Zehntes Capitel.

[130] Das war das Trauerspiel des Lebens unseres Franz von Telek.

Einen Monat lang schwebte er in höchster Gefahr; der junge Graf erkannte Niemand – nicht einmal seinen getreuen Rotzko. Als er im hitzigsten Fieber lag, entschlüpfte seinen Lippen, die bald den letzten Seufzer auszuhauchen drohten, nur noch ein Name: der la Stilla's.

Und doch entrann der Graf dem Tode. Die Kunst der Aerzte, die sorgfältige Pflege durch Rotzko und auch seine Jugend und die heilende Kraft der Natur retteten ihm noch einmal das Leben. Auch sein geistiges Vermögen ging[130] ungeschmälert aus dieser entsetzlichen Erschütterung hervor. Doch als er sich wieder zu erinnern begann, als er sich die tragische Schlußscene aus dem »Orlando«, mit der die Seele der Künstlerin dieser Erde entflohen war, ins Gedächtniß zurückrief, da schluchzte er laut:

»Stilla!... Meine Stilla!« und die hageren Hände streckten sich vor, als wollte er ihr noch einmal Beifall zujubeln.

Sobald sein Herr das Bett verlassen konnte, erhielt Rotzko den Auftrag, Alles vorzubereiten, um die traurige Stätte zu verlassen und geraden Weges nach Krajowa zurückzukehren. Bevor er aber von Neapel Abschied nahm, wollte der Graf noch einmal am Grabe der Dahingeschiedenen beten und ihr einen letzten Abschiedsgruß – für immer – bringen.

Rotzko begleitete ihn nach dem Campo Santo Nuovo. Franz warf sich auf die grausame Erde, die sein Theuerstes verschlungen hatte; er versuchte sie mit den Nägeln aufzuwühlen, um auch sich darin zu begraben.... Nach langem Bemühen gelang es Rotzko, ihn von dem Grabe wegzuziehen, worin sein Erdenglück ruhte.

Nach wenig Tagen in Krajowa eingetroffen, hatte Franz von Telek den alten Stammsitz seiner Familie im Walachenlande wiedergesehen. Hier im Schlosse, das zu verlassen er sich hartnäckig weigerte, lebte er volle fünf Jahre in ungestörter Einsamkeit. Weder Zeit noch Entfernung hatten seinen Schmerz zu lindern vermocht. Er hätte gerade müssen vergessen können, und das war ihm unmöglich. Die noch immer wie am ersten Tage lebendige Erinnerung an la Stilla war einmal mit seinem Seelenleben verwachsen. Es giebt ja Wunden, die sich nur mit dem Tode schließen.

Zur Zeit jedoch, mit der unsere Erzählung beginnt, hatte der junge Graf das Schloß seit einigen Wochen verlassen, freilich erst nach langen dringenden Bitten Rotzko's, der ihn dieser allmählich tödtlichen Einsamkeit entreißen wollte. Wenn Franz dadurch auch keinen eigentlichen Trost fand, so sollte er wenigstens seinen Schmerz zeitweise betäuben lernen.

So wurde denn ein Reiseplan festgestellt, um zunächst die transsylvanischen Länder zu besuchen. Später – so hoffte Rotzko – werde sich der Graf auch bestimmen lassen, die durch jene traurigen Vorkommnisse in Neapel unterbrochene Fahrt durch Europa wieder aufzunehmen.

Franz von Telek war also, diesmal nur als Tourist, zu kurz bemessenem Ausfluge abgereist. Mit Rotzko hatte er die walachischen Ebenen bis zu dem mächtigen[131] Gebirgsstocke der Karpathen durchzogen. Beide durchstreiften dann die Pässe und Thäler des Vulcan, und nach Besteigung des Retyezat und einem Abstecher durch das Thal des Maros hatten sie im »König Mathias«, dem Gasthause des Dorfes Werst, Rast gemacht.

Wir kennen schon den hier herrschenden Zustand, zur Zeit, wo Franz von Telek eintraf, und wie er über die scheinbar unbegreiflichen Ereignisse, deren Schauplatz die Burg war, unterrichtet wurde. Wir wissen auch, daß er zuletzt noch den Baron von Gortz als Besitzer jener Gespensterburg nennen hörte.

Die Wirkung dieses Namens auf den jungen Grafen war zu deutlich, als daß sie dem Meister Koltz und den übrigen Anwesenden hätte entgehen können. Rotzko hätte diesen unseligen Meister Koltz, der jenen Namen zuerst aussprach, gern zum Teufel gejagt und dessen ganze alberne Geschichten hinterdrein gewünscht. Daß der unglückliche Zufall Franz von Telek gerade nach Werst und in die Nachbarschaft des Karpathenschlosses verschlagen mußte!

Der junge Graf blieb stumm. Sein von dem Einen zum Andern irrender Blick verrieth nur zu sichtbar den Aufruhr seines Herzens, den er vergeblich zu verbergen sachte.

Meister Koltz und seine Freunde begriffen wohl, daß den Grafen ein geheimnißvolles Band mit dem Baron von Gortz verknüpfen möchte; so neugierig sie aber auch waren, bewahrten sie doch eine höfliche Zurückhaltung und versuchten nicht, hierüber mehr zu erfahren. Später würde das Weitere sich ja von selbst ergeben.

Wenige Minuten später hatten Alle den »König Mathias« verlassen, Alle aber erregt durch diese seltsame Verkettung von Abenteuern, die für das Dorf von keiner guten Vorbedeutung schien.

Würde der junge Graf nun, wo er den Besitzer des Karpathenschlosses kannte, sein Versprechen halten? Würde er, in Karlsburg angelangt, die Behörden von Allem unterrichten und ihr Eingreifen erbitten? Diese Frage legten sich der Biró, der Schulmeister, der Doctor Patak und auch die Anderen vor. Jedenfalls war, wenn Jener das unterließ, Meister Koltz entschlossen, es zu thun. Die Polizei sollte Kunde erhalten, sie würde dann das Schloß durchsuchen lassen, würde klarlegen, ob hier Geister spukten oder Uebelthäter hausten, denn lange durfte das Dorf unter der jetzigen Anfechtung nicht leiden.[132]

Den meisten Bewohnern schien das freilich ein unnützer Versuch, eine wirkungslose Maßregel zu sein. Wer würde den Geistern etwas anhaben können! Dabei mußten ja die Säbel der Gendarmen wie Glas zersplittern und ihre Gewehre bei jedem Schusse versagen.

Allein in der Gaststube des »König Mathias« zurückgeblieben, überließ sich Franz von Telek dem Laufe seiner Erinnerungen, die der Name des Baron von Gortz so schmerzlich wieder wachgerufen hatte.

Nachdem er eine Stunde lang wie geistesabwesend in seinem Lehnstuhle gesessen, erhob er sich, verließ das Gasthaus, begab sich nach dem Ende der Terrasse und blickte in die Ferne hinaus.

Auf dem Kamme des Plesa, in der Mitte der Hochfläche des Orgall, ragte das Karpathenschloß empor. Hier hatte jener Sonderling, der tägliche Gast des San Carlo-Theaters, also gelebt, jener Mann, der der unglücklichen la Stilla einen so unerträglichen Schrecken einflößte. Jetzt mochte die Burg wohl verödet, wenigstens der Baron von Gortz seit seiner Flucht aus Neapel hierher nicht zurückgekehrt sein. Niemand wußte ja, was aus ihm geworden war und ob er nach dem Ableben der großen Künstlerin nicht etwa gar selbst Hand an sich gelegt habe.

Franz durchirrte also ein weites Feld von Vermuthungen, ohne sich für die eine mehr als für die andere entscheiden zu können.

Andererseits nahm doch das Abenteuer des Forstwächters Nic Deck seine Gedanken in gewissem Grade gefangen, und er hätte, wäre es auch nur, um die geängstigten Bewohner von Werst zu beruhigen, gern das darüber liegende Geheimniß entschleiert.

Da der junge Graf indeß kaum bezweifelte, daß nur Uebelthäter das alte Schloß als Versteck gewählt haben dürften, beschloß er, seinem Versprechen nachzukommen und durch Benachrichtigung der Karlsburger Polizei den schlauen Streichen der Missethäter ein Ende zu bereiten.

Jedenfalls wünschte Franz, ehe er weitere Schritte that, über die betreffenden Vorgänge noch eingehender unterrichtet zu sein. Das Beste erschien ihm, sich deshalb persönlich an den jungen Forstmann zu wenden. Gegen drei Uhr Nachmittags begab er sich also, vor der Rückkehr in den »König Mathias«, nach dem Hause des Biró.

Meister Koltz fühlte sich sehr geschmeichelt, ihn empfangen zu dürfen... einen Edelmann wie den Herrn Grafen von Telek... diesen Nachkommen einer[133] vornehmen Familie rumänischer Rasse... dem die Dorfschaft für Wiedererlangung ungestörter Ruhe... und auch weiteren Gedeihens... verpflichtet sein würde... denn nun kämen voraussichtlich wieder mehr Reisende ins Land... und entrichteten die üblichen Wegetaxen, ohne etwas von den bösen Geistern im Karpathenschlosse zu fürchten zu haben u. s. w. u. s. w.

Franz von Telek dankte dem Meister Koltz für seine Ehrenbezeugungen und fragte, ob wohl ein Hinderniß vorliege, ihn zu Nic Deck zu führen.

»Nicht das geringste, Herr Graf, beeilte sich der Biró zu antworten. Dem wackeren jungen Manne geht's schon wieder recht gut und er wird seinen Dienst bald wieder aufnehmen.«

Dann wandte er sich um.

»Ist es nicht so, Miriota? fragte er seine Tochter, die eben ins Zimmer trat.

– Gott gebe, daß es so werde, Vater!« antwortete Miriota bewegt.

Franz fühlte sich angenehm berührt durch den graziösen Gruß, den das junge Mädchen an ihn richtete. Da er ihr aber eine gewisse Angst bezüglich des Zustandes ihres Verlobten anmerkte, erkundigte er sich vorläufig gleich bei ihr nach dessen Befinden.

»Nach dem, was ich gehört habe, sagte er, ist Nic Deck nicht ernsthaft verletzt worden?

– Nein, Herr Graf, bestätigte Miriota, und ich segne den Himmel dafür!

– Haben Sie denn einen guten Arzt hier in Werst?

– Hm! machte Meister Koltz in einem für den alten Krankenwärter der Quarantäne nicht gerade schmeichelhaften Tone.

– Wir haben den Doctor Patak, sagte das Mädchen.

– Denselben, der Ihren Nic Deck nach dem Karpathenschlosse begleitete?

– Ja wohl, Herr Graf.

– Fräulein Miriota, fuhr Franz fort, ich wünschte Ihren Verlobten in seinem eigenen Interesse selbst zu sehen, um von ihm Näheres über sein Abenteuer zu erfahren.

– Er wird Ihnen gern Alles erzählen, selbst auf die Gefahr hin, sich ein wenig anzustrengen.

– O, ich werde ihn zu schonen wissen, Fräulein Miriota, und mich gewiß in Acht nehmen, Nic Deck zu schädigen.

– Das weiß ich, Herr Graf.[134]

– Wann soll denn Ihre Hochzeit stattfinden?

– In etwa vierzehn Tagen, ließ sich der Biró vernehmen.

– Dann werd' ich das Vergnügen haben, derselben beizuwohnen, wenn's dem Meister Koltz beliebt, mich einzuladen...

– Ach, Herr Graf, eine solche Ehre...

– Nach vierzehn Tagen also; das ist nun abgemacht; ich hoffe, Nic Deck wird völlig geheilt sein, sobald er sich hat gestatten können, mit seinem schönen Bräutchen nur einen Spaziergang zu machen.

– Gott schütze ihn, Herr Graf!« antwortete das junge Mädchen erröthend.

Dabei spiegelte sich in ihrem reizenden Gesicht aber eine solche Angst, daß Franz sie nach deren Ursache fragte.

»Ja, Gott schütze ihn, wiederholte das Mädchen, denn bei dem Versuche, trotz ihres Verbotes in das Schloß einzudringen, hat Nic die Geister dort herausgefordert, und wer weiß, ob sie nicht grausam genug sind, ihn dafür sein Leben lang zu peinigen.

– O, was das betrifft, Fräulein Miriota, antwortete Franz, damit werden wir, das versprech' ich Ihnen, bald fertig werden.

– Meinem armen Nic soll also kein weiteres Unheil zustoßen?

– Keines, und Dank den Beamten der Polizei wird Jedermann binnen wenig Tagen sich in der Burg und deren Umgebung ebenso gesichert ergehen können, wie auf dem Dorfplatze in Werst.«

Da er es für unangebracht hielt, Fragen übersinnlicher Natur mit dem in solchen Dingen höchst befangenen Mädchen weiter zu besprechen, bat er Miriota, ihn in das Zimmer des jungen Forstwächters zu geleiten.

Das that das junge Mädchen sofort, ließ dann aber Franz mit ihrem Verlobten allein.

Nic Deck war von der Ankunft der beiden Reisenden im Gasthofe zum »König Mathias« unterrichtet worden. In einem alten, wie ein Schilderhaus breiten Lehnstuhle sitzend, erhob er sich, um seinen Besucher zu empfangen. Da er von der Halblähmung, die ihn so plötzlich betroffen, kaum noch etwas verspürte, konnte er die Fragen des Grafen von Telek ohne Schwierigkeit beantworten.

»Herr Deck, begann Franz, nachdem er zuerst die Hand des jungen Forstwärters freundschaftlich gedrückt hatte, zuerst muß ich Sie fragen, ob Sie denn selbst an das Vorhandensein böser Geister im Karpathenschlosse glauben?

– Ja, ich muß wohl, Herr Graf, gestand Nic Deck.[135]

– Und solche Geister wären es gewesen, die Sie gehindert hätten, über die Mauer zu gelangen?

– Daran zweifl' ich nicht mehr.

– Und warum, wenn ich bitten darf?

– Weil das, was mir widerfahren ist, unerklärlich wäre, wenn es keine solchen Geister gäbe.

– Wären Sie so freundlich, mir die ganze Sache zu erzählen, doch ohne irgend etwas wegzulassen, was dabei vorgegangen ist?

– Mit Vergnügen, Herr Graf.«

Nic Deck berichtete also, wie von ihm verlangt. Er konnte dabei freilich nur die Thatsachen bestätigen, die dem Grafen Franz bei dem früheren Gespräch mit den Gästen des »König Mathias« schon zu Ohren gekommen waren – Thatsachen, denen Franz von Telek, wie wir wissen, eine ganz natürliche Deutung zu geben versucht hatte.

Die Ereignisse jener abenteuerlichen Nacht erklärten sich ja ungemein leicht, wenn menschliche Wesen – Uebelthäter oder andere – die sich in der Burg aufhielten, die nöthigen Apparate besaßen, um allerlei Zauber- und Spukerscheinungen hervorzurufen. Was die eigenthümliche Behauptung des Doctor Patak anging, daß er sich durch eine unsichtbare Kraft an den Boden gefesselt gefühlt habe, so konnte man wohl annehmen, daß genannter Doctor damals zum Spielballe seiner Einbildung geworden sei. Weit mehr Wahrscheinlichkeit hatte es für sich, wie Franz dem Forstwächter erklärte, daß jenem, weil ihn der Schrecken lähmte, die Beine einfach den Dienst versagt hätten.

»Wie, Herr Graf, fiel Nic Deck ein, in dem Augenblicke, wo er entfliehen wollte, hätten dem Hasenfuße seine Beine nicht folgen wollen? Nein, das ist undenkbar; Sie würden ebenso urtheilen...

– Nun gut, unterbrach ihn Franz, nehmen wir also an, er wäre im Grunde des Grabens mit den Füßen in eine unter dem Unkraut verborgene Falle gerathen.

– Wenn eine Falle zuschnappt, entgegnete der Forstwächter, dann verletzt sie Einen gehörig, zerreißt wenigstens das Fleisch; an den Beinen des Doctor Patak zeigt sich aber nicht die geringste Verwundung.

– Dieser Einwurf ist richtig, Nic Deck, und doch, glauben Sie mir, wenn es wahr ist, daß der Doctor nicht loskommen konnte, wenn seine Füße in dieser Weise festgehalten waren...[136]

– Ja, da möcht' ich Sie fragen, Herr Graf, wie eine Falle sich von selbst wieder geöffnet haben könnte, um den Doctor freizugeben?«

Franz war um eine Antwort verlegen.

»Uebrigens, Herr Graf, fuhr der Forstwächter fort, stelle ich das, was den Doctor Patak betrifft, ganz Ihrer Beurtheilung anheim. Ich kann ja nur dafür einstehen, was ich selbst erlebt habe.

– Ja, lassen wir den wackeren Doctor aus dem Spiele und sprechen nur von dem, was Ihnen selbst zugestoßen ist, Nic Deck.[137]

– Nun, das ist ziemlich schnell erzählt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ich eine furchtbare Erschütterung erlitt, und zwar eine, die nicht mit natürlichen Dingen zuging.

– Und auch Sie sehen keine Verwundung an Ihrem Körper? fragte Franz.

– Keine, Herr Graf, und doch erhielt ich einen furchtbaren Schlag.

– War das gerade, als Sie die Hand auf die Eisentheile der Zugbrücke legten?...


Nic Deck, sitzend in einem wie ein Schilderhaus breiten Lehnstuhle. (S. 135.)
Nic Deck, sitzend in einem wie ein Schilderhaus breiten Lehnstuhle. (S. 135.)

– Ja, Herr Graf; kaum hatte ich diese berührt, da fühlt' ich mich plötzlich wie gelähmt. Glücklicherweise blieb meine andere Hand, mit der ich mich an der Kette hielt, davon verschont, und so glitt ich denn bis zur Grabensohle hinunter, wo der Doctor mich bewußtlos aufgehoben hat.«

Franz schüttelte den Kopf gleich einem Manne, bei dem diese Mittheilung keinen rechten Glauben fand.

»Und nun, Herr Graf, was ich Ihnen eben erzählte, hab' ich doch wohl nicht blos geträumt, und da ich volle acht Tage das Bett hüten mußte und mich nicht groß rühren konnte, weil ich über Arm und Bein keine Herrschaft hatte, da kann man doch vernünftigerweise nicht sagen, daß ich mir das Alles nur eingebildet habe.

– Das behaupt' ich auch gar nicht; im Gegentheil, Sie haben gewiß einen gewaltigen Schlag erlitten.

– Einen gewaltigen und teuflischen!

– Nun, darin stimmen wir nicht überein, Nic Deck, erwiderte der junge Graf. Sie glauben von einem übernatürlichen Wesen gepackt worden zu sein, und ich glaube das nicht, einfach aus dem Grunde, weil es überirdische Wesen guter oder böser Art überhaupt nicht giebt.

– Wollen Sie mir dann gefälligst erklären, Herr Graf, wie das, was mir widerfahren, zugegangen ist?

– Das vermag ich noch nicht, Nic Deck; seien Sie aber überzeugt, daß sich Alles, und zwar auf die einfachste Weise, erklären wird.

– Das gebe Gott! erwiderte der Forstwächter.

– Sagen Sie mir, fuhr Franz fort, hat das Schloß von jeher der Familie von Gortz gehört?

– Ja, Herr Graf, und dieser gehört es noch heute, obwohl der letzte Sproß der Familie, der Baron Rudolph von Gortz, verschwunden ist, ohne daß man Nachricht von ihm erhalten hat.[138]

– Und wie lange ist es wohl her, daß er verschwand?

– So gegen zwanzig Jahre.

– Schon zwanzig Jahre?...

– Gewiß, Herr Graf. Eines schönen Tages hat der Baron Rudolph das Schloß verlassen, dessen letzter Diener wenige Monate nachher starb, und seitdem hat man den Besitzer nicht wieder gesehen.

– Und seitdem hat auch Niemand die Burg betreten?

– Kein Mensch.

– Und was hält man hier zu Lande von der ganzen Sache?

– Man glaubt, daß der Baron Rudolph im Auslande, und zwar auch kurz nach seinem Verschwinden, gestorben sein möge.

– Darin täuscht man sich, Nic Deck. – Der Baron war noch am Leben, wenigstens vor fünf Jahren.

– Er lebte noch, Herr Graf?

– Ja.... In Italien... in Neapel.

– Sie haben ihn gesehen?

– Ja freilich.

– Und seit diesen fünf Jahren?

– Hab' ich nichts mehr von ihm gehört.«

Der junge Forstwächter wurde nachdenklich. Es kam ihm ein Gedanke – ein Gedanke, dem er doch nicht festere Gestalt zu geben wagte. Endlich erhob er entschlossen den Kopf und sagte:

»Es ist doch nicht anzunehmen, Herr Graf, daß der Baron Rudolph ins Land zurückgekehrt sei, um sich im Innern der Burg zu verbergen?

– Nein... das erscheint nicht annehmbar, Nic Deck.

– Welchen Grund könnte er auch haben, sich zu verstecken und Niemand bei sich sehen zu wollen?...

– O, gar keinen,« antwortete Franz von Telek.

Und doch nahm auch jetzt ein unerwarteter Gedanke im Geiste des jungen Grafen festere Gestalt an.

War es denn unmöglich, daß dieser Sonderling, dessen Leben schon immerdar ein so räthselhaftes gewesen war, nach seinem Fortgange aus Neapel sich in die Burg zurückgezogen hätte? Hier mußte es ihm, Dank des geschickt unterhaltenen einmal herrschenden Aberglaubens der Leute in der Umgebung leicht sein, sich, wenn er ganz einsam leben wollte, gegen jede unbequeme[139] Heimsuchung zu vertheidigen, da ihm doch der geistige Zustand seiner Nachbarschaft unzweifelhaft bekannt war.

Franz hielt es für nutzlos, die Bewohner von Werst auf diese Spur zu führen. Er hätte sich da über Vorkommnisse verbreiten müssen, die allzu persönlicher Natur waren. Uebrigens hätte er doch Niemand überzeugt, das erkannte er sofort, als Nic Deck hinzufügte:

»Wenn sich der Baron Rudolph im Schlosse befindet, muß man glauben, daß der Baron Rudolph selbst der Chort ist, denn nur der Chort hätte mich in dieser Weise treffen können!«

Da er auf dieses Gebiet nicht wieder kommen wollte, wechselte Franz den Lauf des Gespräches. Nachdem er alle Mittel erschöpft, um den Forstwächter über die Folgen seines Versuches zu beruhigen, empfahl er ihm doch, einen solchen nicht zu wiederholen. Das wäre nicht seine Sache, sondern die der Behörden, und die Polizeimacht von Karlsburg würde das Geheimniß schon zu enthüllen verstehen.

Dann verabschiedete sich der Graf von Nic Deck, dem er ganz besonders ans Herz legte, Alles für seine Wiedergenesung zu thun, um die Hochzeit mit der hübschen Miriota, die er ja mit zu feiern gedachte, nicht etwa zu verzögern.

In Gedanken versunken, kehrte Franz nach dem »König Mathias« zurück, den er an diesem Tage nicht wieder verließ.

Um sechs Uhr brachte ihm Jonas in der Gaststube das Abendessen, und einer lobenswerthen Zurückhaltung nachgebend, störte ihn hier weder Meister Koltz, noch sonst Jemand aus dem Dorfe.

Gegen acht Uhr sagte Rotzko zu seinem jungen Gebieter:

»Sie bedürfen meiner jetzt nicht mehr, Herr Graf?

– Nein, Rotzko.

– Dann werde ich auf der Terrasse meine Pfeife rauchen.

– Geh' Rotzko, geh'.«

Halb in einem Lehnstuhl liegend, ließ Franz die ihm unvergeßliche Vergangenheit noch einmal vor seinem Innern vorüberziehen. Er befand sich in Neapel während der letzten Vorstellung im San Carlo-Theater.... Er sah den Baron von Gortz wieder in dem Augenblicke, wo dieser ihm erschien... wo er den Kopf aus der Loge vorbeugte, sein Blick sich brennend auf die Künstlerin richtete, als wollte er diese bezaubern....[140]

Dann wandte sich der Gedanke des jungen Grafen dem von jenem Sonderling unterzeichneten Briefe zu, in dem er, Franz von Telek, beschuldigt wurde, la Stilla getödtet zu haben....

Während er sich so in seine Erinnerungen versenkte, fühlte Franz von Telek wie der Schlaf ihn langsam übermannte. Noch befand er sich in jenem gemischten Zustande, wo man das geringste Geräusch wahrzunehmen vermag, als ein wunderbares Ereigniß eintrat.

Es scheint, als ob eine sanfte schmeichelnde Stimme durch den Raum ertönte, in dem sich Franz allein, gewiß ganz allein befand.

Ohne sich zu fragen, ob er wache oder träume, erhebt sich Franz von Telek und lauscht.

Ja! Da erschien es, als ob sich ein Mund seinem Ohr genähert hätte, und als ob unsichtbare Lippen das ergreifende Lied Stefano's, und zwar die Worte sängen.


Nel giardino de 'mille fiori,

Andiamo, mio cuore...


Diese Romanze... Franz erkannte sie – diese süße, sich einschmeichelnde und doch so tief rührende Romanze – hatte la Stilla in dem letzten Concerte gesungen, das sie vor ihrer Abschiedsvorstellung veranstaltete...

Wie eingewiegt und ohne sich über etwas Rechenschaft zu geben, überließ sich Franz der Wollust, diese Stimme noch einmal zu hören.

Dann geht der Vers zu Ende, und die allmählich leiser werdende Stimme verhallt in leichten Schwingungen der Luft.

Doch Franz hat seine Erstarrung abgeschüttelt... er ist hastig aufgesprungen... hält den Athem an und sucht ein entferntes Echo dieser Stimme, die ihm zum Herzen dringt, zu erhaschen....

Doch Alles ist still, hier drinnen und draußen.

»Ihre Stimme!... murmelte er. Ja, das war ihre Stimme, die ich so sehr geliebt habe!«

Dann kommt er völlig wieder zu sich.

»Ich habe geschlafen, sagt er, ach, ich habe so schön geträumt!«[141]

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 130-142.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Karpathenschloß
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss

Buchempfehlung

Suttner, Bertha von

Memoiren

Memoiren

»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.

530 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon