Siebentes Kapitel.
Polizeiliche Besichtigung.

[87] Kaum zwei Stunden später rollte ein Wagen mit größter Schnelligkeit auf der Straße nach Pernau hin. Es war das weder eine Telega noch eine Postkutsche, sondern der Reisewagen des Herrn Frank Johausen, doch bespannt mit Postpferden, die an den gewöhnlichen Stellen gewechselt werden sollten. So schnell die Fahrt auch ging, konnte man doch nicht darauf rechnen, den Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« vor Anbruch der Nacht zu erreichen. Der Wagen[87] sollte deshalb an der letzten Pferdewechselstelle Halt machen und beizeiten am nächsten Tage an der Schenke eintreffen.

In dem Landauer saßen der Bankier, der Major Verder, der Doktor Hamine, der den Tatbestand aufnehmen sollte, ferner der mit der Untersuchung des Falles betraute Richter Kerstorf und ein Aktuar. Den hinteren Sitz nahmen zwei Polizisten ein.

Hier noch ein Wort über den Richter Kerstorf, da die anderen Personen in unserer Erzählung schon vorgekommen und wohl hinreichend bekannt sind.

Dieser Beamte, ein Slawe von Geburt und ungefähr fünfzig Jahre alt, erfreute sich bei seinen Kollegen und auch beim Publikum der größten Hochachtung. Jedermann mußte den Scharfsinn, die Findigkeit bewundern, die er bei der Klarstellung aller ihm anvertrauten Kriminalfälle entwickelte. Selbst von zweifelloser Ehrenhaftigkeit, unterlag er niemals einer Beeinflussung irgend welcher Art und blieb jedem Drucke, woher er auch kommen mochte, unzugänglich; auch die Politik war seinen Entschließungen gegenüber ganz ohne Einfluß. Man konnte den Mann mit Recht das verkörperte Gesetz nennen. Wenig mitteilsam und sehr zurückhaltend, sprach er kaum, gab sich dafür aber um so mehr seinen Gedanken hin.

In dieser Angelegenheit herrschten also, wie man in der Physik sagt, zwei einander entgegengesetzte Strömungen, die zu vereinigen gewiß viele Mühe kosten mußte, wenn die Politik mit ins Spiel kam: einerseits der Bankier Johausen und der Major Verder, beide von germanischer Abkunft, anderseits der Doktor Hamine, ein geborener Slawe. Nur der Richter Kerstorf stand erhaben über den Rassenleidenschaften, die jetzt in den baltischen Provinzen gärten.

Während der Fahrt wurde die Unterhaltung – doch mit häufigen Unterbrechungen – nur von dem Bankier und dem Major geführt.

Frank Johausen verhehlte nicht das tiefe Mitleid, das der Tod des unglücklichen Poch in ihm erweckt hatte. Er hegte eine ganz besondere Achtung für diesen Angestellten der Firma, der ihr schon dreißig Jahre mit vollster Ehrlichkeit und einem Pflichteifer ohne gleichen gedient hatte.


Trankel nahm eine Tasse heißen Tee mit einer Zugabe von Wodka zu sich. (S. 84.)
Trankel nahm eine Tasse heißen Tee mit einer Zugabe von Wodka zu sich. (S. 84.)

»Und die arme Zenaïde, setzte er noch hinzu, wie herzbrechend wird ihr Schmerz sein, wenn sie die ruchlose Ermordung dessen erfährt, dem sie jetzt die Hand zum Bunde reichen sollte!«

In der Tat war ja die Hochzeit in Riga auf die nächsten Tage festgesetzt gewesen, und jetzt sollte der Bankbeamte statt nach der Kirche, nach dem Friedhofe geleitet werden![88]

Beklagte der Major auch das traurige Schicksal des Opfers, so beschäftigte ihn doch noch weit mehr die Festnahme des Mörders. Darüber ließ sich freilich nichts sagen, bevor der Schauplatz des Verbrechens besucht, und bevor man wußte, unter welchen Verhältnissen dieses begangen worden war. Vielleicht fand sich am Tatorte ein Hinweis, eine Fährte, die man verfolgen könnte. Der Major Verder war übrigens geneigt, in dieser Mordtat die Hand eines der Landstreicher zu erblicken, von denen gerade dieser Teil Livlands jener Zeit schwer heimgesucht wurde. Er hoffte jedoch, daß der Mörder aus dem »Umgebrochenen Kreuze«, dank den Polizistenabteilungen, die im Lande verteilt waren, der Hand der strafenden Gerechtigkeit nicht entgehen würde.

Die Aufgabe des Doktor Hamine sollte sich auf die gerichtsärztliche Besichtigung und Untersuchung des Leichnams beschränken. Diese wollte und mußte er abwarten, ehe er sich über den Fall aussprechen konnte. Augenblicklich beschäftigte, ja beunruhigte ihn sogar eine ganz andere Angelegenheit. Als er am vorigen Abend wie gewöhnlich nach der Vorstadt hinaus gegangen war, um den Privatlehrer aufzusuchen, hatte er diesen nicht mehr in seinem Hause angetroffen, dagegen von Ilka erfahren, daß ihr Vater verreist wäre. Am nämlichen Tage hatte ihr Nicolef, der ihr vor seinem Fortgange überhaupt nicht zu Gesicht gekommen war, einfach mitgeteilt, daß er Riga für zwei bis drei Tage verlasse. Wohin er gehen wollte, darüber fehlte jede Andeutung, ebenso, ob die Reise schon am Tage vorher geplant gewesen war. Das ließ sich aber annehmen, da Nicolef seit gestern, wo er nach Hause gekommen war, keinen Brief erhalten hatte, der ihn vielleicht hätte abrufen können. Und doch hatte er davon an jenem Abend weder seiner Tochter, noch dem Doktor oder dem Konsul auch nur ein Wort gesagt.

War er ihnen da etwas nachdenklicher oder sorgenvoller erschienen? Vielleicht; doch einen so verschlossenen Mann fragt man ja nicht gern nach der Ursache seiner Sorgen. Gewiß war nur das eine, daß er am nächsten Morgen in früher Stunde Ilka mit wenigen Zeilen von seiner Abreise Mitteilung gemacht hatte. Dann war er fortgegangen, ohne das Ziel seiner Reise anzugeben. Der Doktor Hamine hatte Ilka also sehr beunruhigt verlassen, in einer Unruhe, die er auch selbst teilte.

Der Landauer rollte in schneller Fahrt dahin. Ein vorausgeschickter Berittener sorgte an den Wechselstellen dafür, daß das neue Gespann stets sofort zur Hand war. So ging keine Minute verloren, und hätte der Wagen Riga[91] heute drei Stunden früher verlassen, so hätte die Untersuchung des Falles noch an demselben Tage beginnen können.

Die Luft war trocken und etwas kalt. Der Sturm des vorigen Tages war zu einer leichten nordöstlichen Brise abgeflaut. Nur die Landstraße, die unter dem Unwetter arg gelitten hatte, zwang die Pferde zu besonderer Anstrengung.

In der Mitte des Weges wurde den Reisenden eine halbe Stunde zur Einnahme einer Mahlzeit zugestanden. Sie begaben sich dazu in das mehr als bescheidene Gasthaus des betreffenden Dorfes und fuhren dann sogleich weiter.

Ihren Gedanken nachhängend, verhielten sich alle still. Bis auf wenige, dann und wann zwischen Frank Johausen und dem Major Verder gewechselte Worte herrschte im Wagen tiefes Schweigen. So schnell die Fahrt auf der Straße auch dahinging, meinte man doch, daß die Postillone sich zu viel Zeit nähmen. Der ungeduldigste der Reisegesellschaft, der Major Verder, trieb sie zuweilen zur Eile an, sparte wohl auch einen Fluch nicht und verstieg sich sogar zu Drohungen, wenn der Wagen bei stärkerem Aufstieg oder Fall der Straße langsamer vorwärts kam.

So kam es, daß es schon fünf schlug, als die letzte Wechselstelle vor Pernau erreicht wurde. Die tief am Horizonte stehende Sonne mußte bald verschwinden, und das »Umgebrochene Kreuz« war jetzt wohl noch ein Dutzend Werft entfernt.

»Meine Herren, begann da der Richter Kerstorf, ehe wir nach der Schenke kämen, würde es vollkommen dunkel sein, und das wäre ein ungünstiger Umstand, eine Untersuchung zu beginnen. Ich schlage Ihnen also vor, das bis morgen früh zu verschieben. Da wir in jener Schenke auch keine uns zusagenden Zimmer erhalten können, erscheint es mir ratsamer, die Nacht hier im Gasthause der Wechselstelle zu verbringen.

– Der Vorschlag läßt sich hören, meinte der Doktor Hamine, und wenn wir recht frühzeitig aufbrechen...

– Nun gut, bleiben wir also hier, sagte Frank Johausen, wenigstens wenn der Major Verder dagegen nichts einzuwenden hat.

- O... höchstens, daß meine Nachforschungen dadurch etwas verzögert werden, antwortete der Major, den es drängte, den Schauplatz des Verbrechens zu betreten.

– Der Kabak wird doch wohl seit heute Morgen überwacht? fragte der Richter.[92]

– Jawohl, antwortete der Major Verder. Eine von Pernau eingegangen Depesche meldet mir, daß unverzüglich Polizisten dahin geschickt worden sind mit dem Auftrage, niemand ins Haus und den Schenkwirt mit keiner Person in Verbindung treten zu lassen.

– Unter diesen Umständen, bemerkte dazu der Richter, wird die Verzögerung um eine Nacht der Untersuchung keinen Eintrag tun.

– Nein, das zwar nicht, stimmte der Major ihm bei, doch gewährt sie dem Urheber des Verbrechens Zeit, vielleicht mehrere hundert Werst zwischen sich und das 'Umgebrochene Kreuz' zu bringen.«

Der Major sprach hier als Polizeibeamter, der mit der Ausübung seiner Funktionen eng verwachsen ist. Da der Abend aber näher kam und das Tageslicht in den Schatten der Dämmerung unterging, blieb es das Klügste, den nächsten Tag abzuwarten.

Der Bankier und seine Begleiter richteten sich also im Gasthaus der Wechselstelle so gut es anging ein, verzehrten ein Abendessen und verbrachten die Nacht mehr oder weniger bequem in den ihnen überlassenen Zimmern.

Am nächsten Tage, am 15. April, fuhr der Landauer schon beim Morgenrote weiter und langte um sieben Uhr vor dem Kabak an.

Die nach der Schenke abgesandten Polizisten aus Pernau empfingen die Angekommenen auf der Schwelle des Hauses. Kroff ging in der Gaststube hin und her; er hatte sich ohne Anwendung von Gewalt zurückhalten lassen. Warum sollte er auch seine Schenke verlassen?... Im Gegenteil: seine Anwesenheit war ja schon notwendig, die Polizisten mit allem zu versorgen, was sie bedurften. Er mußte doch auch den Vertretern der Behörde zur Verfügung bleiben, da ihn diese gewiß nach vielem zu fragen haben würden. Und welche Zeugenaussage war zur Einleitung der bevorstehenden Untersuchung denn wertvoller als die seinige?

Die Polizisten hatten obendrein darüber gewacht, daß im Innern wie außerhalb des Kabaks an der Lage der Dinge nichts verändert wurde, weder in den Zimmern des Hauses, noch auf der Landstraße in der nächsten Umgebung der Schenke. Den Bauern aus der Nachbarschaft war strengstens untersagt worden, nahe an diese heranzukommen, und eben jetzt hatten sich wohl ein halbes Hundert Neugierige in gemessener Entfernung versammelt.

Wie er versprochen hatte, war der Schaffner Broks, begleitet von dem Jemschik mit den Spannpferden und einem Stellmacher, früh sieben Uhr wieder[93] am Kabak eingetroffen, wo er Poch und den anderen Reisenden zu finden hoffte und sie, nachdem der Wagen wieder in stand gebracht war, weiterbefördern wollte.

Welchen Schreck mußte nun Broks empfinden, als der Schenkwirt ihn zur Leiche Pochs führte, des unglücklichen Poch, der es so eilig gehabt hatte, nach Riga zurückzukommen, um hier seine Hochzeit zu feiern. Sofort sprang er auf eines der Postpferde, ließ den Postillon und den Stellmacher in der Schenke zurück, und ritt eiligst nach Pernau, um der Polizei von dem Vorgefallenen Meldung zu machen. Von hier ging dann ein Telegramm an den Major Verder in Riga, und auf dessen Anordnung hin begaben sich sofort mehrere Beamte der Kriminalpolizei nach dem »Umgebrochenen Kreuze«.

Broks selbst wollte auch nach dem Kabak zurückkehren, um sich den höheren Beamten, die von ihm jedenfalls eine Zeugenaussage verlangen würden, an Ort und Stelle zur Verfügung zu halten.

Der Richter Kerstorf und der Major Verder begannen inzwischen gleich nach ihrem Eintreffen die erste Untersuchung des Tatbestandes. Die Polizisten, die teils vor dem Hause auf der Landstraße, teils hinter diesem längs des Küchengartens standen oder am Saume des Tannengehölzes patrouillierten, erhielten Befehl, die Neugierigen in gebührender Entfernung zu halten.

Als der Richter, der Major, der Arzt und Herr Johausen die Gaststube betraten, fanden sie hier den Schenkwirt Kroff, der sie in das Zimmer führte, worin die Leiche des Bankbeamten lag.

Angesichts des unglücklichen Poch konnte Herr Johausen den Ausbruch seines Schmerzes nicht mehr bemeistern. Da lag er vor ihm, der langjährige Diener seines Hauses... blutlosen Hauptes, der Körper er starrt nach dem Tode, der schon vor reichlich vierundzwanzig Stunden eingetreten war, ausgestreckt auf.. dem Bette und in der Lage, wie er während des Schlummers den Todesstoß erhalten hatte. Als Kroff am gestrigen Morgen gegen sieben Uhr keinerlei Geräusch in der Stube des Gastes gehört hatte, hütete er sich, dessen Wunsche entsprechend, ihn zu wecken; als dann aber eine Stunde später der Schaffner wiedergekommen war, hatten beide an die von innen verschlossene Tür geklopft. Keine Antwort. Voller Unruhe hatten sie hierauf die Tür mit Gewalt geöffnet und fanden sich nun hier einem noch nicht ganz erkalteten Leichnam gegenüber.

Auf einem Tische nahe beim Bette lag die Mappe mit den Anfangsbuchstaben der Firmenbezeichnung Johausens, deren Kette hing herunter, die fünfzehntausend[94] Papierrubel aber, die Poch in Reval hatte abliefern wollen, waren – vorderhand spurlos – verschwunden.

Zunächst unterzog der Doktor Hamine die Leiche der gebräuchlichen Besichtigung. Der Tote hatte sehr viel Blut verloren. Eine rote, halb geronnene Lache zog sich vom Bette fast bis zur Türe hin. Das ganz steif gewordene Hemd Pochs zeigte in der Höhe der fünften Rippe, etwas links von der Brustmitte, die Spur eines Lochs, das einer Wunde von ziemlich eigner Gestalt darunter entsprach. Offenbar rührte sie von einem jener fünf bis sechs Zoll langen schwedischen Messer her, deren Klinge in einem Holzgriff mit federnder Zwinge befestigt ist. Diese Zwinge hatte auf der Haut rund um die Wundöffnung einen leicht erkennbaren Eindruck hinterlassen. Der Stoß mußte also mit großer Gewalt geführt worden sein, und ohne Zweifel hatte schon dieser einzige, der das Herz durchbohrte, genügt, den Tod sofort herbeizuführen.

Der Beweggrund zu der Untat lag klar zutage: es handelte sich hier um einen Raubmord, denn die Kassenscheine waren ja aus Pochs Mappe verschwunden.

Wie hatte der Mörder aber in das Zimmer gelangen können? Offenbar durch das nach der Straße hinaus gelegene Fenster, denn der Schenkwirt hatte, unterstützt von Broks, die von innen verschlossene Tür ja erst erbrechen müssen. Jeder Zweifel hierüber schwand übrigens, nachdem der Zustand des Fensters an der Außenseite untersucht worden war. Vorläufig konnte mit Sicherheit festgestellt werden und wurde durch mehrfache Blutspuren auf dem Kopfkissen bewiesen, daß Poch seine kostbare Mappe unter dieses Kissen gelegt und der Mörder sie mit blutigen Händen da gesucht und nach Entnahme der Kassenscheine auf den Tisch gelegt hatte.

Diese verschiedenen Merkzeichen von der Schandtat wurden mit größter Sorgfalt und im Beisein des Schenkwirtes festgestellt, der alle an ihn gerichteten Fragen klar und verständlich beantwortete.

Bevor sie ihn aber in ein eigentliches Verhör nahmen, wollten der Richter und der Major ihre Untersuchung außerhalb des Hauses durchführen. Dazu mußten sie um die ganze Schenke herumgehen, um nachzusehen, ob sich nicht hier irgendwelche Spuren von dem Mörder auffinden ließen. So gingen denn beide, begleitet von dem Doktor Hamine und dem Herrn Johausen, hinaus.

Kroff und die von Riga mitgekommenen Polizisten folgten ihnen nach, während die Bauern aus der Nachbarschaft reichlich dreißig Schritt weit entfernt bleiben mußten.[95]

Zunächst wurde das Fenster des Zimmers, worin das Verbrechen begangen worden war, der eingehendsten Besichtigung unterzogen. Auf den ersten Blick überzeugte man sich da, daß der rechte Ladenflügel, der ohnehin in schlechtem Zustande war, mit einem Hebel aufgebrochen sein mußte, denn dessen Haspen war aus dem Fensterrahmen herausgerissen. Durch eine zertrümmerte Scheibe – die Scherben davon lagen noch am Boden umher – hatte der Einbrecher dann den Arm gesteckt und die Fensterwirbel umgedreht, so daß er nun durch das Fenster ins Zimmer steigen konnte, das er nach Verübung des Verbrechens auf demselben Wege auch wieder verlassen hatte.

Fußstapfen längs der Schenke fanden sich in großer Zahl, da sie sich in der, in der Nacht vom 13. zum 14. stark durchfeuchteten Erde sehr deutlich erhalten hatten. Sie kreuzten sich aber so vielfach, lagen zum Teil so übereinander und zeigten so verschiedene Formen der Abdrücke, daß sie als Merkzeichen nicht weiter in Betracht kommen konnten. Kein Wunder, da am Tage vorher und ehe die Polizisten aus Pernau eintrafen, so viele Neugierige das Haus umschwärmt hatten, ohne daß Kroff es hätte verhindern können.

Der Richter Kerstorf und der Major Verder begaben sich an das Fenster des Zimmers, worin der unbekannte Reisende übernachtet hatte. Hier war nichts besonders Auffälliges zu bemerken. Die Ladenflügel waren fest verschlossen und seit gestern, das heißt seit der Stunde, wo der Reisende sich so merkwürdig beeilt hatte, den Kabak zu verlassen, auch nicht wieder geöffnet gewesen. Die Fensterbank zeigte jedoch einige Schrammen, und ebenso die Außenmauer, als wären sie von den Schuhen einer Person, die hier herausgestiegen wäre, stark gestreift worden.

Der Beamte, der Major, der Arzt und der Bankier gingen nun wieder in die Schenke hinein, sie wollten jetzt das Zimmer jenes Reisenden besichtigen, das – wie erwähnt – unmittelbar neben der allgemeinen Gaststube lag. Die Tür dazu überwachte ein Polizist schon seit seinem Eintreffen im »Umgebrochenen Kreuze«.

Diese Tür wurde nun geöffnet. Im Zimmer dahinter herrschte tiefe Dunkelheit. Der Major Verder trat sofort ans Fenster, wirbelte dieses auf und öffnete es, hob dann den aus Fensterkreuz anschließenden Haken aus und stieß den Laden nach außen.


Der Landauer langte vor dem Kabak an (S. 93.)
Der Landauer langte vor dem Kabak an (S. 93.)

Im Zimmer wurde es hell. Es war noch ganz in dem Zustande, wie der Reisende es verlassen hatte: das Bett, worin er geschlafen hatte, noch nichtwieder in Ordnung gebracht, die Talgkerze, die Kroff erst nach dem Weggange des Fremden ausgelöscht hatte, fast ganz heruntergebrannt. Die beiden, am gewöhnlichen Platze stehenden Holzstühle deuteten auf keine Unordnung, ebensowenig im Hintergrunde des Raumes der an der Giebelmauer befindliche Kamin, worin man noch Aschenreste und etwas Heizmaterial sah, das nicht völlig verbrannt war, oder ein alter Schrank, der sich im Innern als leer erwies. Im Zimmer war also nichts Beachtenswertes zu finden; das Ergebnis der Besichtigung beschränkte sich auf die Risse an der Fensterbank und an der Außenseite der Mauer, doch gerade diese konnten ja noch von besonderer Wichtigkeit werden.

Die Besichtigung wurde mit einer Untersuchung der Kroffschen Wohn- und Schlafstube beschlossen, die in einem Anbau nach der Gartenseite lag. Die Polizisten untersuchten inzwischen die Baulichkeiten des Geflügelhofes und den Gemüsegarten bis zu der ihn umschließenden lebenden Hecke, die nirgends eine Unterbrechung zeigte. Es blieb demnach kein Zweifel übrig: der Mörder war von draußen gekommen und durch das nach der Landstraße liegende Fenster nach gewaltsamer Öffnung des Ladens in das Zimmer seines Opfers eingedrungen.

Der Richter Kerstorf begann nun die Befragung des Schenkwirts. Er setzte sich dazu an einen Tisch in der Gaststube und sein Aktuar nahm neben ihm Platz. Der Major Verder, der Doktor Hamine und Herr Johausen, die ja ein natürliches Interesse daran hatten, zu hören, was von Kroff zu erfahren wäre, standen in der Nähe, und Kroff wurde aufgefordert, zu Protokoll zu erklären, was er von dem Falle wüßte.

»Herr Richter, begann er bestimmten Tones, vorgestern Abend gegen acht Uhr kamen zwei Reisende in meine Schenke und verlangten Zimmer für die Nacht. Der eine der Reisenden hinkte ein wenig infolge einer Verletzung durch einen Wagenunfall: die Post war zweihundert Schritte von hier auf dem Wege nach Pernau umgestürzt.

– Das bezieht sich wohl auf Poch, den Angestellten der Firma Gebrüder Johausen?

– Ja; ich habe das Nähere von ihm selbst gehört, er erzählte mir den Vorgang: die Pferde waren bei dem schweren Sturme gestürzt und hatten dabei den Wagen umgeworfen. Ohne seine Verletzung am Beine hätte er sich mit dem Postschaffner noch zu Pferde nach Pernau begeben, und wollte Gott, daß er das getan hätte!... Was den Schaffner angeht, den ich an jenem Abend nicht gesehen habe, so sollte er am nächsten Morgen zurückkehren – wie er tatsächlich[99] zurückgekommen ist – um Poch und dessen Reisegefährten abzuholen, sobald der Wagen wieder instand gesetzt wäre.

– Poch hat sich wohl nicht darüber geäußert, was er in Reval vorhatte? fragte der Richter.

– Nein; er bat mich, ihm ein Abendbrot aufzutragen, und aß dann mit großem Appetit. Es mochte etwa neun Uhr sein, als er sich in das für ihn bestimmte Zimmer zurückzog, dessen Tür er von innen mit Schlüssel und Riegel abschloß.

– Und der andere Reisende?..

– Der andere?... Der verlangte nur ein Zimmer, wollte aber nicht erst wie Poch noch zu Abend essen. Als er sich zurückzog, sagte er mir noch, daß er die Rückkehr des Schaffners nicht abwarten und am nächsten Morgen schon früh vier Uhr aufbrechen werde.

– Sie haben auch nicht erfahren, wer der Mann war?

– Nein, Herr Richter; und der arme Poch wußte das ebensowenig. Als er aß, erzählte er mir von seinem Reisegenossen, der unterwegs keine zehn Worte gesprochen hätte und jeder Unterhaltung ausgewichen wäre. Dabei hätte er stets die Kapuze über den Kopf gezogen gehabt, so wie einer, der unerkannt zu bleiben wünscht. Auch ich habe sein Gesicht eigentlich nicht gesehen und könnte unmöglich ein Signalement von ihm abgeben.

– Befanden sich noch andere Personen im »Umgebrochenen Kreuze«, als die beiden Reisenden dahin kamen?

– Ja, ein halbes Dutzend Bauern und Holzfäller aus der Nachbarschaft, und auch der Polizeibrigadier Eck mit einem seiner Leute...

– Ah, bemerkte da Herr Johausen, der Brigadier Eck!... War denn Poch diesem nicht bekannt? –

– O gewiß; beide haben während des Essens miteinander geplaudert.

– Und später sind alle Gäste fortgegangen?...

– Ja... so gegen halb neun Uhr, antwortete Kroff. Ich habe gleich darauf die Tür zur Gaststube mit dem Schlüssel abgeschlossen und inwendig auch die Sparren vorgelegt.

– Von außen konnte man die Tür also nicht öffnen?

– Nein, Herr Richter.

– Auch nicht von innen, wenn man den Schlüssel nicht hatte?

– Ebensowenig.[100]

– Und am Morgen haben Sie sie in unverändertem Zustande gefunden?

– Völlig unverändert. Es war ziemlich genau vier Uhr, als der Reisende aus seiner Stube trat. Ich habe ihm mit der Laterne geleuchtet. Er bezahlte mir, was er schuldete, einen Rubel. Dabei war er eingepackt, wie am Abend vorher, so daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Endlich hab' ich ihm die Tür geöffnet und sie hinter ihm wieder sorgfältig verschlossen.

– Wohin er ging, hat er nicht gesagt?

– Nein, nicht ein Wort davon.

– Und in der Nacht ist Ihnen kein verdächtiges Geräusch aufgefallen?

– Nicht das geringste.

– Ihrer Ansicht nach, Kroff, fragte der Richter, müßte das Verbrechen wohl schon begangen worden sein, bevor der Unbekannte die Schenke verließ?

– Das glaub' ich wenigstens.

– Was haben Sie denn nach dem Weggange des Fremden getan?

– Ich?... Da ging ich in meine Stube und warf mich noch einmal aufs Bett, den Tag abzuwarten; ich glaube aber nicht wieder eingeschlafen zu sein.

– Dann hätten Sie es also zwischen vier und sechs Uhr jedenfalls gehört, wenn in dem Zimmer Pochs ein Geräusch entstanden wäre?

– Ohne Zweifel, schon weil meine Stube, obwohl sie nach dem Garten hinaus liegt, unmittelbar an die seinige stößt, und wäre es zu einem Handgemenge zwischen Poch und dem Mörder gekommen...

– Ja ja, fiel der Major Verder ein, es hat aber kein Kampf stattgefunden, denn der Unglückliche ist in seinem Bette überfallen und durch einen Stoß, der das Herz getroffen hat, augenblicklich getötet worden.«

So war ja der Sachverhalt, und alles ließ darauf schließen, daß die Untat vor dem Weggange des anderen Reisenden ausgeführt worden war. Eine zweifellose Gewißheit hatte man dafür freilich nicht, denn zwischen vier und fünf Uhr morgens war es noch sehr finster, der Sturm wütete damals mit großer Heftigkeit, die Landstraße war menschenleer, und ein Ubeltäter hätte unter diesen Umständen durch Einbruch recht wohl unbemerkt in die Schenke eindringen können.

Kroff beantwortete ohne Zögern und mit aller Bestimmtheit auch alle weiteren Fragen, die der Kriminalbeamte an ihn richtete. Offenbar lag ihm der Gedanke ganz fern, daß sich ein Verdacht auch auf ihn lenken könnte, war es doch zuverlässig festgestellt, daß der von draußen gekommene Mordbube den[101] Laden aufgesprengt, die Scheibe zertrümmert und das Fenster geöffnet hatte. Nach Verübung des Verbrechens war er, das stand ebenso unumstößlich fest mit den fünfzehntausend Rubeln durch dasselbe Fenster entwichen.

Kroff schilderte nun, wie er die Mordtat entdeckt habe. Gegen sieben Uhr aufgestanden, hatte er in der Gaststube aufgeräumt, bis der Schaffner Broks, der es dem Stellmacher und dem Jemschik überlassen hatte, den Wagen auszubessern, in der Schenke erschien. Beide hatten jetzt Poch wecken wollen... keine Antwort auf ihr Rufen, nichts regte sich im Zimmer, als sie stark an die Tür klopften, deshalb hatten sie diese gewaltsam geöffnet und sahen sich da... einer Leiche gegenüber.

»Sie sind Ihrer Sache sicher, fragte der Richter Kerstorf, daß in diesem Augenblick an dem Unglücklichen kein Lebenszeichen mehr zu bemerken war?

– Auch nicht das geringste, Herr Richter, versicherte Kroff, der trotz der Rauheit seiner Natur sichtlich ergriffen schien. Nein... nicht das geringste Zeichen! Broks und ich, wir haben getan, was wir konnten, ihn wieder ins Leben zurückzurufen... alles vergeblich!... Bedenken Sie nur, ein solcher Messerstich mitten ins Herz!

– Die Waffe, deren sich der Mörder bedient hat, haben Sie nicht gefunden?

– Nein, Herr Richter, dem wird daran gelegen gewesen sein, sie mitzunehmen.

– Und Sie erklären mit Bestimmtheit, forschte der Beamte weiter, daß das Zimmer Pochs von innen verschlossen gewesen ist?

– Jawohl, mit dem Schlüssel und dem Riegel, versicherte Kroff. Der Schaffner Broks kann das ebensogut bezeugen. Eben deshalb waren wir ja genötigt, die Tür zu erbrechen.

– Broks ist dann gleich fortgegangen?

– Ja, Herr Richter, in aller Eile. Er wollte schnellstens nach Pernau zurückkehren, um die Polizei zu benachrichtigen, die daraufhin auch sogleich zwei Mann hierhergeschickt hat.

– Broks ist dann nicht wiedergekommen?

– Nein, doch wird er sich noch heute Morgen einstellen, da er voraussetzt, in der Sache vernommen zu werden.

– Gut... gut, sagte Herr Kerstorf, Sie können jetzt gehen, doch verlassen Sie die Schenke nicht und halten Sie sich uns jede Minute zur Verfügung.[102]

– Ich werde hier bleiben.«

Schon beim Beginn dieses Verhörs hatte Kroff seinen Vor- und Familiennamen, ferner Alter und Stand angegeben, was der Aktuar niederschrieb, denn wahrscheinlich wurde der Schenkwirt im Verlaufe der Untersuchung noch einmal vor Gericht gerufen.

Inzwischen war dem Kriminalbeamten gemeldet worden, daß der Schaffner Broks im »Umgebrochenen Kreuze« eingetroffen sei. Das war der zweite Zeuge, und seine Aussage war ja ebenso von Wichtigkeit, wenn sie voraussichtlich auch mit der Kroffs übereinstimmte.

Broks wurde in die Gaststube gerufen. Auf die Aufforderung des Richters hin nannte er seinen Namen, Vornamen, sein Alter und seinen Beruf. Bei seinen Angaben bezüglich der Reisenden, die er in Riga aufgenommen hatte, ebenso wie über den Unfall mit dem Postwagen und über den Entschluß Pochs und seines Reisegenossen, im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« zu übernachten, ließ er keine Einzelheit unerwähnt. Seine Darstellung deckte sich vollständig mit der des Schenkwirts bezüglich der Entdeckung des Verbrechens und ihrer Zwangslage, die Zimmertür mit Gewalt zu öffnen, da Poch auf ihr Rufen und Anklopfen keine Antwort gab. Er betonte des weiteren aber einen Punkt, der ihm von Bedeutung zu sein schien, den, daß der Bankbeamte während der Fahrt im Postwagen wahrscheinlich etwas unvorsichtig von seinem Vorhaben in Reval gesprochen haben werde, dort eine größere Summe für Rechnung der Firma Johausen auszuzahlen.

»Auf jeden Fall, fügte er hinzu, haben der andere Reisende und die verschiedenen Postillone, die bei jedem Pferdewechsel die Wagenführung übernahmen, seine Dokumentenmappe sehen können, und ich selbst habe ihn auch darauf aufmerksam gemacht.«

Jetzt wurde er noch über den Reisenden befragt, der bei der Abfahrt in Riga noch einen Platz im Postwagen eingenommen hatte.

»Den Mann kenne ich leider nicht, erklärte Broks, es ist mir sogar unmöglich gewesen, sein Gesicht nur einmal ordentlich zu sehen.

– Er hatte sich erst eingefunden, als die Post zur Abfahrt bereit stand?

– Nur wenige Minuten vorher.

– Seinen Platz hatte er sich nicht im voraus gesichert?

– Nein, Herr Richter.

– Wollte er nach Reval?[103]

– Den Fahrpreis hatte er bis Reval entrichtet, weiter kann ich hierüber nichts sagen.

– War es nicht ausgemacht, daß Sie am nächsten Morgen zurückkehren würden, um den Wagen wieder instand setzen zu lassen?

– Gewiß, Herr Richter; ebenso wie es verabredet war, daß Poch und sein Gefährte dann ihre Plätze wieder einnehmen sollten.

– Und trotzdem verließ jener Reisende das 'Umgebrochene Kreuz' schon am nächsten Morgen um vier Uhr?

– Ich war auch ganz erstaunt, Herr Richter, als Kroff mir mitteilte, daß der Unbekannte sich nicht mehr in der Schenke befände...

– Und was haben Sie sich dabei gedacht? fragte Kerstorf.

– Ich dachte mir, er werde wohl in Pernau bleiben wollen, und da es bis dahin nur ein Dutzend Werst weit ist, würde er sich entschlossen haben, die kurze Strecke zu Fuß zurückzulegen.

– Wenn das seine Absicht war, bemerkte hierzu der Beamte, erscheint es nur auffällig, daß er sich nicht gleich am ersten Abend nach der Beschädigung des Wagens nach Pernau begeben hat...

– Ja freilich, Herr Richter, antwortete Broks, das ist mir auch aufgefallen.«

Die Befragung des Postschaffners ging hiermit zu Ende, und Broks erhielt Erlaubnis, die Gaststube zu verlassen.

Als er hinausgegangen war, wendete sich der Major Verder an den Doktor Hamine.

»Sie haben an der Leiche des Opfers keine weiteren Aufnahmen zu machen?

– Nein, Major, erwiderte der Arzt. Ich habe die Stelle, die Form und die Richtung der Verletzung sorgfältig festgestellt...

– Der Todesstoß ist doch mit einem Messer ausgeführt worden?...

– Mit einem Messer, dessen Heftzwinge einen Eindruck rings um die Wunde hinterlassen hat«, erklärte Doktor Hamine.

Vielleicht war das ein Indizium, das zur Aufhellung der Sachlage dienen konnte.

»Kann ich nun, fragte Herr Johausen, Anordnung treffen, daß die Leiche des armen Poch nach Riga überführt wird, wo die Beerdigung stattfinden soll?

– Das steht Ihnen frei, antwortete der Richter.[104]

– So könnten wir also wieder zurückfahren? ließ sich der Arzt vernehmen.

– Jawohl, antwortete der Major, da hier kein anderer Zeuge mehr zu verhören ist.


Im Zimmer wurde es hell. (S. 96.)
Im Zimmer wurde es hell. (S. 96.)

– Doch ehe wir die Schenke verlassen, sagte da Herr Kerstorf, möchte ich noch einmal das Zimmer des zweiten Reisenden besichtigen. Vielleicht ist uns doch noch eine wichtige Sache entgangen.«

Der Beamte, der Major, der Doktor und Johausen begaben sich nach dem betreffenden Zimmer. Der Schenkwirt schloß sich ihnen an, um eine etwa gewünschte Auskunft zu geben. Der Richter beabsichtigte, vorzüglich die Asche der Feuerstatt zu untersuchen, um sich zu überzeugen, ob sich darin etwas Verdächtiges vorfände oder nicht. Als sein Blick da auf den in einem Winkel des Kamins lehnenden eisernen Schürhaken fiel, ergriff er diesen, besichtigte ihn und erkannte, daß er offenbar gewaltsam verbogen war.

Hatte der Schürhaken beim Aufbrechen des Fensterladens als Hebel gedient? Das erschien recht gut annehmbar, und wenn man diesen Befund mit den verschiedenen Rissen auf der Fensterbank zusammenhielt, so mußte man wohl zu der Schlußfolgerung kommen, die der Richter den anderen Herren gegenüber vertrat, indem er, als sie aus der Schenke herausgetreten waren, sagte, ohne daß Kroff ihn hören konnte:

»Als Urheber des Verbrechens können nur drei Personen in Frage kommen entweder ein von außen eingedrungener Räuber, oder der Schenkwirt selbst, oder endlich der Reisende, der jene Nacht in dem anderen Zimmer geschlafen hat. Der Fund des Schüreisens, das als Beweisstück mitgenommen werden sollte, in Verbindung mit den Spuren am Fenster und an der Außenwand, beseitigten hierüber jeden Zweifel. Der Unbekannte hatte ohne Zweifel gewußt, daß Pochs Mappe eine große Geldsumme enthielt. In der Nacht war er dann nach Öffnung des Fensters seines Zimmers hinausgestiegen und hatte, den Schürhaken als Hebel benützend, den Laden des anderen Zimmers aufgesprengt. Nachdem er dann den schlafenden Bankbeamten ermordet und den Raub ausgeführt hatte, war er in sein Zimmer zurückgekehrt, aus dem er endlich um vier Uhr morgens, den Kopf mit der Kapuze verhüllt, weggegangen ist. Ich glaube bestimmt, in jenem Reisenden den Mörder zu erkennen.«

Gegen diese Darstellung der Sache ließ sich ja nichts einwenden; doch wer war der zweite Reisende, und würde es gelingen, ihn zu überführen?[107]

»Meine Herren, sagte da der Major Verder, der traurige Vorgang hat sich jedenfalls in der Weise abgespielt, wie es der Richter, Herr Kerstorf, eben geschildert hat. Eine weitere Untersuchung bringt aber nicht selten Überraschungen zutage, man darf also keine Vorsichtsmaßregel vernachlässigen. Ich werde das Zimmer des Unbekannten abschließen, den Schlüssel mit mir nehmen und zwei Polizisten als Wache hier lassen. Sie werden Befehl erhalten, die Schenke auf keinen Fall zu verlassen und deren Wirt ständig im Auge zu behalten.«

Diese Maßregel fand allgemeine Billigung und der Major traf demgemäß seine Anordnungen.

Kurz vor dem Wiederbesteigen des Landauers nahm Herr Johausen den Richter beiseite.

»Beiläufig noch etwas, sagte er, worüber ich mich noch gegen niemand geäußert habe, Herr Kerstorf, was ich Ihnen aber doch wohl mitteilen muß...

– Das wäre?...

– Ich besitze ein Verzeichnis der Nummern der gestohlenen Kassenscheine. Es waren hundertfünfzig Stück, jeder zu hundert Rubel1, und Poch hatte diese zu einem Bündel zusammengebunden...

– Ah, Sie haben die Nummern aufgeschrieben? antwortete der Beamte nachdenklich.

– Ja, wie das bei uns üblich ist, und ich werde die Nummern den verschiedenen Banken der Ostseeprovinzen und Rußlands mitteilen lassen.

– Ich meine, das sollten Sie lieber nicht tun, antwortete Kerstorf... Unternehmen Sie diesen Schritt, so könnte das dem Räuber zur Kenntnis kommen und er wird sich desto mehr zu hüten wissen. Wahrscheinlich geht er mit dem Gelde ins Ausland und findet dann immer ein Land, wo jene Nummern nicht bekannt geworden sind. Beschränken wir ihn lieber nicht in seinem Tun und Lassen, da verrät er sich vielleicht am ersten.«[108]

Wenige Minuten später trug der Landauer den Richter nebst seinem Aktuar, den Bankier, den Major Verder und den Doktor Hamine davon. Der Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« aber blieb unter der Bewachung der beiden Polizisten, die sich Tag und Nacht nicht davon entfernen durften.

Fußnoten

1 Die russischen Kassenscheine sind alle nur vom Staate ausgegeben, und zwar in Scheinen zu 500, 100, 50, 25, 10, 5 und 3 Rubeln. Dieses Papiergeld bildet fast ausschließlich das im Verkehr Rußlands übliche Zahlungsmittel. Die Staatskassenscheine haben von jeher Zwangskurs. Ihre Ausgabe wird durch eine besondere Verwaltungsabteilung geregelt, die dem Finanzministerium angegliedert ist und unter der Aufsicht des Staatsrates, wie alle Kreditanstalten des Kaiserreichs, steht, der sich für diese Angelegenheiten noch durch zwei Räte aus dem Adelsstande und den Großhändlern Petersburgs verstärkt. Der Papierrubel hatte jener Zeit einen Kurswert von zwei Mark zwanzig Pfennig, der Silberrubel dagegen wurde mit drei Mark zwanzig Pfennig berechnet. Gegenwärtig sind bezüglich des russischen Münzsystems gewisse Änderungen vorbereitet.


Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 109.
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