuer werden auf den Inseln und Inselchen der Liakhossgruppe in großen Rudeln gehegt. Auch die Elentiere dienen vielfach zur Nahrung; desgleichen die getrockneten Fische, von denen man einen großen Vorrat für den Winter aufzuspeichern pflegt. Auf diese Weise haben die Neusibirier keine Hungersnot zu fürchten.

Damals herrschte gerade ein Häuptling über die Liakhoff-Inseln, der sich Tschu-Tschuk nannte und bei seinen Unterthanen eines unbestrittenen Ansehens genoß. Einer absolutistisch-monarchischen Herrschaft unterworfen, weichen diese Eingeborenen wesentlich von den Eskimos Russisch-Amerikas ab, die in einer Art republikanischer Freiheit und Gleichheit leben. Auch stehen sie auf einer[221] viel niedrigeren Stufe hinsichtlich ihrer wilden Sitten und unwirtlichen Gebräuche, über welche die Walfischfänger sich häufig zu beklagen haben. Ja! man würde mit herzlichem Bedauern an sie zurückdenken, die wackeren Leute von Port-Clarence!

Soviel ist gewiß, die Familie Cascabel hätte nicht schlechter ankommen können. Nach der Katastrophe in der Beringstraße gerade auf die Liakhoff-Inseln zuzutreiben und jenen so gar nicht gastfreundlichen Stämmen in die Hände zu fallen, das hieß wirklich alle Grenzen des Mißgeschicks überschreiten!

Herr Cascabel verbarg denn auch nicht seine Enttäuschung, als er sich von etwa hundert Eingeborenen umringt sah, welche die Schiffbrüchigen, die der Zufall der Reise in ihre Gewalt gab, heulend und gestikulierend bedrohten.

»He! was wollen sie denn, diese Affen?« schrie er, indem er die ihn am nächsten Bedrängenden zurückstieß.

»Uns ergreifen, Vater,« antwortete Jean.

»Sonderbare Manier, Gäste zu empfangen!... Haben sie etwa Lust, uns zu verspeisen?...«

»Nein; aber sehr wahrscheinlich beabsichigten sie, uns auf ihrer Insel gefangen zu halten!«

»Gefangen?...«

»Ja, wie sie es bereits mit zwei Matrosen gemacht haben, die vor uns hierher verschlagen wurden...«

Jean hatte keine Zeit zu ausführlichen Erklärungen. Ein Dutzend Eingeborener faßten Herrn Sergius und seine Gefährten bei den Armen. Wohl oder übel mußte man sich mit denselben in das Dorf Turkef, eigentlich die Hauptstadt der Inselgruppe, begeben.

Unterdessen brachen einige zwanzig andere nach der Belle-Roulotte auf, deren seine Rauchsäule noch eben im dämmerigen Osten sichtbar war. Eine Viertelstunde später hatten die Gefangenen Turkef erreicht und wurden in das Innere einer geräumigen Höhle unterm Schnee geführt.

»Ohne Zweifel der Kerker des Ortes!« bemerkte Herr Cascabel, sobald man sie allein gelassen und sie sich um das in der Mitte des Raumes angezündete Feuer versammelt hatten.

Und nun mußten vor allem Jean und Kayette ihre Erlebnisse erzählen. Die Scholle, auf der sie zwischen den Eisbergen verschwunden, war in westlicher Richtung weitergetrieben... Jean hielt die junge Indianerin in seinen Armen, aus Furcht, daß sie durch die Stöße zu Boden geschleudert werden könnte... Sie hatten keine Lebensmittel, sie würden Stunde um Stunde obdachlos sein, aber sie waren doch wenigstens beisammen... An einander geschmiegt, würden sie vielleicht weder Kälte noch Hunger spüren... Die Nacht brach an... Wenn sie sich auch nicht sehen konnten, so hörten sie sich doch...


Die Stunden vergingen in beständigem Bangen. (Seite 222.)
Die Stunden vergingen in beständigem Bangen. (Seite 222.)

[222] Die Stunden vergingen in beständigem Bangen. (Seite 222.)


Die Zeit verrann unter immerwährender Todesangst, da das Meer sie jeden Augenblick verschlingen konnte... Dann erschienen die bleichen Schimmer des Tages wieder, und fast gleichzeitig stießen sie an das Eisfeld... Jean und Kayette wagten sich auf die ungeheure Eisfläche; sie schritten lange vorwärts, bis sie die Kotelnii-Insel erreichten und den Eingeborenen in die Hände fielen.[223]

»Und du sagst, Jean,« fragte Herr Sergius, »daß sie hier noch andere Schiffbrüchige gefangen halten?«

»Ja, Herr Sergius,« antwortete Jean.

»Ihr habt sie gesehen?«

»Nein, Herr Sergius,« erwiderte Kayette, »aber ich verstand die Eingeborenen, da sie russisch sprechen, und sie erwähnten zweier Matrosen, die in ihrem Dorfe zurückgehalten werden.«

In der That ist das Idiom der nordsibirischen Stämme das Russische, und so würde Herr Sergius sich mit den Liakhoff-Insulanern verständigen können. Aber was stand von diesen Räubern zu hoffen, die, aus den ziemlich volkreichen Provinzen an den Flußmündungen verdrängt, sich auf die neusibirischen Inseln zurückgezogen haben, wo die moskowitische Verwaltung keine Macht über sie besitzt.

Herr Cascabel war ganz außer sich seit seiner Gefangennehmung. Er sagte sich, nicht ohne Grund, daß die Belle-Roulotte von diesen Schurken entdeckt, geplündert, vielleicht gar zerstört werden würde. In der That, es war kaum der Mühe wert, dem Eisbruch in der Beringstraße zu entrinnen, um diesem »Polarge sindel« in den Weg zu laufen!

»Höre, Cäsar,« sagte Cornelia zu ihm; »beruhige dich!... Es hilft nichts, sich aufzuregen!... Schließlich hätte uns noch Ärgeres begegnen können!«

»Ärgeres... Cornelia?«

»Ohne Zweifel, Cäsar! Was würdest du sagen, wenn wir Jean und Kayette nicht wiedergefunden hätten? Nun, sie sind beide hier, und wir sind alle, alle am Leben!... Denke an die Gefahren, denen wir ausgesetzt waren und denen wir entronnen sind... es ist ja ein Wunder!... So denke ich denn, statt mit der Vorsehung zu hadern, solltest du ihr danken...«

»Ich danke ihr auch, Cornelia, ich danke ihr aus dem Grunde meines Herzens! Aber darum wird es mir doch wohl gestattet sein, dem Teufel zu fluchen, der uns jenen Lumpen in die Hände gespielt hat!... Sie sehen ja mehr wie Tiere als wie Menschen aus!«

Und Herr Cascabel hatte recht, aber Cornelia hatte darum nicht unrecht. Von den Inwohnern der Belle-Roulotte fehlte keiner. Genau so, wie sie Port-Clarence verlassen hatten, sahen sie sich jetzt im Dorfe Turkef beisammen.

»Jawohl... in einem Iltis- oder Maulwurfsloche!« murmelte Herr Cascabel. »Eine Grube, welche ein einigermaßen wohlgeleckter Bär um keinen Preis zur Höhle haben möchte!«

»Ach... aber Clou?« schrie Xander auf.

In der That, was war aus dem wackeren Burschen geworden? Man[224] hatte ihn zum Schutze der Belle-Roulotte zurückgelassen. Hatte er das Eigentum seines Herrn mit Lebensgefahr zu verteidigen gesucht?... Befand er sich jetzt in der Gewalt der Wilden?

Nun Xander seine Familie an Clou-de-Girofle erinnert hatte, sagte Cornelia:

»Und Jako!...«

»Und John Bull!...« sagte Napoleone.

»Und unsere Hunde!« fügte Jean hinzu.

Selbstverständlich galt ihre Besorgnis vor allen Clou-de-Girofle. Der Affe, der Papagei, Wagram und Marengo kamen erst in zweiter Reihe.

In diesem Augenblick erscholl draußen Lärm. Es war ein Durcheinander von Flüchen und Hundegebell. Gleich darauf wurde der Verschluß der Höhle heftig aufgerissen. Herein stürzten Wagram und Marengo und hinter ihnen erschien Clou-de-Girofle.

»Da bin ich, Herr Direktor,« schrie der arme Teufel, »wenn es nicht etwa jemand anderes ist... denn ich weiß gar nicht mehr, woran ich bin!«

»Du bist genau ebenso daran wie wir,« antwortete Herr Cascabel, ihm die Hand drückend.

»Und die Belle-Roulotte?« fragte Cornelia lebhaft.

»Die Belle-Roulotte?...« antwortete Clou. »Ei nun, diese Gentlemen haben sie unterm Schnee entdeckt, sich wie Tiere davor gespannt und sie in ihr Dorf gezogen.«

»Und Jako?« sagte Cornelia.

»Jako ebenfalls.«

»Und John Bull?...« fiel Napoleone ein.

»John Bull desgleichen!«

Schließlich, wenn die Familie Cascabel in Turkef zurückgehalten wurde, so war es besser, daß auch das rollende Haus sich dort befinde, wenngleich es von Plünderung bedroht war.

Indessen begann der Hunger sich fühlbar zu machen, und die Eingeborenen schienen sich nicht um die Ernährung ihrer Gefangenen zu kümmern. Zum großen Glücke hatte der umsichtige Clou die Vorsicht gehabt, seine Taschen mit Lebensmitteln zu versehen. Er zog einige Büchsen mit Konserven hervor, welche vorderhand hinreichen würden. Dann rollten sich alle in ihre Pelze und schliefen so gut es ging in einer Atmosphäre, welche der Rauch des Herdfeuers fast unatembar machte.

Am nächsten Morgen – fünften Dezember – wurden Herr Sergius und seine Gefährten aus ihrem Gelasse hervorgezogen; es war ihnen eine unaussprechliche Erleichterung, sich in frischer Luft zu befinden, wenngleich die Kälte äußerst streng war.[225]

Man führte sie vor den Häuptling.

Dieser Potentat, ein Mann von listiger und nicht eben anziehender Physiognomie, hatte eine Art unter irdischer Wohnung inne, welche geräumiger und bequemer als die Erdnester seiner Unterthanen war. Diese Hütte war in den Fuß eines großen, felsigen Hügels gegraben, der in Schnee gehüllt war und dessen Gipfel ziemlich genau dem Kopfe eines Bären glich.

Tschu-Tschuk mochte etwa fünfzig Jahre zählen. Sein glattes, von kleinen, funkelnden Äuglein erhelltes Gesicht bekam durch die scharfen Fangzähne, die seine Lippe hinauszogen, etwas sozusagen tierisches. Auf einem Pelzhaufen sitzend, in Renntierfell gekleidet, Stiefel aus Seehundsleder an den Füßen und eine Pelzmütze auf dem Kopfe, wiegte er sich langsam hin und her.

»Sieht der wie ein alter Gauner aus!« murmelte Herr Cascabel.

Zu seinen Seiten standen zwei, drei Vornehme des Stammes. Draußen harrten etwa fünfzig Eingeborene, die ungefähr ebenso wie ihr Häuptling gekleidet waren und deren Geschlecht in der einförmigen Tracht der neusibirischen Männer und Frauen nicht zu unterscheiden war.

Tschu-Tschuk wandte sich zuerst zu Herrn Sergius, dessen Nationalität er zweifelsohne erraten hatte und fragte ihn in sehr verständlichem Russisch:

»Wer bist du?«

»Ein Unterthan des Zars,« antwortete Herr Sergius in der Hoffnung, daß dieser kaiserliche Titel vielleicht Eindruck auf den Inselherrscher machen werde.

»Und diese da?« fuhr Tschu-Tschuk fort, auf die Mitglieder der Familie Cascabel deutend.

»Franzosen!« antwortete Herr Sergius.

»Franzosen?...« wiederholte der Häuptling.

Und es schien, daß er nie etwas von einem Volke oder einem Stamme dieses Namens gehört habe.

»Nun ja!... Franzosen... Franzosen... aus Frankreich, Canaille!« rief Herr Cascabel.

Aber er sagte das in seiner eigenen Sprache und mit der Freimütigkeit eines Mannes, welcher die Gewißheit hat, nicht verstanden zu werden.

»Und jene dort?« fragte Tschu-Tschuk, auf Kayette deutend, denn es war ihm nicht entgangen, daß das junge Mädchen von fremdartiger Rasse sein müsse.

»Eine Indianerin,« antwortete Herr Sergius.

Und nun entwickelte sich ein ziemlich lebhaftes Gespräch zwischen Tschu-Tschuk und ihm – ein Gespräch, dessen Hauptinhalt Herr Sergius der Familie Cascabel verdolmetschte.[226]

Schließlich ergab sich aus diesem Gespräche, daß die Schiffbrüchigen sich als Gefangene zu betrachten hätten und solange auf der Kotelnii-Insel bleiben müßten, bis sie ein Lösegeld von dreitausend Rubel in guter russischer Münze erlegten.

»Und wo will er, daß wir die hernehmen, dieser Polarbär?« rief Herr Cascabel. »Die Lumpen haben sicher alles gestohlen, was noch von Ihrem Gelde übrig war, Herr Sergius!...«


Sie wurden vor den Häuptling geführt. (Seite 226.)
Sie wurden vor den Häuptling geführt. (Seite 226.)

Tschu-Tschuk gab ein Zeichen und die Gefangenen wurden hinausgeführt. Man gestattete ihnen, frei im Dorfe umherzugehen, unter der Bedingung, daß sie sich nicht daraus entfernen würden; und sie gewahrten vom ersten Tage an, daß man sie sorgfältig bewachte. Übrigens wäre es ihnen um diese Jahres, zeit, im tiefsten Winter, sowieso unmöglich gewesen, sich auf das Festland hinüber zu flüchten.

Herr Sergius und seine Gefährten hatten sich sofort zur Belle-Roulotte begeben. Dort drängte sich eine dichte Menge in hellem Entzücken um John Bull, der sie mit seinen prächtigsten Grimassen regalierte. Da sie nie einen Affen gesehen hatten, bildeten sie sich wahrscheinlich ein, daß dieses vierhändige rothaarige Geschöpf zur menschlichen Rasse gehöre.

»Gehören sie doch dazu!« bemerkte Cornelia.

»Jawohl... und gereichen ihr zur Schande!« versetzte Herr Cascabel.

Dann besann er sich.

»Ich habe sogar unrecht gehabt,« fügte er hinzu, »diese Wilden Affen zu nennen! Sie stehen denselben in jeder Hinsicht nach und ich bitte dich deshalb um Verzeihung, mein kleiner John Bull!«

John Bull bedankte sich mit einem Purzelbaum. Aber als einer der Eingeborenen seine Hand ergreifen wollte, biß er ihn bis aufs Blut.

»Bravo, John Bull!... Beiße sie!... Beiße sie gehörig!« rief Xander.

Indessen hätte die Sache ein schlimmes Ende für den Affen nehmen können und sein Biß wäre ihm vielleicht teuer zu stehen gekommen, wenn die Aufmerksamkeit der Wilden nicht durch Jakos Erscheinen abgelenkt worden wäre, dessen Käfig man geöffnet hatte und der gravitätisch einherwatschelte.

In Neusibirien waren die Papageien ebensowenig bekannt wie die Affen. Nie hatte man einen Vogel dieser Art erblickt, einen Vogel mit solch buntem Gefieder, solch runden, schneebrillenförmigen Augen und so hakenartig gekrümmtem Schnabel.

Und welchen Eindruck Jako erst machte, als einige deutlich artikulierte Worte aus seinem Schnabel erklangen! Das ganze Repertoire des gesprächigen Vogels wurde erschöpft – zum starren Erstaunen der Eingeborenen. Ein redender Vogel!... Abergläubisch wie sie waren, warfen sie sich so erschrocken[228] zur Erde, als ob diese Worte aus dem Munde ihrer Götzen gekommen wären. Und Herr Cascabel belustigte sich damit, seinen Papagei anzueifern.

»Nur zu, Jako!« rief er ermunternd. »Geniere dich nicht, Jako; sag diesen Dummköpfen deine Meinung!«

Und Jako gehorchte mit Vergnügen. Und er stieß ein solches Trompetengeschmetter aus, daß die Eingeborenen mit den Zeichen des größten Schreckens davonliefen. Wie herzlich da die »Familie«, wie ihr berühmtes Oberhaupt sie nannte, trotz ihrer Besorgnisse lachte!

»Ja!... ja!« sagte Herr Cascabel, ein wenig von seiner guten Laune wiederfindend; »es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingen sollte, mit dieser Herde von Einfaltspinseln fertig zu werden!«

Die Gefangenen waren allein geblieben, und da Tschu-Tschuk die Belle-Roulotte zu ihrer Verfügung zu lassen schien, konnten sie nichts besseres thun, als sich wieder in ihrer alten Wohnung zu installieren. Ohne Zweifel fanden die Neusibirier, daß dieselbe sich nicht mit ihren Löchern unterm Schnee messen könne.

Um die Wahrheit zu sagen, waren nur einige Gegenstände von geringerer Bedeutung aus dem Gefährt geraubt worden, aber auch das noch übrige Geld des Herrn Sergius, – eine Beute, welche Herr Cascabel nicht gesonnen war, selbst in der Form eines Lösegeldes fahren zu lassen. Einstweilen konnte man von Glück sagen, daß man den Salon, das Speisezimmer, die Schlafkammern der Belle-Roulotte wieder bewohnen durfte, statt sich in den ungesunden Raubtierhöhlen von Turkef aufhalten zu müssen. Von der Einrichtung fehlte nichts. Bettzeug, Küchengeräte und Konservenvorrat schienen nicht das Glück gehabt zu haben, den eingeborenen Herren und Damen zu gefallen. Wenn man, einer Gelegenheit zur Flucht harrend, auf der Kotelnii-Insel überwintern mußte, nun, so hatte man während der Zeit wenigstens ein freundliches Obdach.

Da man sie unbehindert gehen und kommen ließ, beschlossen Herr Sergius und seine Gefährten, sich mit den beiden Matrosen in Verbindung zu setzen, welche ein Schiffbruch auf die Liakhoff-Inseln verschlagen haben mochte. Vielleicht konnten sie irgend eine Verabredung mit denselben treffen, um Tschu-Tschuks Aufmerksamkeit zu täuschen und, sobald die Umstände sich günstiger anließen, die Flucht zu bewerkstelligen.

Man verwendete den Rest des Tages darauf, im Innern der Belle-Roulotte wieder alles an Ort und Stelle zu bringen. Ein tüchtiges Stück Arbeit! Und wie Cornelia, die ordnungliebende Hausfrau, sich ärgerte! Kayette, Napoleone und Clou-de-Girofle hatten bis zum späten Abend die Hände voll zu thun.[229]

Nebenbei ist zu bemerken, daß Herr Cascabel, seitdem er bei sich beschlossen, Seiner Majestät Tschu-Tschuk einen schlimmen Streich zu spielen, all seine frühere, durch die letzten Schicksalsschläge so hart mitgenommene gute Laune wiedererlangt hatte.

Am nächsten Morgen machten Herr Sergius und er sich auf die Suche nach den beiden Matrosen. Letztere genossen vermutlich derselben Freiheit, welche man den neuen Ankömmlingen ließ. Sie waren in der That nicht eingekerkert und die Begegnung fand vor dem Eingang des von ihnen bewohnten Gelasses am äußersten Ende des Dorfes statt, ohne den geringsten Widerstand seitens der Eingeborenen hervorzurufen.

Diese Matrosen, von denen der eine fünfunddreißig, der andere vierzig Jahre zählte, waren moskowitischen Ursprungs. Ihre zerfetzten Pelzhüllen und Seemannskleider, ihre durch Hunger und Kälte verzerrten, hohläugigen Gesichter und langen, wirren Haare und Bärte gaben ihnen ein sehr elendes Aussehen. Trotzdem waren es gesunde, kräftig gebaute Männer, die gelegentlich tüchtige Dienste zu leisten vermocht hätten. Indessen schienen sie nicht sehr geneigt, mit den Fremden, deren Ankunft auf der Kotelnii-Insel sie bereits erfahren hatten, in Verbindung zu treten. Und doch hätte die Gleichheit ihrer Lage, der gemeinsame Wunsch, sich mit vereinten Kräften daraus zu befreien, sie der Familie Cascabel näher bringen müssen.

Herr Sergius redete die beiden Männer auf russisch an. Der ältere erklärte Ortik zu heißen, der jüngere Kirschef. Nach einigem Zaudern ließen sie sich herbei, ihre Geschichte zu erzählen.

»Wir sind Matrosen aus der Hafenstadt Riga,« sagte Ortik. »Vor einem Jahre schifften wir uns an Bord des Walfischfahrers »Seraski« ein, um dem Fange im nördlichen Eismeer obzuliegen. Zum Unglück vermochte unser Schiff zu Ende der günstigen Jahreszeit die Beringstraße nicht rechtzeitig zu erreichen, sondern blieb im Eise stecken, welches es nördlich von den Liakhoff-Inseln zertrümmerte. Die ganze Mannschaft, mit Ausnahme von Kirschef und mir, ging zu Grunde. Wir waren in ein Boot gesprungen und der Sturm schleuderte uns auf die neusibirischen Inseln, wo wir in die Gewalt der Eingeborenen gerieten.«

»Um welche Zeit?« fragte Herr Sergius.

»Vor zwei Monaten!«

»Und was für einen Empfang hat man Ihnen bereitet?«...

»Zweifellos einen ähnlichen wie Ihnen,« antwortete Ortik. »Wir sind die Gefangenen Tschu-Tschuks und er will uns nur gegen ein Lösegeld entlassen...«

»Und woher sollen wir eines nehmen?« warf Kirschef ein.

Ortik fügte in ziemlich rauhem Tone hinzu:[230]

»Wenn Sie nicht etwa Geld haben... für sich und für uns... denn wir sind Landsleute, wenn ich nicht irre?...«

»Das sind wir,« antwortete Herr Sergius. »Aber das Geld, das wir besaßen, ist von den Eingeborenen gestohlen worden, und wir sind so völlig von Hilfsmitteln entblößt, wie Sie es nur immer sein können!«

»Um so schlimmer!« versetzte Ortik.

Darauf schilderten die beiden ihre Lebensweise. Jene enge, dunkle Höhle diente ihnen zur Wohnung und man ließ ihnen eine gewisse Freiheit, bewachte sie aber doch. Ihre Kleidung war zersetzt und sie hatten keine andere Nahrung als die gewöhnliche Nahrung der Eingeborenen, die ihnen kaum genügte. Im übrigen glaubten sie, daß die Überwachung beim Anbruch der milderen Jahreszeit, wo ein Entweichen möglich wäre, viel schärfer werden würde.

»Da man sich dann bloß eines Fischerkanoes zu bemächtigen braucht, um das Festland zu gewinnen. so werden die Eingeborenen sicher mißtrauischer werden und uns vielleicht gar einsperren...«

»Aber die mildere Jahreszeit,« antwortete Herr Sergius, »die bricht erst in vier bis fünf Monaten an; wenn wir bis dahin gefangen bleiben...«

»Also haben Sie ein Mittel zu entkommen?...« fragte Ortik lebhaft.

»Augenblicklich noch nicht,« antwortete Herr Sergius. »Inzwischen ist es ganz natürlich. daß wir einander zu helfen suchen. Sie scheinen viel gelitten zu haben, meine Freunde, und wenn wir Ihnen nützlich sein können...«

Die beiden Matrosen dankten Herrn Sergius mit einer gewissen Zurückhaltung. Wenn er ihnen von Zeit zu Zeit etwas bessere Nahrung zukommen lassen wolle, so würden sie ihm erkenntlich sein. Sonst verlangten sie nichts, wenn man ihnen nicht etwa einige Decken schenken wolle. Aber mit den Neuangekommenen beisammen wohnen, nein! Sie zogen es vor, in ihrem Loche zu bleiben. Indessen versprachen sie, die Familie zu besuchen.

Herr Sergius und Herr Cascabel, der hin und wieder etwas von dem Gespräche verstanden hatte, verabschiedeten sich von den beiden Matrosen. Wenngleich die Physiognomie dieser Leute keine sehr sympathische war, so war das kein Grund, ihnen nicht beizustehen. Schiffbrüchige sind einander Hilfe und Unterstützung schuldig. Man würde ihre Lage also nach Möglichkeit erleichtern und wenn sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, so würde Herr Sergius sie nicht verlassen. Waren es doch Landsleute von ihm... Waren es doch Menschen wie er!

Vierzehn Tage vergingen, während deren man sich allmählich in die neue Lage hineinfand. Jeden Morgen war man verpflichtet, vor dem eingeborenen Herrscher zu erscheinen und seine Nergeleien wegen des geforderten Lösegeldes über sich ergehen zu lassen. Er brauste auf, stieß Drohungen aus, schwor bei seinen Götzen... Nicht für sich selber, für sie verlange er den Befreiungstribut.[231]

»Alter Schelm!« rief Herr Cascabel. »Fang einmal damit an, daß du uns das gestohlene Geld zurückgiebst!... Dann sehen wir weiter!«

Überhaupt war die Zukunft besorgniserregend. Man mußte immer fürchten, daß er seine Drohungen ausführen könnte, dieser Tschu-Tschuk, oder vielmehr Tuck-Tuck, wie Herr Cascabel ihn nannte, obgleich ein Kosename, ihm ungefähr so gut stehe, wie ein Schäferhut einem gelbhaarigen Englishman!«

Und er sann noch immer auf irgend ein Mittel, ihm einen Streich nach seinem Geschmack zu spielen. Was für einen?... Er sann und fand nichts. Schließlich fragte er sich, ob sein Sack denn leer sei; unter diesem Sacke verstand er sein Gehirn. In der That, der Mann, welcher sich den schönen, ebenso kühnen als bedauerlichen Einfall gestattet hatte, aus Amerika über Asien nach Europa zu reisen, hatte allen Grund, sich jetzt nur mehr für einen Dummkopf anzusehen.

»Nicht doch, Cäsar, nicht doch!« sagte Cornelia wiederholt zu ihm. »Du wirst schließlich schon einen seinen Kniff ersinnen!... Du wirst in einem Augenblick darauf verfallen, wo du am wenigsten daran denkst!«

»Glaubst du?...«

»Ich bin dessen gewiß!«

War es nicht rührend, das unerschütterliche Vertrauen zu sehen, welches Frau Cascabel trotz jenes unglückseligen Reiseplanes nach wie vor in das Genie ihres Mannes setzte?

Überdies war Herr Sergius zur Stelle, um ihnen allen Mut einzuflößen, wenngleich seine Versuche, Tschu-Tschuk von seinen Ansprüchen abzubringen, keinen Erfolg hatten. Übrigens war kein Grund zu allzu großer Ungeduld vorhanden. Selbst wenn der eingeborene Häuptling sich dazu verstanden hätte, ihr die Freiheit zu schenken, so hätte die Familie Cascabel die Kotelnii-Insel nicht im tiefen Winter, bei einer Temperatur von vierzig Grad unter Null, verlassen können.

Der fünfundzwanzigste Dezember kam heran und Cornelia wollte Weihnachten mit einigem Glanze gefeiert sehen. Der Glanz sollte einfach darin bestehen, daß sie ihren Gästen ein sorgfältiger zubereitetes und reicheres Mahl als gewöhnlich vorsetzte, bei dem die Konserven die Hauptkosten zu tragen hatten. Da es ihr überdies weder an Mehl, noch an Reis und Zucker fehlte, so verwendete die vortreffliche Hausfrau ihre ganze Sorgfalt darauf, einen riesigen Kuchen zu backen, dessen Erfolg im voraus gesichert war.

Die beiden russischen Matrosen wurden zu diesem Schmause entboten und leisteten der Einladung Folge. Es war das erste Mal, daß sie das Innere der Belle-Roulotte betraten.

Sowie der eine von ihnen – der sich Kirschef nannte – sprach, fiel der Klang seiner Stimme Kayetten auf. Diese Stimme schien ihr nicht unbekannt.[232] Aber wo sie dieselbe schon einmal gehört, das hätte sie nicht zu sagen vermocht.

Übrigens fühlten sich weder Cornelia, noch Napoleone, noch auch Clou zu diesen beiden Menschen hingezogen, welche sich in der Gegenwart von ihresgleichen unbehaglich zu fühlen schienen.

Gegen Ende der Mahlzeit erzählte Herr Sergius auf Ortiks Bitte die Erlebnisse der Familie Cascabel in der alaskischen Provinz, – wie dieselbe ihn halbtot aufgefunden und gerettet habe, als einige Spießgesellen der Karnossschen Bande einen Mordversuch an ihm verübt. Wären ihre Gesichter im vollen Lichte gewesen, so hätte man sehen können, wie die beiden Matrosen bei der Erwähnung jenes Verbrechens einen eigentümlichen Blick tauschten. Aber dieser Blick blieb unbemerkt und nachdem sie ihren gehörigen Anteil an dem Kuchen bekommen hatten, der reichlich mit Wódka benetzt wurde, verließen Ortik und Kirschef die Belle-Roulotte.

Sobald sie draußen waren, sagte der eine:

»Ein nettes Zusammentreffen!... Es ist der Russe, den wir an der Grenze angegriffen haben und den wir ohne die Dazwischenkunft jener verdammten Indianerin umgebracht...«

»Und beraubt hätten!« fiel der andere ein.

»Jawohl!... jener Tausende von Rubeln, die sich jetzt in Tschu-Tschuks Händen befinden!«

Also waren die beiden vermeintlichen Matrosen Mitglieder der Karnossschen Bande, deren Missethaten in ganz Westamerika Schrecken verbreitet hatten. Nach ihrem vereitelten Attentat auf Herrn Sergius, dessen Züge sie in der Dunkelheit nicht zu erkennen vermocht, hatten sie ihren Weg nach Port-Clarence genommen. Einige Tage später hatten sie den Versuch gemacht, in einem gestohlenen Boote über die Beringstraße zu setzen. Aber die Strömungen hatten sie mit sich gerissen, bis sie nach unsäglichen Gefahren an der Hauptinsel der Liakhossgruppe scheiterten und von den Eingeborenen gefangen genommen wurden.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 220-233.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon