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[71] Der Zug ist in Kizil-Arvat – zweihundertzweiundvierzig Werst vom Caspisee – angelangt, und zwar um sieben Uhr sieben Minuten, statt genau um sieben Uhr. Diese Verzögerung hat dreizehn Verwünschungen von Seiten des Barons, zwei auf die Minute, hervorgerufen[71] Wir haben im Bahnhofe von Kizil-Arvat zwei Stunden Aufenthalt. Obwohl es schon zu dämmern beginnt, kann ich meine Zeit nicht besser anwenden, als zu einem Besuche der kleinen Stadt, die kaum zweitausend Bewohner, Russen, Perser und Turkmenen, zählt. Zu sehen giebt's nur wenig, im Innern des Orts, wie in dessen Umgebung, wo die von Bäumen ganz entblößte Landschaft – es wächst hier nicht einmal eine Palme – weiter nichts als Weiden und Getreidefelder zeigt, die von einem dürftigen Flusse bewässert werden. Mein guter Stern hat es gefügt, daß ich den Baron Noltitz als Begleiter, nein, noch mehr, als Cicerone haben sollte.
Unser Bekanntwerden ging sehr einfach vor sich. Der Major kam auf mich zu und ich ging auf ihn zu, als wir nur den Fuß auf den Perron des Bahnhofes gesetzt hatten.
»Mein Herr, begann ich, ich bin Franzose, Claudius Bombarnae, Correspondent des ›XX. Jahrhundert‹, und Sie sind der Major Noltitz vom russischen Heere. Sie gehen nach Peking und ich ebenfalls. Ich kenne Ihre Muttersprache, wie Sie voraussichtlich die meinige ...«
Der Major gab seine Zustimmung zu erkennen.
»Nun also, Herr Major Noltitz, statt uns auf dieser langen Fahrt durch Centralasien Einer dem Andern fremd zu bleiben ... beliebt es Ihnen, daß wir einander etwas näher treten, als gewöhnliche Reisegefährten? ... Sie wissen von diesem Lande Alles, was ich nicht weiß, und es würde mir ein Vergnügen gewähren, mich zu unterrichten über ...
– Herr Bombarnae, erwiderte mir der Major französisch und ohne jeden fremden Accent, ich bin völlig einverstanden.«
Dann setzte er lächelnd hinzu:
»Sie wollen von mir unterrichtet sein .... Hat nicht einer Ihrer hervorragendsten Kritiker, wenn ich nicht ganz irre, gesagt: Die Franzosen lieben nur das zu lernen, was sie bereits wissen ....
– Ich sehe, daß Sie Sainte Beuve gelesen haben, Herr Major, und vielleicht hatte jener skeptische Akademiker im Allgemeinen nicht so Unrecht. Was mich aber betrifft, mache ich eine Ausnahme von der Regel und strebe danach, zu lernen, was ich nicht weiß. Gerade bezüglich des russischen Turkestan bin ich nun so unwissend ....
– Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, erwiderte der Major, und es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Großthaten des Generals Annenkof, dessen Arbeiten ich beobachtet habe, ausführlich zu schildern.
– Besten Dank, Herr Major. Ich erwartete kein geringeres Entgegenkommen von einem Russen gegen[72] über einem Franzosen ....
– Und, fällt der Major ein, wenn Sie mir gestatten, ein seit Danicheff berühmtes Wort theilweise anzuführen: ›So wird es immer sein, so lange es noch Franzosen und Russen giebt.‹
– Dumas Sohn nach Sainte Beuve! ruf' ich aus. Ich sehe, Herr Major, daß ich es mit einem Pariser zu thun habe ....
– Der ein geborner Petersburger ist, Herr Bombarnac.«[73]
Wir schütteln uns freundschaftlich die Hände. Bald darauf durchstreifen wir vereint die Stadt, wobei mir Baron Noltitz Folgendes mittheilt:
»Gegen Ende 1885 war es, als General Annenkof in Kizil-Arvat das letzte Stück des Anfangstheiles dieses Schienenweges in der Länge von zweihundertfünfundzwanzig Kilometern zum Abschluß brachte. Von der ganzen Länge entfallen hundertsechzig Kilometer auf die Strecke, die durch die Wüste führt, welche keinen einzigen Tropfen Wasser liefern konnte.« Ehe sich Major Noltitz aber darüber ausließ, wie diese außerordentliche Arbeit durchgeführt wurde, erinnert er mich an die Ereignisse, die Schritt für Schritt die Eroberung Turkestans und dessen dauernden Anschluß an das moskowitische Reich vorbereiteten.
»Bereits 1854 hatten die Russen dem Khan von Khiva einen Bündnißvertrag aufgezwungen. Einige Jahre darauf, 1860 bis 1864, brachten sie, unaufhaltsam nach Osten vordringend, durch zwei Feldzüge gegen Kokhan und Bukhara diese Gebiete in ihre Gewalt. Zwei Jahre später kam Samarkand, und zwar nach den Schlachten bei Irdjar und bei Zera-Buleh, unter ihre Herrschaft.
Jetzt blieb noch der südliche Theil von Turkestan zu bewältigen und vorzüglich die Oase Akhal-Tekke, die bis zur persischen Grenze reicht. Das versuchten die Generale Surakine und Lazareff durch die Expedition von 1878 bis 1879. Der Plan mißlang, und darauf vertraute der Czar den Versuch, die mächtigen Turkmenenstämme zu unterwerfen, dem berühmten General Skobeleff, dem Sieger von Plewna, an.
Skobeleff landete im Hafen von Mikhaïlov – der von Uzun-Ada bestand damals noch nicht – und um seinen Vormarsch durch die Wüste zu erleichtern, erbaute der zweite Befehlshaber der Truppenmacht, der General Annenkof, die strategische Bahn, die binnen zehn Monaten Kizil-Arvat erreichte.
Hierbei vollendeten die Russen also, wie ich schon erwähnte, diesen Schienenweg weit schneller, als die Amerikaner den ihrigen nach dem fernen Westen vorschoben. Das Werk versprach ebenso industrielle wie militärische Vortheile.
Von vornherein stellte der General Annenhof einen aus vierunddreißig Waggons bestehenden Wohnungs- und Arbeitszug zusammen. Dieser enthielt vier zweistöckige Wagen für die Officiere, vier ebensolche für Arbeiter und Soldaten, einen Speisewagen, vier Küchenwagen und einen Krankenwagen. Das waren seine fahrbaren Werkstätten und auch die Kasernen, in denen fünfzehnhundert Militärarbeiter und Beamte wohnten und gespeist wurden. Der Zug bewegte sich dem Fortschreiten des Schienenstranges entsprechend weiter. Die[74] Arbeiter waren in zwei Brigaden getheilt, von denen jede sechs Stunden täglich thätig sein mußte.
Hierzu kamen noch gegen fünfzehntausend aus dem Lande zusammengeströmte Leute, die unter Zelten lebten. Ein Telegraphendraht setzte die Arbeiter mit Mikhaïlov in Verbindung von wo auf einem kleinen Schienenwege, nach Decanvilles' System, die Schienen und Querschwellen herbeigeschafft wurden.
Unter solchen Verhältnissen und Dank der Horizontalität des Erdbodens betrug der tägliche Fortschritt gegen acht Kilometer, während er in den Ebenen der Vereinigten Staaten nur vier erreicht hatte. Die Handarbeit kostete hier nicht viel; vierzig Mark per Monat für die Arbeiter aus der Oase, und vierundvierzig Pfennig täglich für die, die aus der Bukharei gekommen waren.
So wurden die Truppen Skobeleff's nach Kizil-Arvat und dann fünfhundert Kilometer weiter bis Gheok-Tepe befördert. Letztere Stadt ergab sich erst nach Zerstörung ihrer Wälle und nachdem zwölftausend ihrer Vertheidiger niedergemetzelt worden waren; doch damit fiel die Oase von Akhal-Tekke den Russen in die Hände, die Bewohner der Oase von Atek zögerten nicht, sich zu unterwerfen, und zwar um so williger, als sie die Hilfe des Czars in ihrem Kampfe mit Kuli-Khan, dem Häuptling der Mervier, angerufen hatten. Diese folgten, zweihundertfünfzigtausend an Zahl, ihrem Beispiel, und im Juli 1886 fuhr die erste Locomotive in den Bahnhof von Merv ein.«
»Und die Engländer, fragte ich den Major Noltitz, mit was für Blicken haben diese die Fortschritte Rußlands in Centralasien betrachtet?
– Natürlich mit denen der Eifersucht, erwiderte der Major. Bedenken Sie nur, die russischen Schienenstrecken verbunden mit den chinesischen, statt mit den Bahnlinien Indiens! Die Transcaspische Bahn als Concurrenz derjenigen, die zwischen Herat und Delhi in Gang ist! Uebrigens sind die Engländer auch in Afghanistan nicht so glücklich gewesen, wie wir in Turkestan. Sie haben doch wohl jenen Gentleman gesehen, der sich in unserem Zuge befindet?
– Gewiß, Herr Major, das ist Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire.
– Richtig! Dieser Sir Francis Trevellyan hat nun besonders verächtliche Blicke und ein wegwerfendes Achselzucken für Alles, was wir geleistet haben. Er verkörpert die glühende Eifersucht seiner Nation in seiner Person, und England wird sich kaum je mit der Thatsache abfinden können, daß unsere[75] Eisenbahnen von Europa bis zum Stillen Ocean hinführen, während die seinigen am Indischen Ocean ihr Ende haben!«
Diese interessante Unterhaltung hat mehr als eine halbe Stunde gedauert, während der wir durch die Straßen von Kizil-Arvat hinwanderten. Jetzt war es Zeit, zum Bahnhof umzukehren, und das thaten wir denn Beide.
Selbstverständlich trennten wir uns hiermit nicht, sondern verabredeten, daß der Major seinen Platz im dritten Waggon verlassen und dafür einen in dem meinigen einnehmen sollte. Waren wir schon vorher Bewohner derselben Stadt, so sollten wir nun Nachbarn im nämlichen Hause oder vielmehr zwei Freunde in demselben Zimmer werden.
Um neun Uhr wird das Abfahrtssignal gegeben. Von Kizil-Arvat aus wendet sich der Zug südwestlich auf Askhabad zu, wobei er längs der persischen Grenze hinrollt.
Noch eine halbe Stunde etwa plauderten wir, der Major und ich, von dem und jenem. Er macht mich aufmerksam, daß ich, wenn die Sonne jetzt nicht bereits unter dem Horizonte verschwunden wäre, die höchsten Gipfel der großen und kleinen Balkan-Berge Asiens würde wahrnehmen können, die sich über der Bai von Krasnovodsk erheben.
Schon hat sich's die Mehrzahl unserer Reisegefährten auf ihren Sitzen für die Nacht bequem gemacht, denn letztere können durch einen sinnreichen Mechanismus leicht in Lagerstätten verwandelt werden. Man kann sich dann ausstrecken, den Kopf gegen ein Kissen lehnen, sich in Decken einhüllen – und wenn man dennoch schlecht schläft, so kommt das davon, daß man kein ruhiges Gewissen hat.
Der Major Noltitz hat sich, wie es scheint, nichts vorzuwerfen, denn binnen weniger Minuten, nachdem er mir gute Nacht gewünscht, ist er schon in tiefen Schlaf gesunken.
Wenn ich selbst munter bleibe, rührt das daher, daß mein Kopf noch arbeitet. Ich denke an mein berühmtes Frachtstück, an dessen Insassen, und noch diese Nacht habe ich mir vorgenommen, mit ihm in Verbindung zu treten. Dabei erinnere ich mich, daß auch andere Originale in dieser außergewöhnlichen Weise gereist sind. In den Jahren 1889,1891 und 1892 ist ein österreichischer Schneider, Hermann Zeitung, so von Wien nach Paris, von Amsterdam nach Brüssel und von Anvers nach Christiania gefahren, und zwei Verlobte aus Barcelona, Erres und Flora Anglora, haben denselben Kasten getheilt, in dem sie Spanien und Frankreich durchreisten.[76]
Vorsichtigerweise muß ich aber doch warten, bis Popof für längere Zeit nach seinem Coupé zurückgekehrt ist. Der Zug wird vor Gheok-Tepe nicht halten, das heißt nicht vor ein Uhr Morgens. Während der Fahrt von Kizil-Arvat und Gheok-Tepe wird genannter Popof, so rechne ich, es nicht versäumen, ein Schläfchen zu machen, und dann oder niemals wird der Augenblick gekommen sein, mein Vorhaben zur Ausführung zu bringen.
Halt, ein Gedanke! Wenn das nun Zeitung wäre, der wieder eine solche unsinnige Fahrt machte, um nachher von dem freigebigen Publicum Geld herauszuschlagen .... Ja, ja, das muß er sein, das kann nur er sein! ... Zum Teufel, seine Person ist gerade nicht mehr von besonderem Interesse! ... Und ich, der sich schon sonst etwas auf diesen Eindringling einbildete ... indeß, das wird sich zeigen; ich kenne ihn nach Photographien, und vielleicht kann ich ihn doch noch ein wenig ausschlachten ....
Eine halbe Stunde nach der Abfahrt sagt mir das Geräusch einer sich an der Plattform schließenden Thür, daß der Zugführer eben sein Coupé aufgesucht hat. Trotz meines Verlangens, dem Packwagen einen Besuch abzustatten, zügle ich meine Ungeduld, denn noch ist nicht anzunehmen, daß Popof eingeschlafen ist.
Im Innern unter den verschleierten Lampen ist Alles todtenstill. Draußen herrscht stockfinstere Nacht, in der man nur das Aechzen des Zuges vernimmt, das sich mit dem Pfeifen einer ziemlich scharfen Brise vermischt.
Ich erhebe mich, schlage den Vorhang einer Lampe zurück und sehe nach der Uhr ....
Wenige Minuten über elf. Noch zwei Stunden vor dem Anhalten des Zuges in Gheok-Tepe.
Der Augenblick ist da. Nachdem ich zwischen den Sitzen bis zur Thür des Waggons hingeschlichen, öffne ich diese behutsam und schließe sie ebenso wieder, ohne von meinen Reisegefährten gehört worden zu sein oder einen derselben erweckt zu haben.
Da steh' ich nun auf der Plattform vor der Laufbrücke, die unter den Stößen des Zuges erzittert. Inmitten der unergründlichen Finsterniß, die den Kara-Korum verhüllt, empfinde ich so etwas von der nächtlichen Unendlichkeit des Meeres in der Umgebung eines einsamen Schiffes.
Ein schwacher Lichtschein stiehlt sich durch die Rollläden des Dienstcoupé's. Soll ich warten, bis er verlöscht, oder ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß er bis Tagesanbruch fortdauert?[77]
Jedenfalls ist Popof noch nicht eingeschlafen, was ich aus dem Geräusch erkenne, das er erzeugt, wenn er sich umwendet. Ich verhalte mich mäuschenstill und stütze mich auf das Geländer der Plattform.
Im Vorbiegen treffen meine Blicke den Lichtschein, den die Laterne vorn an der Maschine hinausstrahlt. Es sieht aus, als rasten wir auf feurigem Wege dahin. Ueber mir jagen sich die Wolken mit unheimlicher Schnelligkeit am Himmel, und nur einzelne Sterne, wie die Cassiopeja, der Kleine Bär im Norden und die Vega in der Leier blinken dann und wann durch die Risse derselben hervor.
Sonst herrscht vollständiges Schweigen von einer Plattform zur andern. Trotz seiner Pflicht, das Personal des Zuges zu überwachen, hat Popof die Augen zum Schlummer geschlossen.
Jetzt vollkommen sicher, überschreite ich die Laufbrücke und stehe nun vor dem Packwagen. Dessen Thür ist nur durch einen, in zwei Krampen laufenden Riegel verschlossen. Ich öffne und schließe sie hinter mir wieder zu.
Das ging ohne Geräusch ab; denn wenn ich Popof's Aufmerksamkeit nicht erregen will, so möcht' ich doch auch die Aufmerksamkeit des »freiwillig Eingekerkerten« nicht auf mich lenken.
Trotz der tiefen Finsterniß im Innern des Packwagens, der ja keine Seitenfenster hat, gelingt es mir, mich zurecht zu finden. Ich weiß, wo der Kasten steht – gleich links vom Eingang. Vorzüglich kommt es darauf an, daß ich hier an kein Frachtstück stoße, umsomehr, als diese Fulk Ephrjuell gehören, und das sollte eine schöne Bescheerung werden, wenn eines derselben mit seinen Packeten künstlicher Zähne herunterpurzelte!
Vorsichtig mit Fuß und Hand mich vorwärts tastend, komme ich in Berührung mit dem Kasten. Die Füße einer Fliege hätten sich auf diesen nicht leichter niederlassen können als meine Hand, als ich über alle Kanten desselben hinstrich.
Ich bücke mich und lege furchtsam das Ohr an die Vorderwand ... kein Athem zu hören.
So still verhalten sich kaum die Erzeugnisse des Hauses Strong Bulbul and Co. von New-York.
Da überfällt mich eine Angst – die Angst, alle meine Reporterhoffnungen schmählich scheitern zu sehen. Hatt' ich mich am Bord der »Astara« doch etwa getäuscht? Das Athmen, das unterdrückte Niesen nur geträumt? Ist in diesem[78] Behälter Niemand eingeschlossen – nicht einmal Zeitung? Enthält dieser wirklich nur Spiegelscheiben für Fräulein Zinca Klork, Cha-Chua-Straße, Peking, China?
Nein, so schwach es war, ich konnte jetzt ein leises Geräusch aus dem Innern des Kastens vernehmen. Dasselbe nimmt zu, und ich frage mich nun, ob der Obertheil der Vorderwand in einem Falze herabgleiten, ob der Gefangene sein Gefängniß verlassen wird, um draußen etwas frische Luft zu schöpfen.
Um nicht entdeckt zu werden, bleibt mir nur übrig, mich wieder im Hintergrunde des Packwagens zwischen zwei Frachtstücken zu verbergen. Dank der Finsterniß hab' ich nichts zu fürchten.
Plötzlich schlägt ein trockenes Knarren an mein Ohr, das war keine Einbildung .... Das rührte von einem Streichhölzchen her das irgend Jemand anrieb ....
Fast gleichzeitig schossen auch einige schwache Lichtstrahlen durch die Luftlöcher des Kastens.
Wenn ich mir noch nicht über die Stellung klar gewesen war, die der Gefangene auf der Stufenleiter der lebendigen Wesen einnahm, so bin ich jetzt darüber aufgeklärt worden, wenn es sich nicht etwa um einen mit dem Gebrauch des Feuers vertrauten Affen handelte, und noch dazu um einen, der mit Streichhölzchen umzugehen verstand. Verschiedene Reisende behaupten, daß es solche Affen gäbe, doch giebt es dafür keine eigentlichen Beweise.
Warum sollte ich's nicht gestehen, daß sich meiner eine merkwürdige Erregung bemächtigt hatte und ich mich weidlich hütete, die geringste Bewegung zu machen?
So verfließt eine Minute. Nichts verräth, daß die Wandhälfte heruntergeglitten sei, nichts, daß der Unbekannte die Absicht habe, herauszukommen.
Und vorsichtig warte ich noch immer; da kommt mir der Gedanke, jenes Licht zu benützen. Jetzt ist der Kasten inwendig hell, und wenn ich da einen Blick durch die Luftlöcher werfe ...
Ich erhebe mich, krieche im Packwagen hin und nähere mich ... nur eine Furcht beschleicht mich ... daß das Licht plötzlich verlöschen könnte ...
Endlich befinde ich mich vor der Kastenwand, die zu berühren ich mich weislich hüte, und bringe das Auge an eines der Löcher ...[79]
Es ist wirklich ein Mensch, der da drin steckt, und auch nicht der österreichische Schneider Zeitung ... Gott sei Dank! Ich verleihe ihm auf der Stelle die Nummer elf.
Der Mann, dessen Gesichtszüge ich recht gut erkennen kann, scheint fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahre alt zu sein. Er zeigt den echten rumänischen Typus – was meine Gedanken bezüglich seiner Auftraggeberin bestätigt. Er sieht recht hübsch aus, trotz der ausgesprochenen Energie seines Gesichts, doch derselben bedarf es ja, um sich in Form eines Frachtstückes über eine so lange Strecke hin befördern zu lassen. Wenn er auch nichts von einem Uebelthäter an[80] sich hat, der sich mit Rücksicht auf drohende Unannehmlichkeiten versteckte, so muß ich gestehen, daß er auch nichts von dem Helden erkennen läßt, den ich zur Hauptperson meiner Geschichte zu machen träumte.
Alles in Allem waren es ja auch keine Helden, weder der Oesterreicher noch der Spanier, die solche Kistenreisen ausgeführt haben; es waren junge Menschen mit beschränktem, kleinbürgerlichem Horizont, und doch brachten sie den Berichterstattern manche schöne Columne ein. Auch diese brave Nummer 11 werde ich durch einige Erweiterungen, durch Antonomasien, Diaphern, Beiwörter,[81] Metaphern und andere Redefiguren zustutzen, werde ich vergrößern, erweitern ... wie man eine photographische Platte zur Entwicklung bringt.
Ein Kistenfahrer von Tiflis nach Peking ist übrigens an und für sich ein ander Ding als Einer, der von Wien oder Barcelona nach Paris geht, wie das Zeitung, Erres und Flora Anglora gethan haben.
Ich füge ausdrücklich hinzu, daß ich meinen Rumänen nicht verrathen und ihn gegen Niemand denunciren werde. Er braucht an meiner Verschwiegenheit nicht zu zweifeln, kann vielmehr auf meine Unterstützung rechnen, wenn ich ihm im Falle einer Entdeckung nützen könnte – übrigens wird er nicht entdeckt werden.
Was beginnt er augenblicklich? ... Sieh' da, er sitzt gemüthlich in seinem Kasten, den dem wackeren Burschen eine kleine Lampe erhellt. Auf den Knieen hält er eine Conservenbüchse, an Bisquit fehlt's ihm nicht und in einem Wandschränkchen entdecke ich auch noch einige volle Flaschen, ferner eine Decke und, an der einen Seite hängend, einen Ueberrock. Wahrlich, meine Nummer 11 befindet sich höchst schlau. Da sitzt der Bursche in seinem Kasten, wie die Schnecke in ihrem Hause. Sein »Heim« rollt mit ihm weiter, und er spart dabei so und so viel hundert Francs, die ihm die Fahrt von Tiflis nach Peking, selbst in zweiter Classe, gekostet hätte. Ich weiß zwar, das nennt man betrügen, und es giebt Gesetze, die einen solchen Betrug bestrafen – übrigens kann er ja seinen Kasten nach Belieben verlassen, im Gepäckwagen auf- und ab gehen und sich sogar, wenigstens in der Nacht, auf die Plattform hinausbegeben .... Nein, ich beklage den Mann nicht, und wenn ich bedenke, daß er an die Adresse einer hübschen Rumänin aufgegeben ist, so möcht' ich seine Stelle fast selbst einnehmen.
Da kommt mir ein Gedanke, den ich für vortrefflich halte und der es doch vielleicht nicht ist, nämlich der, leise an die Wand des Kastens zu klopfen, mit dem neuen Reisegefährten in Beziehung zu treten, um zu erfahren, wer er ist und woher er kommt, da ich ja weiß, wohin er geht. Eine brennende Neugier verzehrt mich. Ich muß sie befriedigen .... Es giebt Augenblicke, wo so ein Berichterstatter sich ganz in eine Evatochter verwandelt.
Doch wie wird der arme Kerl die Sache aufnehmen? ... Natürlich sehr gut. Ich werde ihm sagen, daß ich Franzose bin, und jeder Rumäne weiß, daß er sich einem solchen stets anvertrauen kann. Ich werde ihm meine Dienste anbieten, ihm vorschlagen, die Härte seiner Gefangenschaft durch Zwiegespräche[82] zu mildern und sein dürftiges Mahl durch einige Leckereien zu würzen .... Er soll meine Besuche nicht zu bedauern, noch eine Unklugheit von mir zu befürchten haben.
Ich klopfe an die Wand.
Sofort erlischt das Licht.
Der Gefangene hält den Athem an ...
Ich muß ihn beruhigen.
»Oeffnen Sie, sage ich leise auf russisch ... öffnen Sie mir ....« Noch hab' ich den Satz nicht vollenden können, da erleidet der Zug einen Stoß und seine Geschwindigkeit nimmt auffallend ab.
Wir sind doch noch nicht auf der Station Gheok-Tepe angelangt?
Da hör' ich von draußen rasen und schreien.
Nun schnell aus dem Packwagen und die Thür wieder zu!
Es war die höchste Zeit.
Kaum bin ich auf der Plattform, als das Dienstcoupé sich schon öffnet. Popof verläßt dasselbe, ohne mich zu erblicken, begiebt sich in den Packwagen und von da aus nach der Locomotive.
Fast gleichzeitig hat der Zug die gewöhnliche Schnelligkeit wieder erlangt, und Popof kommt gleich nachher wieder zum Vorschein.
»Was ist denn geschehen, Popof?
– Was sehr häufig geschieht, Herr Bombarnae, ein Dromedar ist überfahren worden ....
– Armes Thier!
– Armes Thier ... das uns hätte zum Entgleisen bringen können ...
– Nun also, verwünschtes Thier!«
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