[16] Der Flüchtling befand sich vorläufig in Sicherheit. Wölfe können nicht ebenso klettern wie Bären, die in den livländischen Wäldern übrigens nicht weniger zahlreich vorkommen und sehr gefährlich sind. Er brauchte ja aber nicht eher hinunterzusteigen, als bis sich die Tiere zurückgezogen hatten, was jedenfalls mit Tagesanbruch geschehen würde.
Jetzt fragte er sich auch, warum denn die »Leiter« an diesem Orte angebracht war und woran sie mit ihrem oberen Ende festsaß.
Wie erwähnt, war das an einer Nabe oder einem kleinen Rade, von wo noch drei ähnliche Leitern hinausragten... in Wahrheit, zusammen die vier Flügel einer Mühle, die sich unweit von dem Abflusse der Embach aus dem See auf einem kleinen Erdhaufen erhob. Glücklicherweise war die Mühle nicht in Gang gewesen, als der Flüchtling einen ihrer Flügel erkletterte.[16]
Freilich lag die Möglichkeit vor, daß die Mühle beim ersten Tagesschein in Betrieb gesetzt würde, wenn sich einigermaßen Wind erhob. Dann mußte es schwierig werden, sich auf ihrer sich drehenden Welle zu erhalten, und außerdem würde der Müller, wenn er seine Leinwand ausgespannt und die Mühle mit dem äußeren Hebelbaum richtig gedreht hatte, den an der Kreuzungsstelle der Flügel sitzenden Mann bemerken. Einen Abstieg konnte der Flüchtling aber trotzdem nicht wagen.
Noch schwärmten die Wölfe um den Erdhaufen und drohten mit ihrem Geheul Leute in einigen nahe liegenden Häuschen zu wecken.
Hier gab es nur einen Ausweg: ins Innere der Mühle einzudringen, sich für den Tag über zu verstecken, wenn – was sehr wahrscheinlich war – der Müller sich nicht darin aufhielt, und den Abend abzuwarten, um dann weiter zu wandern.
Der Mann schwang sich deshalb nach dem Dache hinauf und erreichte glücklich die Luke für den Hebelbaum, der schräg hinunter fast bis zur Erde verlief.
Die Mühle war, wie hierzulande allgemein, mit einer Art umgedrehter Schale, oder vielmehr mit einer Art Mütze ohne Rand bedeckt. Dieses Dach rollte auf einer Reihe von Laufrädchen im Innern, mit deren Hilfe die ganze Einrichtung leicht in die gewünschte Lage gebracht werden konnte. Hieraus geht hervor, daß das hölzerne Hauptbauwerk unbeweglich auf dem Erdboden ruhte und nicht auf einem Zapfen in der Mitte, wie die meisten Mühlen in Holland. Zwei offene, einander gegenüberstehende Türen vermittelten den Zutritt.
Durch die Luke konnte der Flüchtling trotz ihrer Enge ohne besondere Schwierigkeit und ohne Geräusch hineinschlüpfen. Im Innern lag hier eine Art Dachkammer, durch die wagrecht der Wellbaum verlief, der wieder durch ein Zahngetriebe mit der senkrechten Welle in Verbindung stand, durch die das eigentliche Mühlwerk im unteren Raume in Bewegung gesetzt wurde.
Die Stille war hier ebenso tief wie die Finsternis. Daß sich in der untern Abteilung zu dieser Stunde niemand befände, war als ziemlich gewiß anzunehmen. Eine steile, an der Plankenwand hin verlaufende Treppe führte nach diesem unteren Raume, der als Fußboden nur den Erdhaufen hatte. Die Vorsicht gebot jedoch, die Dachkammer nicht zu verlassen. Erst essen, dann schlafen, das waren die zwei dringendsten Bedürfnisse, die der Flüchtling nicht mehr lange unbefriedigt lassen konnte. Er verzehrte also den Rest seines Mundvorrates, was ihn freilich nötigte, sich im Laufe der nächsten Wanderung neuen zu beschaffen. Wo und wie... das würde sich ja finden.[19]
Gegen sieben Uhr früh war der Nebel aufgestiegen und die Umgebung der Mühle nun bequem zu erkennen. Beim Herausbiegen aus der Luke sah man da, zur Rechten eine von der Schneeschmelze mit Tümpeln bedeckte Ebene, durch die nach Westen zu eine endlose Straße mit dicht beieinander liegenden Baumstämmen verlief, denn sie durchschnitt eine Sumpfstrecke, über der ganze Völker von Wasservögeln flatterten. Zur Linken dehnte sich der – bis auf die Mündungsstelle der Embach – noch mit Eis bedeckte See aus.
Da und dort ragten einzelne Fichten und Tannen mit düsterem Nadelschmuck auf, die dadurch in auffallendem Gegensatze zu entblätterten Ahornen und Erlen standen.
Der Flüchtling bemerkte zuerst, daß die Wölfe, deren Geheul schon seit einer Stunde verstummt war, den Platz verlassen hatten.
»Gut, murmelte er für sich hin, doch die Zollbeamten und die Polizisten sind mehr zu fürchten als dieses Raubgesindel. Je näher der Küste, desto schwieriger wird es sein, den Häschern zu entgehen... Ich falle schon fast in Schlaf, doch vorher muß ich noch untersuchen, wie es im Fall eines Alarms möglich ist, zu entfliehen.«
Der Regen hatte aufgehört, die Luftwärme war um einige Grad gestiegen und der Wind war mehr nach Westen umgeschlagen. Da er schon ziemlich lebhaft wehte, lag die Befürchtung nahe, daß der Müller seine Mühle wieder arbeiten lassen werde.
Beugte man sich zur Luke hinaus, so sah man in der Entfernung von einer halben Werst vereinzelt mehrere Häuschen mit stellenweise weißen Strohdächern, aus denen schwache Rauchwolken hervorwirbelten. Dort wohnte jedenfalls der Besitzer der Mühle, und es empfahl sich, die Häusergruppe im Auge zu behalten.
Der Flüchtling wagte sich jetzt auf die Stufen der Innentreppe und stieg nun bis zu dem Gebälk hinunter, worauf das Triebwerk ruhte. Unten standen eine Anzahl Säcke mit Getreide. Die Mühle war also nicht verlassen, sie arbeitete jedenfalls, wenn der Wind zur Drehung ihrer Flügel stark genug war, folglich konnte der Müller jetzt jeden Augenblick kommen und sie gegen den Wind einstellen.
Unter diesen Verhältnissen wäre es unklug gewesen, im untern Raum zu verweilen, und ratsamer erschien es, wieder nach dem Dachraum zu gehen und da einige Stunden Schlaf zu genießen. Unten drohte die Gefahr, überrascht zu[20] werden. Die beiden in die Mühle führenden Türen waren nur durch einfache Fallklinken geschlossen, und jeder Beliebige, der bei etwaigem Wiedereinsetzen des Regens nach einer Zuflucht spähte, konnte in der Mühle Unterkunft suchen. Übrigens frischte auch der Wind weiter auf, und der Müller mußte sich bald einstellen.
Der Mann begab sich über die Holztreppe also wieder nach oben, wobei er einen letzten Blick durch die kleinen Öffnungen in der Wand gleiten ließ, er erreichte den Dachraum und versank hier, von Müdigkeit überwältigt, in tiefen Schlaf.
Welche Zeit mochte es sein, als er wieder erwachte?... So gegen vier Uhr. Es war heller Tag, die Mühle stand aber noch immer still.
Ein glücklicher Zufall wollte es, daß er, der Flüchtling, als er von der Kälte halb erstarrt erwachte, sich beim Ausdehnen der Glieder nur schwach bewegte, was ihn vor einer großen Gefahr bewahrte.
Er vernahm nämlich einen Austausch von Worten aus dem untern Raume, wo mehrere Personen ziemlich lebhaft miteinander sprachen. Diese waren eine halbe Stunde vor seinem Erwachen eingetreten, und er wäre zweifellos entdeckt worden, wenn sie die Dachkammer bestiegen hätten.
Der Mann hütete sich jetzt vor jeder Bewegung. Auf dem Fußboden hingestreckt, lauschte er gespannt auf das, was unter ihm gesprochen wurde.
Schon die ersten Worte verrieten ihm, wer die Leute da unten waren. Er begriff sofort, welcher Gefahr er entgangen sein würde – wenn er ihr überhaupt entging – das heißt, wenn es ihm gelang, die Mühle vor oder nach dem Weggange der Männer zu verlassen, die jetzt mit dem Müller sprachen.
Es waren das drei Polizeibeamte, ein Brigadier mit zwei seiner Untergebenen.
Jener Zeit begann die Russifizierung der Verwaltung in den baltischen Provinzen noch kaum mit der Ausschließung der dortigen germanischen Elemente zugunsten der slawischen. Hier standen noch eine Menge Polizisten deutscher Herkunft in Dienst. Unter diesen zeichnete sich der Brigadier Eck durch seinen Diensteifer aus und durch die Strenge, mit der er ebenso den Angehörigen seiner eigenen Rasse wie den Russen Livlands entgegentrat. Ein schlauer und bei seinen Vorgesetzten gut angeschriebener Patron, verfolgte er mit wahrem Feuereifer die ihm überwiesenen Kriminalfälle, setzte seinen Stolz in jeden erzielten Erfolg und ließ sich durch keinen Fehlschlag abschrecken. Bei der ihm[21] jetzt anvertrauten wichtigen Nachforschung entwickelte er um so größere Energie, als es sich hier um das Aufgreifen eines aus Sibirien entflohenen Sträflings, eines Livländers von moskowitischer Herkunft handelte.
Während der Flüchtlingschlief, war der Müller nach der Mühle gekommen, um hier den Tag über seiner Beschäftigung nachzugehen. Gegen neun Uhr hatte er gemeint, daß der Wind kräftig genug sei, und wenn er die Flügel da in Bewegung gesetzt hätte, wäre der Schläfer gewiß beim ersten Geräusch davon erwacht. Infolge eines seinen Regens frischte der Wind aber nicht weiter auf. Der Müller stand wartend an seiner Tür, als Eck und die anderen Polizisten ihn bemerkten und in die Mühle eintraten, um von ihm einige Erkundigungen einzuziehen.
»Du weißt nichts davon, begann Eck, von einem etwa dreißig- bis fünfunddreißigjährigen Mann, der hier am Ende des Sees aufgetaucht wäre?
– Nicht das geringste, versicherte der Müller. Zur jetzigen Jahreszeit kommen im Laufe des Tages kaum zwei Personen in unseren Weiler. Handelt sich's um einen Ausländer?
– Einen Ausländer?... Nein, um einen Russen, und zwar um einen solchen aus den baltischen Provinzen.
– Ah... um einen Russen? wiederholte der Müller.
– Jawohl... um einen Schurken, den zu fangen für mich sehr wichtig ist!«
Für einen Polizeibeamten ist ein Flüchtling natürlich immer ein Schurke, ob dieser nun wegen eines politischen Vergehens oder wegen eines Verbrechens gegen das gemeine Recht verurteilt gewesen war.
»Und ihr seid ihm wohl auf den Fersen?
– Seit vierundzwanzig Stunden, wo sein Erscheinen an der livländischen Grenze gemeldet worden war...
– Ist es bekannt, wohin er will? fuhr der von Natur etwas neugierige Müller fort.
– Das liegt doch auf der Hand, erwiderte Eck. Er geht natürlich dahin wo er auf ein Schiff kommen kann, sobald das Meer eisfrei ist... jedenfalls nach Reval oder vor allem nach Riga.«
Der Brigadier wies mit Recht auf diese Stadt, das alte Kolywan der Russen, hin, einen Platz, wo der Seeverkehr des Nordens des Reiches zusammenströmt. Diese Stadt steht durch die kurländische Küstenbahn auch in unmittelbarer Verbindung mit St. Petersburg. Für einen Flüchtling war es also wichtig,[22] sich nach Reval durchzuschlagen, das gleichzeitig ein Seebadeort ist, oder, wenn nicht Reval selbst, so doch sein Vorort Balliskly, der am Ausgange der dortigen Bucht liegt und deshalb zuerst von der Einschließung durch Eis frei wird. Bis Reval, einer der alten Hansestädte, die zu einem Drittel von Deutschen, zu zwei Dritteln von Esthländern bewohnt ist, waren es von der Mühle aus freilich noch hundertvierzig Werst, eine Strecke, die vier starke Tagesmärsche in Anspruch nahm.
»Warum denn nach Reval? bemerkte dazu der Müller. Der Spitzbube täte doch weit besser, sich Pernau zuzuwenden.«
Bis dahin hatte dieser in der Tat nur hundert Werst zurückzulegen. Was aber das doppelt so weit wie Pernau entlegene Riga betraf, schien es überflüssig, die Nachsuchungen nach dieser Richtung hin auszudehnen.
Natürlich vernahm der Flüchtling, der sich in der Dachkammer nicht rührte, den Atem anhielt und voller Spannung lauschte, die unten gewechselten Worte, woraus er für sich Nutzen zu ziehen hoffte.
»Ja freilich, Pernau ist im Auge zu behalten, antwortete der Brigadier, und die Patrouillen von Fallen haben schon Auftrag, das Land dort zu überwachen. Immerhin ist anzunehmen, daß unser Ausreißer sich nach Reval wenden werde, wo er am frühesten zu Schiffe gehen könnte.«
Das war auch die Ansicht des Majors Verder, der damals unter der Leitung des Obersten Raguenos die Polizei der Provinz Livland befehligte. Auch Eck hatte sich schon in demselben Sinne schlüssig gemacht.
Teilte der Oberst Raguenos, ein Slawe von Geburt, auch nicht die Sympathien und Antipathien des Majors Verder, der von deutscher Abkunft war, so stimmte der zweite in dieser Beziehung doch mit seinem Untergebenen, dem Brigadier Eck, vollständig überein. Einigermaßen ausgleichend und mäßigend stand über beiden aber noch der Gouverneur der baltischen Provinzen, General Gorko. Dieser hohe Beamte teilte übrigens vollständig die Absichten der Reichsregierung, die, wie schon erwähnt, darauf hinausgingen, die Verwaltung der Provinzen allmählich zu russifizieren.
Das Gespräch in der Mühle dauerte noch einige Minuten an. Der Brigadier beschrieb den Flüchtling entsprechend dem Signalement, das den verschiedenen Polizistenabteilungen des Landes übermittelt worden war: Größe übermittel, Körperbau kräftig, Alter etwa fünfunddreißig Jahre; Bart voll und stark Kleidung brauner Kaftan, wenigstens zur Zeit, wo der Gesuchte die Grenze überschritten hatte.[23]
»Ich versichere wiederholt, äußerte dazu der Müller, daß sich ein solcher Mann... ein Russe, sagtet ihr?...
– Jawohl, ein Russe.
– Nun, ich erkläre, daß er sich in unserem Weiler nicht gezeigt hat, und ihr würdet in keinem Hause auch nur eine Spur von dem Gesuchten finden.
– Du weißt, fügte der Brigadier noch hinzu, daß jeder, der ihm Unterschlupf gewährt, Gefahr liefe, verhaftet und gleich einem Mitschuldigen behandelt zu werden.
– Das Väterchen möge uns seinen Schutz verleihen... ja, das weiß ich, und werde mich keiner solchen Gefahr aussetzen!
– Recht so, meinte der Brigadier, es ist auch klug und weise, mit dem Major Verder nichts zu tun zu haben.
– Ich werde mich schön hüten, Brigadier.«
Eck brach nun auf und bemerkte nur noch im Fortgehen, daß seine Leute und er das Land zwischen Pernau und Reval weit absuchen würden und daß die Polizeipatrouillen Befehl erhalten hätten, miteinander in Verbindung zu bleiben.
»Halt, sagte der Müller, der Wind geht ja mehr nach Südwesten um und wird auch stärker. Könnten mir eure Leute nicht ein wenig helfen, die Mühle zu drehen?... Dann brauchte ich nicht erst andere Hilfe herbeizuholen und könnte die ganze Nacht hier bleiben.«
Eck erlaubte das mit Vergnügen. Seine Polizisten gingen zur gegenüberliegenden Tür hinaus, packten an dem großen Hebelbaum an und drehten das Dach auf seinen Laufrollen, bis die Flügel richtig gegen den Wind eingestellt waren. Kaum waren diese mit Segelleinwand bezogen, da ließ die Mühle nach Einrückung des Zahnradgetriebes schon ihr regelmäßiges Tick-tack hören.
Der Brigadier und seine Leute wanderten nun in nordwestlicher Richtung hinaus.
Dem Flüchtling war von dem ganzen Gespräche nichts entgangen. Aus diesem ergab sich, daß ihn die schlimmsten Gefahren im letzten Teile seiner abenteuerlichen Fahrt bedrohten. Sein Eintreffen war hier gemeldet worden. Die Patrouillen sollten im gegenseitigen Einverständnis vorgehen, sich seiner zu bemächtigen. Erschien es nun ratsam, weiter auf Reval zu wandern?... Nein, dachte er. Besser, er ginge auf Pernau zu, das er in kürzerer Zeit erreichen könnte. Bei der jetzigen Zunahme der Temperatur konnte, in der Ostsee wie im finnischen Meerbusen, der Aufbruch des Eises sich nicht mehr lange verzögern.
Hierüber im Klaren, galt es für ihn nur noch, aus der Mühle zu entkommen, sobald die Dunkelheit die weitere Flucht ermöglichte.
[24]
Wie sollte das aber geschehen, ohne die Aufmerksamkeit des Müllers zu erregen?... Da dessen Mühle bei dem stetig gewordenen Winde arbeitete, richtete er sich hier unzweifelhaft gleich für die folgende Nacht ein. An einen Versuch, nach dem untern Raum zu gelangen und durch die eine oder andere Tür zu entweichen, war überhaupt nicht zu denken. Viel leicht war es möglich, durch die Dachluke zu schlüpfen. bis zu dem großen, zur Bewegung des Daches dienenden Hebelbaume zu kriechen und über diesen hin den Erdboden zu erreichen.
Ein gewandter kräftiger Mann konnte das wohl versuchen, obgleich sich die Flügelwelle drehte und die Gefahr nahe lag, sich in den Zähnen des Triebwerkes zu fangen. Dann war einer freilich bedroht, zermalmt zu werden, doch darauf durfte es jetzt nicht ankommen.
Noch fehlte eine Stunde, bis es finster genug wäre. Wenn der Müller nun aber vorher in den Dachraum hinauskam, sobald ihn irgend ein Umstand dazu veranlaßte... konnte der Flüchtling auch dann noch hoffen, unentdeckt zu bleiben?... Nein, gleichgültig, ob es dann noch hell oder schon dunkel war, denn im zweiten Falle würde der Müller ja eine Laterne mitbringen.
Nun, wenn der Müller den Dachraum bestieg und den Mann bemerkte, der sich da versteckt hatte, so wollte dieser sich auf ihn stürzen, ihn niederwerfen und knebeln. Leistete der Müller Widerstand und versuchte er, sich zu verteidigen, drohten seine Rufe den Weiler zu alarmieren, dann wehe dem Armen! Das Messer des Flüchtlings hätte ihm dann in der Kehle gesessen und jeden Aufschrei erstickt. Dieser wäre doch wahrlich nicht von so weit hierher gekommen, und hätte so vielen Gefahren getrotzt, um zuletzt vor irgend einem Mittel zur Erlangung seiner Freiheit zurückzuschrecken.
Immerhin bewahrte er die Hoffnung, nicht zu dem verzweifelten Mittel des Blutvergießens greifen zu müssen, um wieder fort zu kommen. Der Müller hatte ja im Dachraume kaum etwas zu suchen, er mußte vielmehr seine Mühlsteine im Auge behalten, die sich bei dem schnellen Gange der großen Flügel mit rasender Geschwindigkeit drehten.
Eine Stunde verstrich unter dem Tick-tack der Welle, dem Knarren des Zahngetriebes, dem Pfeifen des Windes und dem leisen Knirschen der zerdrückten Körner. Langsam ging die unter diesen Breiten immer lange dauernde[27] Dämmerung ins Dunkel des Abends über. Im Inneren des Dachraumes war es schon völlig finster. Jetzt mußte ein Entschluß gefaßt werden. Die nächtliche Wanderung würde gewiß anstrengend werden, galt es dabei doch, vierzig Werst zurückzulegen und deshalb unverzüglich aufzubrechen, sobald das möglich wäre.
Der Flüchtling überzeugte sich, daß sein im Leibgurt getragenes Messer leicht aus der Scheide zu ziehen war. In die Kammer des Revolvers steckte er sechs neue Patronen zum Ersatz für die, die er gegen die Wölfe verschossen hatte.
Nun blieb nur die, übrigens nicht geringe, Schwierigkeit übrig, wieder durch die Dachluke zu schlüpfen, ohne von der sich drehenden Welle erfaßt zu werden, die sich dicht an der Luke auf das Gestell des Mühlwerkes stützte. Gelang das, so war es leicht, von der Ausladung des Daches aus den großen Hebelbaum zu erreichen.
Schon schlich der Flüchtling nach der Luke hin, als sich trotz des Klapperns der Mühle und des Knarrens der Zahnräder ein Geräusch vernehmbar machte.
Es rührte von schweren Tritten her, unter denen die Stufen der Treppe ächzten.
Eine Laterne in der Hand, kam der Müller nach dem Dachraum hinaus.
Er wurde gerade in dem Augenblick sichtbar, wo sich der zu allem entschlossene Flüchtling, den Revolver in der Hand, auf ihn stürzen wollte.
Sobald der Müller aber nur mit halbem Leibe über den Fußboden des Dachraumes emporragte, sagte er:
»Väterchen, jetzt ist's Zeit davonzulaufen! Zögere nicht... geh hinunter... die Tür ist offen.«
Vor Erstaunen fand der Flüchtling keine Antwort. Der wackere Mann wußte also schon, daß er hier war?... Er mußte es beobachtet haben, wie er sich in die Mühle flüchtete?... Das zwar nicht, wohl aber war der Müller, während der Fremde schlief, nach dem Dachraume hinausgekommen, hatte diesen da gesehen, sich aber gehütet, ihn zu wecken. War es nicht ein Russe, wie er selbst? Das erkennen Slawen schon am Gesichtsausdrucke. Er hatte sich gesagt, daß die livländische Polizei diesem Manne nachspürte... Warum?... Das wollte er ihn ebensowenig fragen, wie er ihn dem Brigadier Eck und dessen Polizisten ausgeliefert hätte.
»Geh hinunter,« wiederholte er mit verhaltener Stimme.
Der Flüchtling, dem vor Erregung das Herz stürmisch klopfte, begab sich nach dem unteren Raum, von dessen Türen eine offen stand.[28]
»Hier ist noch einiger Mundvorrat, sagte der Müller, der dabei etwas Brot und Fleisch in den Hängebeutel des Flüchtlings steckte. Ich habe bemerkt, daß der ebenso leer war wie deine Flasche. Fülle sie dir und geh in Gottes Namen...
– Wenn aber die Polizei erführe...
– Suche ihr auszuweichen und mach' dir um mich keine Sorge. Ich frage dich nicht, wer du sein magst, ich weiß nur, daß du ein Slawe bist, und niemals wird ein Slawe den anderen den deutschen Häschern in die Hände spielen.
– O... Dank... tausend Dank! rief der Flüchtling.
– Geh' nun, Väterchen. Gott geleite dich und verzeihe dir, wenn du der Verzeihung bedarfst!«
Die Nacht war tiefdunkel und der am Erdhügel vorüberführende Weg vollständig verlassen. Der Flüchtling winkte dem Müller noch einmal Abschied zu und verschwand dann in der Finsternis.
Auf dem eingeschlagenen neuen Wege handelte es sich nun darum, den Flecken Fallen noch in der Nacht zu erreichen, in dessen Umgebung ein Versteck aufzusuchen und da den folgenden Tag auszuruhen. Vierzig Werst... der Flüchtling würde sie zu überwinden wissen, dann befand er sich nur noch sechzig Werst von Pernau. In zwei Tagemärschen hoffte er, wenn kein Zwischenfall ihn aufhielt, noch vor Mitternacht des 11. April in dieser Stadt einzutreffen. Dort gedachte er sich zu verbergen bis zur Beschaffung der nötigen Mittel, die ihm erlaubten, an Bord eines Schiffes zu gehen, und hier mußten viele solche fertig liegen, mit dem ersten Aufbruch des Ostseeeises auszulaufen.
Rasch schritt der Flüchtling nun dahin, hier über eine offene Ebene, dort am Saume dunkler Weiden- und Birkenwälder. Zuweilen mußte er am Fuße eines Hügels hingehen, mußte engen Schluchten folgen oder kleinere, zwischen den Binsen und Granitblöcken an ihren Ufern nur halb zugefrorene Wasserläufe überschreiten. Der Boden war hier weniger dürr als in der Nähe des Peipussees, wo sich die mit gelblichem Sande vermischte Erde nur mit einer mageren Pflanzenhülle bedeckt. Weit auseinander liegend tauchten schlummernde Dorfschaften auf inmitten flacher, einförmiger Felder, die der Pflug nun bald zur Einsaat von Buchweizen, Roggen, Lein und Hanf durchfurchen sollte.
Die Temperatur hob sich merkbar. Der halbgeschmolzene Schnee verwandelte sich zu einer schlammigen Masse. Dieses Jahr trat das Tauwetter ausnehmend zeitig ein.[29]
Gegen fünf Uhr früh stieß der Flüchtling kurz vor dem Flecken Fallen auf ein altes Gemäuer, wo er sich verstecken konnte, ohne von jemand gesehen worden zu sein. Ein Teil des vom Müller erhaltenen Mundvorrates stärkte ihn schon wieder... das übrige würde der Schlaf tun.
Um sechs Uhr abends brach er, ohne in seiner Ruhe im geringsten gestört worden zu sein, von neuem auf. Wenn er von den sechzig bis Pernau noch übrigen Wersten in der Nacht vom 9. zum 10. April die Hälfte hinter sich brachte, würde das der vorletzte Tagesmarsch sein.
Das gelang ihm auch. Mit Tagesanbruch mußte der Flüchtling Halt machen, diesmal aber, in Ermangelung eines besseren Verstecks, tief in einem Fichtenwalde, eine halbe Werst von der Landstraße. Jedenfalls war das ratsamer, als in einem Bauerngute oder einer Schenke ein Mittagsmahl und einen Ruheplatz zu suchen. Man trifft nicht immer auf so zuvorkommende Leute, wie zwei Tage vorher den Müller.
Am Nachmittage sah der hinter dickem Gebüsch verborgene Mann auf der Straße nach Pernau eine Abteilung Polizisten vorüberziehen. Die Leute machten einen Augenblick Halt, als wollten sie das Weidengesträuch absuchen, gingen aber kurz darauf weiter.
Am Abend um sechs Uhr wurde der Marsch bei wolkenlosem Himmel wieder aufgenommen. Der jetzt fast volle Mond verbreitete einen hellen Schein. Von drei Uhr morgens an schritt der Flüchtling längs des linken Ufers eines Flusses, der Pernowa, nur noch fünf Werst von Pernau entfernt, dahin. Folgte er dem Flusse weiter, so mußte er nach einer Vorstadt dieses Hafenortes kommen, wo er bis zum Tage seiner Abreise in einer bescheidenen Herberge bleiben wollte.
Zur größten Befriedigung sah er, daß auf der Pernowa schon große Eisschollen nach dem Golf hinabtrieben. Noch kurze Zeit, und er war am Ziele seiner endlosen Fahrt, seiner erschöpfenden Tagesmärsche, am Ende aller Mühen und Gefahren. Wenigstens glaubte er das.
Plötzlich erscholl ein Ruf, derselbe, mit dem er bei seiner Ankunft an der livländischen Grenze des Peipussees »begrüßt« worden war und der ihn an den deutschen Anruf »Wer da?« erinnerte.
Diesmal kam er aber nicht aus dem Munde eines Zollbeamten.
Hier war eine Abteilung Polizisten unter Führung des Brigadiers Eck aufgetaucht, die die Straße in der Nähe von Pernau überwachte.[30]
Der Flüchtling stand einen Augenblick still, dann stürmte er die Uferböschung hinunter.
»Dort... das ist er!« rief einer der Polizisten.
Unglücklicherweise verhinderte das helle Mondlicht, ungesehen zu entkommen. Eck und seine Leute machten sich an die Verfolgung des Fliehenden. Da dessen Kräfte schon durch den langen Marsch geschwächt waren, kam er nicht so geschwind wie sonst vorwärts. Es wäre ihm also unmöglich gewesen, den Polizisten zu entlaufen, die sich noch durch keinen zehnstündigen Marsch erschöpft hatten.
»Lieber sterben, als sich fangen lassen!« sagte er für sich.
Und als gerade eine Eisscholle nur fünf bis sechs Fuß vom Ufer vorüber kam, sprang er mit einem verzweifelten Satze auf das Eisstück.
»Feuer!... Feuer!« befahl Eck seinen Leuten.
Vier Schüsse krachten; die Revolverkugeln schlugen aber zwischen die Schollen ein.
Die, die den Flüchtling trug, schwamm mit großer Schnelligkeit hinab, denn die Pernowa hat beim ersten Tauwetter eine sehr starke Strömung.
Eck und seine Leute liefen, freilich vielfach behindert, eiligst am Ufer hin, um bei dem Eistreiben doch sicherer schießen zu können.
Eben wollten sie, Eck an ihrer Spitze, wieder Feuer geben, als sich ein donnerndes Krachen vernehmen ließ. Die Scholle, worauf der Flüchtling sich vorläufig gerettet hatte, stieß mit anderen Eisblöcken zusammen infolge einer plötzlichen Verengerung des Flußbettes an einer schroffen Biegung, die das Wasser nach rechts ablenkte. Die Scholle überschlug sich beinahe ganz, erhob sich wieder, überschlug sich von neuem und verschwand endlich unter Bildung eines Eisschutzes mitten unter den anderen.
Das Treibeis kam zum Stillstand. Die Polizisten sprangen auf die fast starre Decke, liefen darauf hin und her und setzten ihre Nachsuchung wohl eine Stunde lang fort.
Von dem Flüchtlinge keine Spur... wahrscheinlich war dieser bei dem tollen Durcheinander zermalmt worden.
»Besser, wir hätten ihn noch abfangen können, sagte einer der Häscher.
– Ja freilich, antwortete der Brigadier Eck, doch da wir ihn nicht lebend haben ergreifen können, wollen wir wenigstens den Toten zu finden suchen!«[31]
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