Dreizehntes Capitel.
Ein Schlagwort Pinchinat's.

[377] Wenn die Maschinen im Backbordhafen in Folge der Explosion der Kessel jetzt außer Gang gesetzt sind, so haben doch die im Steuerbordhafen keinen Schaden gelitten. Freilich besitzt Standard-Island damit blos noch einen einzigen[377] Mechanismus zur Fortbewegung. Auf die Schrauben der Steuerbordseite beschränkt, wird es sich zwar um sich selbst drehen, doch nicht mehr vorwärts kommen.

Die Lage hat sich hierdurch arg verschlimmert. So lange Standard-Island noch über seine beiden fungierenden Maschinen verfügte, hätte es nur des Einvernehmens zwischen der Partei Tankerdon und der Partei Coverley bedurft, um diesem Zustand der Dinge ein Ende zu machen. Die Motoren hätten wie bisher in gleichem Sinne gearbeitet und die schwimmende Insel wäre, nur mit einigen Tagen Verspätung, wieder auf dem Wege nach der Madeleinebay gewesen.

Jetzt kann davon keine Rede mehr sein. Jede Steuerung war unmöglich geworden; der Commodore Simcoë verfügt nicht mehr über die nöthige Triebkraft, aus der entfernten Meeresgegend fortzukommen.

Hätte sich Standard-Island die letzte Woche hindurch nur auf der nämlichen Stelle gehalten, so daß es die erwarteten Dampfer erreichen konnten, so wäre es vielleicht noch möglich gewesen, nach der nördlichen Erdhalbkugel zurückzugelangen....

Leider zeigt eine heute vorgenommene astronomische Beobachtung aber, daß Standard-Island während der dauernden Drehbewegung weiter nach Süden, vom zwölften bis zum siebzehnten Breitengrade hinunter, abgetrieben ist.

Zwischen der Gruppe der Neuen Hebriden und der der Fidschi-Inseln bestehen nämlich, in Folge der geringen Entfernung zwischen den beiden Archipelen, gewisse Strömungen, die nach Südosten verlaufen. So lange seine Maschinen übereinstimmend arbeiteten, konnte Standard-Island gegen diese Strömungen leicht aufkommen. Von dem Augenblicke an aber, wo es von Schwindel ergriffen wurde, verfiel es widerstandslos deren Zuge nach dem Wendekreise des Steinbocks.

Der Commodore Simcoë, der sich hierüber klar geworden ist, verhehlt vor den braven Leuten, die wir als »Neutrale« bezeichnet haben, auch keineswegs den Ernst der Sachlage.

»Wir sind um fünf Grade nach Süden verschlagen worden, erklärt er ihnen. Was nun der Führer eines Dampfers mit beschädigter Maschine noch thun kann, das bin ich an Bord von Standard-Island nicht im Stande. Unsre Insel hat keine Segel, um wenigstens den Wind benützen zu können, wir sind auf Gnade oder Ungnade den Strömungen ausgeliefert. Wohin sie uns tragen werden, weiß ich vorläufig noch nicht. Die von der Madeleinebay auslaufenden Dampfer werden uns an den verabredeten Stellen vergeblich suchen, denn dem Anscheine nach treiben wir mit der Geschwindigkeit von acht bis zehn Seemeilen in der[378] Stunde nach dem am wenigsten befahrenen Theile des Stillen Oceans hinunter.«

Mit diesen wenigen Worten schildert Ethel Simcoë die Lage der Dinge, die er nicht zu ändern vermag. Die Propeller-Insel gleicht einer ungeheuern, der Laune der Strömungen überlieferten Seetrift. Bei nördlicher Strömung wird sie nach Norden, bei südlicher nach Süden mitgenommen, vielleicht bis zur Grenze des Antarktischen Eismeers. Wenn aber...

Diese Lage der Dinge wird den Bewohnern Milliard-Citys wie den der beiden Häfen bald genug bekannt. Ueberall erweckt sie eine unsägliche Beängstigung und, was ja ganz menschlich erscheint, eine gewisse Beruhigung der erregten Gemüther gegenüber dieser neuen Gefahr. Niemand denkt mehr an Bruderkrieg, und wenn der gegenseitige Haß auch fortdauert, so ist ein gewaltthätiger Ausbruch desselben jetzt ausgeschlossen. Nach und nach kehren alle in ihre Stadthälfte, ihr Quartier, in ihr Haus zurück. Jem Tankerdon und Nat Coverley verzichten darauf, sich um den Vorrang zu streiten. Auf Vorschlag der beiden Gouverneure einigt sich der Rath der Notablen auch in dem einzig vernünftigen Beschlusse, der von dem vorliegenden Verhältnissen dictiert wird: er legt alle Gewalt in die Hand des Commodore Simcoë zurück, des einzigen Chefs, dem für die Zukunft Heil und Wohlergehen Standard-Islands anvertraut ist.

Ethel Simcoë fügt sich dieser Aufgabe ohne Zögern. Er zählt auf die Ergebenheit seiner Freunde, seiner Officiere und des gesammten Personals. Was wird er aber leisten können an Bord dieses riesigen schwimmenden Bauwerks von siebenundzwanzig Quadratkilometer Oberfläche, das, seit es nicht mehr seine beiden Maschinen hat, ganz unlenkbar geworden ist?

Wahrlich, man fühlt sich geradezu gedrängt zu sagen, daß der jetzige Zustand einer Verurtheilung Standard-Islands, das bisher als unerreichtes Meisterwerk der Schiffsbaukunst galt, gleichkommt, da es solche Unfälle zum Spielwerke von Wind und Wellen gemacht haben.

Diese Unfälle sind freilich auf keine Naturkräfte zurückzuführen, denn seit seiner Gründung hat das Juwel des Stillen Oceans alle Stürme, Orkane und Cyklone siegreich überstanden. Sie sind nur die Folge innrer Streitigkeiten, der Rivalität der Milliardeser, des traurigen Starrsinnes der Einen, nach Süden, und der Andern, nach Norden fahren zu wollen. Ihre ganz unermeßliche Thorheit ist es, die die Explosion der Kessel auf Backbord verschuldete.[379]

Doch wozu nützen jetzt Vorwürfe? Vor allem gilt es, sich über die Zerstörung am Backbordhafen und in dessen Nähe Aufklärung zu verschaffen. Die Explosion der stark überheizten Verdampfungsapparate hat alles verheert und den Tod von zwei Maschinisten und sechs Heizern obendrein herbeigeführt. Nicht geringer sind die Verwüstungen der Anlagen, worin für diese Hälfte Standard-Islands der zu so vielen Zwecken benützte elektrische Strom erzeugt wurde. Zum Glück arbeiten die Dynamos des Steuerbords ungestört weiter und wie Pinchinat bemerkt:

»Man wird sich eben mit einem Auge behelfen müssen!

– Das möchte noch angehen, sagt Frascolin darauf, wir haben aber auch ein Bein verloren und das noch vorhandne nützt nur verzweifelt wenig!«

Einäugig und hinkend zu sein, das ist ein bischen viel!

Die Besichtigung ergiebt, daß an eine Reparatur der Havarien nicht zu denken und es deshalb ausgeschlossen ist, das Abtreiben nach Süden hin aufzuhalten. Es gilt also ruhig abzuwarten, daß Standard-Island einmal wieder aus der Strömung kommt, die es jetzt nach dem Wendekreise trägt.

Weiter erscheint es nothwendig nachzusehen, in welchem Zustande sich die Einzelkammern des Unterbaues befinden, der durch die achttägige Drehbewegung doch hätte Schaden leiden können. Manche Platten konnten dadurch ja verbogen, manche Nieten gelockert worden sein. Wenn aber gar da und dort ein Leck entstanden wäre, wie sollte das wieder verschlossen werden?

Die Ingenieure unterziehen sich dieser zweiten Untersuchung. Ihre, dem Commodore Simcoë erstatteten Berichte klingen wenig beruhigend. An mehreren Stellen sind durch die dauernde Drehung Platten gesprungen und Versteifungen gebrochen. Tausende von Bolzen sind herausgetrieben und vielfache Zerreißungen entstanden. Verschiedne Kammern stehen bereits voll Wasser. Da sich die normale Schwimmlinie aber noch nicht merklich gesenkt hat, ist die Haltbarkeit des metallischen Untergrundes auch noch nicht bedroht, und die Eigenthümer von Standard-Island haben für ihr Eigenthum zunächst nichts zu fürchten. Die zahlreichsten Sprünge zeigen sich an der Achterbatterie. Vom Backbordhafen ist der eine Pier in Folge der Explosion versunken. Der Steuerbordhafen dagegen ist unversehrt, und seine Dammbauten schützen die Schiffe wie früher gegen den Wogenschlag des Meeres.

Nun ergeht der Befehl, alles was reparaturfähig ist, schleunigst wieder in den vorigen Stand zu setzen. Die Bevölkerung muß in erster Linie darüber[380] beruhigt werden, daß keine Lebensgefahr vorliegt. Es war ja schlimm genug, ja noch mehr als das, daß Standard-Island wegen Mangels seiner Backbordmotoren nicht einmal mehr nach dem nächsten Lande gesteuert werden kann. Dagegen giebt es kein Heilmittel.

Nun bleibt noch die Frage der Ernährung zu lösen übrig, die Frage, ob die greifbaren Vorräthe wohl für einen, für zwei Monate ausreichen werden.

Die durch den Commodore Simcoë veranlaßten Aufnahmen ergaben folgendes:

Was das Wasser betrifft, ist nichts zu befürchten. Trotz der Zerstörung der einen Destillieranstalt wird der nöthige Wasserbedarf durch die zweite, unversehrt gebliebne Anlage zu decken sein.

Bezüglich der festen Nahrungsmittel verhält es sich freilich nicht so günstig Alles in allem dürften sie nur vierzehn Tage lang zureichen, wenn der gewöhnliche Verbrauch der zehntausend Einwohner nicht stark beschränkt wird. Außer Früchten und Gemüsen muß ja bekanntlich alles von außen eingeführt werden.... Von außen?... Ja, wo liegt das denn? In welcher Entfernung befinden sich die nächsten Länder und wie sind sie zu erreichen?...

Trotz der voraussichtlichen unangenehmen Wirkung muß der Commodore sich doch zu einer Verordnung entschließen, die die Lieferungsmenge an Nahrungsmitteln wesentlich verkleinert. Noch an demselben Abende verbreiten die telephonischen und die telautographischen Drähte die erschrekende Nachricht.

In Milliard-City wie in den Häfen herrscht darüber die größte Bestürzung und ahnt man nur noch schwerere Katastrophen. Das Gespenst des Hungers – um ein abgenutztes, aber treffendes Bild zu gebrauchen – erhebt sich nun gewiß bald am Horizonte, da eine Erneuerung des Proviants unmöglich ist. Zum Unglück hat der Commodore Simcoë auch kein einziges Schiff zur Hand, das er nach dem Festlande Amerikas senden könnte. Ein böses Geschick hat es gewollt, daß das letzte vor drei Wochen in See ging, als es die sterblichen Ueberreste Cyrus Bikerstaff's und der bei dem Kampfe vor Erromango gefallnen Leute zur Beerdigung fortführte. Damals kam es gewiß niemand in den Sinn, daß Fragen der Eigenliebe Standard-Island in noch schlimmere Verhältnisse als die durch den Ueberfall der Neu-Hebridier versetzen könnten.

Ja, was nützt es denn, Milliarden zu besitzen, reich zu sein wie die Rothschild's, die Mackay's, Astor's, Vanderbilt's oder die Gould's, wenn kein Reichthum im Stande ist, den Hunger zu beschwören! Wohl haben diese Nabobs[381] den größten Theil ihres Vermögens in Banken der Alten und der Neuen Welt in Sicherheit gebracht, doch wer weiß, ob nicht der Tag schon nahe ist, wo sie sich auch für eine Million kein Pfund Fleisch oder Brod verschaffen können!

Die Schuld liegt dabei freilich nur an ihren sinnlosen Zänkereien, ihrer thörichten Rivalität, an ihrem Verlangen, die Gewalt in die Hände zu bekommen. Sie, die Tankerdon's und die Coverley's, sind die Urheber all dieses Unheils! Und sie mögen sich nur hüten vor den Repressalien, vor dem gerechten Zorne der Officiere, der höhern und niedern Beamten, der Händler und der ganzen Bevölkerung, die sie in so schwere Gefahr gebracht haben. Wessen werden die Bedauernswerthen fähig sein, wenn sie erst die Qualen des Hungers empfinden!

Diese Vorwürfe gelten aber nicht Walter Tankerdon und ebensowenig Miß Dy Coverley, auf die kein Tadel, der nur ihre Väter trifft, fallen kann. Nein, der junge Mann und das junge Mädchen sind nicht verantwortlich zu machen; in ihnen erblickte man ja das Band, das die Zukunft beider Stadthälften sichern sollte, und sie, sie haben das nicht zerrissen.

Im Laufe von achtundvierzig Stunden konnte wegen stets bedeckten Himmels kein Besteck gemacht und die augenblickliche Lage Standard-Islands also kaum annähernd bestimmt werden.

Am Morgen des 31. März zeigte sich der Zenith ziemlich klar und auch der mehr tief liegende seine Nebel löste sich allmählich auf. Nun durfte man hoffen, eine Sonnenhöhemessung ausführen zu können.

Alles wartet darauf mit fieberhafter Spannung. Mehrere hundert Einwohner haben sich nach der Rammspornbatterie begeben und Walter Tankerdon hat sich diesen angeschlossen. Doch weder sein Vater, noch Nat Coverley oder einer der Notabeln, die man mit Recht anklagen kann, diesen Zustand der Dinge herbeigeführt zu haben, wagen sich aus ihren Hôtels heraus, in die sie der öffentliche Unwille verbannt hat.

Kurz vor Mittag treffen die Beobachter Anstalt, die Höhe der Sonne im Augenblicke ihrer Culmination festzustellen. Zwei Sextanten, einer in den Händen des Königs von Malecarlien, der andre in denen des Commodore Simcoë, sind nach dem Himmel gerichtet.

Nach Aufnahme der Mittagshöhe nimmt man, unter Berücksichtigung der nöthigen Correctionen, die Berechnungen vor und diese ergeben


29°17 ' südliche Breite.
[382]

Zwei Stunden später erhält man durch eine zweite, und unter gleich günstigen Bedingungen verlaufende Beobachtung als Resultat für die Länge


179°32' östl. von Paris.


Seit Standard-Island also eine Beute der wahnsinnigen Drehbewegung war, ist es durch Strömungen gegen tausend Meilen weit nach Südosten getrieben worden.

Nach Eintragung der genauen Lage auf der Karte erkennt man folgendes:

Die nächsten, doch immer noch gegen hundert Meilen entfernten Inseln bilden die Gruppe der Kermadeck... öde, kaum bewohnte und aller Hilfsquellen baare Felsen, und auch nach diesen konnte man sich nicht hinbewegen. Dreihundert Meilen südlicher liegt Neuseeland... Doch wie dahin gelangen, wenn die Strömung nach dem hohen Meere zu verläuft? Fünfzehnhundert Meilen im Westen befindet sich Australien, und einige tausend Meilen weit im Osten Südamerika, genauer etwa Chile. Jenseits Neuseelands breitet sich die Eiswüste des Antarktischen Polarmeeres aus. Soll es Standard-Island beschieden sein, an dessen unwirthlichen Küsten zu zerschellen? Sollten später dahinkommende Schiffer eines Tages die Ueberreste einer ganzen, vor Elend und Hunger umgekommenen Bevölkerung auffinden?

Der Commodore Simcoë ist bemüht, die Strömungen dieser Meeresgegend aufs eingehendste zu studieren. Was wird geschehen, wenn jene sich nicht ändern, wenn sie keine entgegengesetzte Strömung treffen, wenn einer der furchtbaren Stürme losbricht, die in circumpolaren Gegenden so häufig sind?

Diese Fragen sind gewiß geeignet, neue Unruhe zu erwecken. Die Geister lehnen sich mehr und mehr auf gegen die Urheber des Unglücks, gegen die Nabobs von Milliard-City, die für dessen Lage verantwortlich sind. Es bedarf des ganzen Einflusses des Königs von Malecarlien, der ganzen Energie des Commodore Simcoë und des Colonel Stewart, der ganzen Ergebenheit der Officiere und deren ganzer Autorität über die Seeleute und die Soldaten der Miliz, um eine Empörung zu verhüten.

Ohne Aenderung schleichen die Tage dahin. Jedermann hat sich bezüglich der Ernährung auf die festgesetzten Rationen beschränken müssen – die reichsten Leute ebenso gut wie die übrigen.

Der Wachdienst wird inzwischen mit peinlichster Aufmerksamkeit gehandhabt und der Horizont sorgfältig abgesucht. Wenn ein Schiff auftauchte, würde man ihm ein Signal geben, und vielleicht würde es dadurch möglich, die unterbrochnen[383] Verbindungen mit der übrigen Welt wieder herzustellen. Leider treibt die Propeller-Insel außerhalb der Schiffsstraßen und es sind immer nur sehr wenige Fahrzeuge, die die Grenzgewässer des Antarktischen Meeres kreuzen. Und da unten im Süden steigt vor dem Auge der erhitzten Phantasie das Gespenst des Poles auf, über den sich der vulcanische Lichtschein vom Erebus und vom Terror verbreitet.

In der Nacht vom 3. zum 4. April ereignete sich einmal ein glücklicher Umstand. Der seit einigen Tagen sehr heftige Nordwind flaute plötzlich ab. Es folgt ihm eine Windstille und dann springt der Wind unerwartet von Südost auf in Folge einer atmosphärischen Laune, wie sie um die Zeit der Tag- und Nachtgleichen ja so häufig sind.

Der Commodore Simcoë schöpft wieder etwas Hoffnung. Es genügt, daß Standard-Island nur etwa hundert Seemeilen nach Westen verschlagen wird, wo es dann eine Gegenströmung nach Australien oder Neuseeland führen würde. Jedenfalls ist seinem weitern Abtreiben nach dem Polarmeere zu Einhalt gethan, und damit rückt die Wahrscheinlichkeit, einem Schiffe in der Nähe der großen australasischen Länder zu begegnen, entschieden näher.

Mit Sonnenaufgang hat die Südostbrise merkbar aufgefrischt, und deutlich empfindet Standard-Island ihren Einfluß. Seine Hochbauten, das Observatorium, das Stadthaus, der Tempel und die Kathedrale bieten dem Winde immerhin einige Angriffspunkte. Sie vertreten die Stelle der Segel an Bord dieses Riesenfahrzeugs von vierhundertzweiunddreißig Millionen Tonnen.

Obwohl der Himmel von rasch dahinfliegenden Wolken gestreift ist, wird eine Ortsbestimmung, da die Sonne dann und wann durchbricht, doch vielleicht ausführbar sein.

In der That gelang es zweimal, die Höhe der Sonne zwischen den Wolken zu messen.

Die Berechnungen ergaben dann, daß Standard-Island seit gestern wieder um zwei Grad nach Norden getrieben ist.

Das ist schwerlich damit zu erklären, daß die Schrauben-Insel nur dem Drucke des Windes gefolgt wäre; es liegt vielmehr der Schluß nahe, daß sie in einen der großen Stromwirbel gerathen ist, die die Strömungen im Stillen Ocean trennen, daß sie das Glück gehabt hat, den nach Nordwesten laufenden Theil eines solchen Wirbels zu treffen und ihre Aussichten auf Rettung zu verbessern. Doch wahrhaftig, diese darf nicht mehr lange ausbleiben, denn wiederum ist esschon nöthig geworden, die Proviantrationen herabzusetzen. Die Vorräthe verringern sich in einem Grade, der, angesichts der Verpflichtung, zehntausend Menschen zu ernähren, sehr beunruhigend ist.

Durch die Bekanntgabe der letzten astronomischen Beobachtung an die beiden Häfen und an die Stadt vollzieht sich eine Art Beruhigung der Gemüther. Es ist ja bekannt, wie schnell die große Menge von einer Empfindung zur andern, von der Verzweiflung zur Hoffnung überspringt. Dasselbe war hier der Fall. Die Einwohnerschaft. die sich von der in die Großstädte des Festlands eingepferchten erbärmlichen Menge so sehr unterscheidet, sollte wohl der Bethörung minder unterworfen, sollte überlegender und geduldiger sein... und war das sonst auch wirklich. Bei drohender Hungersnoth ist freilich alles möglich.


 Der Thurm stürzte mit Donnerkrachen zusammen. (S. 389.)
Der Thurm stürzte mit Donnerkrachen zusammen. (S. 389.)

Im Laufe des Vormittags zeigt der Wind Neigung, an Stärke noch weiter zuzunehmen. Der Barometer sinkt langsam. Das Meer erhebt sich zu langen, gewaltigen Wogen, ein Beweis, daß im Südosten schwere atmosphärische Störungen geherrscht haben müssen. Das sonst unerschütterliche Standard-Island spürt jetzt die großen Niveauveränderungen des Wassers entschieden mehr. Einige Häuser gerathen in bedrohliches Schwanken und die Gegenstände darin werden von ihrem Platze verschoben, wie das bei Erdbeben vorkommt. Die den Milliardesern ganz neue Erscheinung ruft natürlich wieder große Beunruhigung hervor.

Der Commodore Simcoë und sein Personal verweilen ununterbrochen auf dem Observatorium, wo jetzt alle Dienstzweige vereinigt sind. Die Stöße, die das Gebäude erschüttern, erfüllen sie nicht minder mit Besorgniß, und sie können sich den Ernst der Lage nicht wohl verhehlen.

»Ganz zweifellos, sagt der Commodore, hat Standard-Island in seinem Unterbau gelitten. Die Einzelkammern werden sich zum Theil gelockert haben, der ganze Rumpf zeigt nicht mehr die Widerstandsfähigkeit, die ihn früher so vortheilhaft auszeichnete.

– Und Gott gebe, setzt der König von Malecarlien hinzu, daß unsre Insel keinen heftigen Sturm auszuhalten hat, sie würde ihm wohl nicht mehr widerstehen!«

Ja, jetzt hat die Einwohnerschaft das Vertrauen zu ihrem künstlichen Erdboden verloren. Sie fühlt, daß ihr der Stützpunkt unter den Füßen schwindet.. Da wäre es freilich hundertmal besser, auf den Felsen der antarktischen Länder zu stranden. Jeden Augenblick zu befürchten, daß Standard-Island sich aufthut und in den Abgründen des Stillen Oceans, deren Tiefe die Sonde noch nicht[387] überall zu messen ausreichte, versinkt... dem können auch die muthigsten Herzen nicht ohne Zagen entgegensehen.

Es kann nun gar nicht mehr bezweifelt werden, daß einzelne Abtheilungen des Unterbaues neue Havarien erlitten haben. Da haben sich gewiß Zwischenwände von einander gelöst und sind viele Nieten abgesprengt worden.

Im Parke, längs des Serpentineflusses, wie in den äußersten Straßen der Stadt bemerkt man ein unbestimmtes Auf- und Abschaukeln, das offenbar von dem sich verschiebenden Untergrunde herrührt. Schon senken sich mehrere Gebäude recht bedenklich, und wenn sie zusammenbrechen, zertrümmern sie sicherlich den Untergrund, der sie trug. An das Verstopfen entstandner Lecke ist aber gar nicht zu denken. Daß in verschiedne Abtheilungen des Untergrundes Wasser eingedrungen ist, liegt auf der Hand, denn die Schwimmlinie hat sich jetzt verändert. Fast am ganzen Umkreise, an den beiden Häfen wie an der Rammsporn- und an der Achterbatterie, ist die Propeller-Insel um etwa einen Fuß gesunken, und wenn sich das weiter fortsetzt, werden die Wellen über den Uferrand zu schlagen anfangen. Wenn das Gleichgewicht Standard-Islands aber einmal gestört ist, kann dessen gänzlicher Untergang nur noch eine Frage der Zeit sein.

Der Commodore Simcoë hätte diese Sachlage gern verheimlicht, denn sie mußte eine Panik, vielleicht noch schlimmeres hervorrufen. Wozu könnten sich die Einwohner gegen die Urheber dieses Unglücks hinreißen lassen! Sie können ja nicht, wie Passagiere eines Schiffes, ihr Heil in der Flucht suchen, sich in vorhandne Boote werfen oder ein Floß herstellen, auf das sich eine Mannschaft in der Hoffnung rettet, auf einem andern Schiffe Aufnahme zu finden. Hier war dieses Floß, nämlich Standard-Island, dem Versinken nahe.

Von Stunde zu Stunde läßt Commodore Simcoë die Veränderungen der Schwimmlinie aufzeichnen. Das Niveau Standard-Islands sinkt mehr und mehr. In die Kammern des Unterbaues dringt also offenbar langsam, doch unaufhaltsam immer mehr Wasser ein.

Die Witterungsaussichten sind daneben auch noch schlimmer geworden. Der Himmel färbt sich mit bleichem, röthlichem oder kupferrothem Scheine. Der Barometer sinkt noch immer und alles deutet auf einen nahe bevorstehenden Gewittersturm hin. Hinter den aufgehäuften Dunstmassen erscheint der Horizont so nahe gerückt, als wolle er sich um das Ufer Standard-Islands zusammenziehen.

Gegen Abend entfesseln sich schon furchtbare Windstöße. Durch die Gewalt des Seeganges, der von unten her anschlägt, krachen die Kammern, brechen die[388] Versteifungen und zerreißen die Platten. Ueberall hört man den Fortgang der Zerstörung. Die Avenuen der Stadt, die Rasenflächen des Parks drohen sich zu öffnen. Mit Anbruch der Nacht haben sich alle Bewohner aus der Stadt nach den Feldmarken geflüchtet, die, von schweren Gebäuden minder belastet, etwas größre Sicherheit bieten. Alle vertheilen sich zwischen den beiden Häfen und zwischen Rammsporn- und Achterbatterie.

Gegen neun Uhr erschüttert ein besonders starker Stoß Standard-Island bis zum Grunde. Das Elektricitätswerk des Steuerbordhafens versinkt dabei. Es wird so finster, daß man weder Himmel noch Meer mehr sehen kann.

Neue Bodenerschütterungen bringen die Gebäude gleich Kartenhäusern zum Einstürzen. Binnen wenigen Standen dürfte von den Oberbauten Standard-Islands voraussichtlich gar nichts mehr übrig sein.

»Meine Herren, beginnt der Commodore Simcoë, wir können auf dem Observatorium, das jeden Augen blick zusammenzubrechen droht, nicht länger bleiben. Wir wollen aufs Feld hinausgehen und dort das Unwetter abwarten....

– Es ist ein Cyklon, bemerkt der König von Malecarlien, sonst wäre der Barometer nicht bis auf siebenhundertdreizehn Millimeter hinabgegangen.«

In der That ist die Propeller-Insel von einem jener schrecklichen Luftwirbel gepackt worden, jener Drehstürme, die auf der südlichen Halbkugel um eine verticale Achse von Westen durch Süden nach Osten verlaufen. Ein Cyklon bringt vor allem die schrecklichsten Unfälle mit sich, und um diesen zu entgehen, muß man dessen verhältnißmäßig ruhigen Mitteltheil zu erreichen suchen. Das ist beim Mangel einer Triebkraft hier aber ganz unmöglich. Diesmal ist es nicht die menschliche Thorheit, nicht die gedankentose Starrsinnigkeit seiner Hauptpersonen, sondern ein entsetzliches Meteor, das Standard-Island seiner endlichen Zerstörung entgegenführt.

Der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, der Colonel Stewart, Sebastian Zorn und seine Kameraden, die Astronomen und die Officiere verlassen das Observatorium, wo sie nicht länger in Sicherheit sind. Es war die höchste Zeit; kaum sind sie zweihundert Schritte weit entfernt, da stürzt der Thurm mit Donnerkrachen zusammen, durchbricht den Boden des Square und versinkt im Abgrunde. Einen Augenblick später bilden auch die zugehörigen Bauten nur noch einen Trümmerhaufen.

Das Quartett beeilt sich, die Erste Avenue hinauszulaufen, um aus dem Casino seine Instrumente zu retten. Das Casino steht noch aufrecht; sie gelangen[389] ohne Unfall dahin, stürmen nach ihren Zimmern, holen die zwei Geigen, die Bratsche und das Violoncell, und suchen dann im Parke Zuflucht.

Hier sind mehrere tausend Personen aus beiden Stadthälften versammelt und befinden sich auch die Familien Tankerdon und Coverley, zum Glück für sie in solcher Finsterniß, daß sie einander nicht sehen, wenigstens nicht erkennen können.

Walter ist jedoch so glücklich gewesen, die Miß Dy Coverley herauszufinden. Er wird sie im Augenblicke der höchsten Noth zu retten versuchen, wird sich bemühen, mit ihr an einer Seetrift Halt zu gewinnen...

Das junge Mädchen hat es errathen, daß der junge Mann an ihrer Seite ist.

»Ach, Walter! schreit sie auf.

– Dy... meine liebste Dy... ich bleibe bei Dir!... Ich verlasse Dich nicht mehr!«

Unsre Pariser haben sich nicht von einander trennen wollen; sie halten sich dicht beisammen. Frascolin hat sein ruhiges Blut nicht verloren. Yvernes ist sehr nervös, Pinchinat ironisch resigniert Sebastian Zorn aber, neben Athanase Dorémus stehend, der sich seinen Landsleuten zugesellt hatte, sagte zu diesem:

»Nun, hatt' ich's nicht prophezeiht, daß die Sache schlecht ablaufen würde? Ja, das wußte ich im voraus!

– Genug des Tremolierens in Moll, alter Jesaias, ruft ihm Seine Hoheit zu, jetzt stimme lieber Bußpsalmen an!«

Gegen Mitternacht verdoppelt sich die Wuth des Cyklons. Der convergierende Sturm treibt ungeheure Wogen auf und schleudert sie gegen Standard-Island. Wohin wird es dieser Kampf der Elemente verschlagen?... Soll es auf einem Riff zerschellen?... Soll es auf offner See in Stücke gehen?...

Schon ist der Rumpf an tausend Stellen durchlöchert. Allerorts krachen die Verbindungsstücke. Die Monumentalbauten, der Tempel, die Sainte-Mary Church und das Stadthaus versinken durch die gähnenden Spalten, durch die das Meer hohe Wassergarben emporschnellt. Von jenen prächtigen Bauwerken bleibt keine Spur mehr zurück. Wie viele Reichthümer, Schätze, Gemälde, Statuen und Kunstgegenstände werden hier für immer vernichtet! Die Einwohner werden bei Tagesanbruch von dem stolzen Milliard-City nichts mehr sehen, vorausgesetzt, daß es für sie noch einen Tagesanbruch giebt, daß nicht alle vorher mit Standard-Island zusammen verschlungen waren.[390]

Bereits schäumt das Meer über den Park und die Felder hin, wo der Unterbau noch zusammengehalten hat. Die Schwimmlinie hat sich noch weiter gesenkt. Das Niveau der Insel steht mit dem des Meeres fast gleich und der Cyklon wälzt seine riesigen Wogen darüber hinweg.

Nirgends mehr Schutz, nirgends Zuflucht! Die vor dem Winde liegende Rammspornbatterie bietet keine Deckung weder gegen den Wasserschwall, noch gegen den Sturm, der allen wie Hagelkörner ins Gesicht schlägt. Die Einzelkammern im Grunde geben nach, mit einem Krachen, das den stärksten Donner übertäuben würde, reißt und springt alles auseinander. Die letzte Stunde ist für die Unglücklichen nahe....

Gegen drei Uhr früh zertheilt sich der Park auf eine Strecke von zwei Kilometern längs des Serpentineflusses, und das Meer braust gurgelnd durch die Oeffnung. Jetzt heißt es eiligst entfliehen, und die ganze Bevölkerung zerstreut sich über die Felder Die Einen laufen nach den Häfen. die Andern nach den Batterien. Familien kommen auseinander, Mütter suchen vergeblich ihre Kinder, während die entfesselten Wellen gleich einer Springfluth über Standard-Island hinwegrollen.

Walter Tankerdon, der Miß Dy nicht verlassen hat, will sie nach dem Steuerbordhafen hin schleppen. Er hebt die halb Bewußtlose auf, trägt sie auf den Armen fort, und dringt unaufhaltsam vor durch das Angstgeschrei der Menge, durch die furchtbare Finsterniß....

Um fünf Uhr morgens wird ein neues Reißen und Platzen in östlicher Richtung hörbar.


Einen Augenblick später bilden die Gebäude einen Trümmerhaufen. (S. 389.)
Einen Augenblick später bilden die Gebäude einen Trümmerhaufen. (S. 389.)

Ein Stück von einer halben Quadratmeile Umfang hat sich von Standard-Island abgelöst.

Der Steuerbordhafen ist es, der mit seinen Anlagen, Maschinen und Vorrathshäusern davontreibt.


Der Sturm treibt ungeheure Wogen auf. (S. 390).
Der Sturm treibt ungeheure Wogen auf. (S. 390).

Unter den verdoppelten Schlägen des Cyklons, der jetzt den Gipfel der Wuth erreicht hat, wird Standard-Island wie eine Seetrift umhergeworfen. Sein Rumpf zertheilt sich noch weiter... die Einzelkammern trennen sich und verschwinden, von Wasser überlastet, in der Tiefe des Oceans.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Nach dem Krach der Actiengesellschaft der Krach der Propeller-Insel!« ruft Pinchinat.

Das richtige Schlagwort, das die Lage trifft.[391]

Jetzt ist von dem wunderbaren Standard-Island nichts mehr übrig, als verstreute Stücke, ähnlich den sporadischen Fragmenten eines aufgelösten Kometen, die aber nicht im Luftmeere, sondern auf der Oberfläche des ungeheuern Stillen Oceans schwimmen.[392]

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 377-385,387-393.
Lizenz:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon