Fünftes Capitel.
Wo bin ich?
(Aufzeichnungen des Ingenieurs Simon Hart.)

[57] Wo bin ich?... Was ist vorgefallen seit der plötzlichen Ueberrumplung, deren Opfer ich nur wenige Schritte vom Pavillon Nr. 17 wurde?

Ich hatte eben den Arzt verlassen, wollte die Stufen der Vortreppe ersteigen, mich in mein Zimmer begeben und dessen Thür schließen, um meinen[57] Wachtposten bei Thomas Roch wieder einzunehmen, als mehrere Leute mich überfielen und zu Boden zerrten... Wer mochten sie sein? Ich konnte sie nicht erkennen, weil sie mir die Augen verbunden, konnte nicht um Hilfe rufen, weil sie mir den Mund mit einem Knebel verschlossen hatten. Ich konnte keinen Widerstand leisten, weil ich an Händen und Füßen blitzschnell gefesselt wurde. In diesem Zustande fühlte ich nachher, daß man mich aufhob und etwa hundert Schritte weit forttrug... daß man mich in die Höhe hob, dann wieder hinabsenkte... und mich niederlegte...

Ja, wo... wohin denn?...

Was mag aus Thomas Roch geworden sein?... Galt der Anschlag nicht vielmehr ihm als mir?... Das ist doch höchst wahrscheinlich. Ich war ja für Alle nur der Wärter Gaydon, nicht der Ingenieur Simon Hart, dessen Beruf und Nationalität nie den geringsten Verdacht erregt hatte. Warum sollte sich jemand die Mühe genommen haben, einen einfachen Krankenwärter in seine Gewalt zu bringen?

Es handelt sich hier also um die Entführung des französischen Erfinders, das unterliegt keinem Zweifel. Und wenn man ihn aus dem Healthful-House geraubt hat, so geschah es doch wohl in der Hoffnung, ihm sein Geheimniß zu entlocken?...

Mein Gedankengang entspringt freilich der Annahme, daß Thomas Roch mit mir verschwunden sei... Ist das wirklich der Fall?... Ja, es ist so, es muß so sein!... Daran kann ich gar nicht zweifeln. Ich befinde mich nicht in den Händen von Verbrechern, die etwa nur hätten stehlen wollen. Das hätten sie nicht in solcher Weise angefangen. Nachdem sie es mir unmöglich gemacht, zu rufen, mich in eine Ecke des Gartens unter dichtes Strauchwerk geworfen und Thomas Roch selbst geraubt hatten, würden sie mich nicht da eingeschlossen haben wo ich mich jetzt befinde...

Wo?... Das ist die stehende Frage, die ich nun schon seit mehreren Stunden nicht zu lösen vermag.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls sehe ich mich hier in ein Abenteuer verstrickt, dessen Ende... ja, welcher Art das Ende sein wird, weiß ich nicht und wage es auch kaum, das auszudenken. Auf jeden Fall hege ich die Absicht, von Minute zu Minute auch die geringsten Vorkommnisse meinem Gedächtnisse einzuprägen, meine tägliche Erfahrung womöglich schriftlich niederzulegen... Wer weiß denn, was mir die Zukunft noch vorbehält und ob ich unter den[58] neuen Verhältnissen, in die man mich gezwungen hat, nicht schließlich das Geheimniß des Fulgurator Roch kennen lerne?... Wenn mir dereinst die Freiheit wieder winkt, wird dieses Geheimniß und werden auch der oder die Urheber dieses verbrecherischen Ueberfalls bekannt sein, der so schwerwiegende Folgen haben kann.

Ich komme immer, in der Hoffnung, daß ein Zufall sie beantworten wird, auf die Frage zurück:

»Wo bin ich?...«

Ich will mir das Vorgefallne von Anfang an vergegenwärtigen.

Nachdem ich aus dem Healthful-House von Männern auf den Armen weggetragen worden war, fühlte ich, daß man mich – übrigens mit einer gewissen Vorsicht – auf die Bänke eines Fahrzeugs niederlegte, das sich dabei zur Seite neigte, also nur klein gewesen sein kann... wahrscheinlich war es nur ein Boot.

Der ersten Schwankung folgte sofort eine zweite, die ich der Einschiffung einer andern Person zuschreibe. Ich kann also gar nicht zweifeln, daß es sich dabei um Thomas Roch handelte. Bei ihm konnte man von der Vorsicht absehen, ihm den Mund zu verschließen, die Augen zu verbinden und seine Arme und Beine zu fesseln. Er mußte noch so vollkommen erschlafft sein, daß er keinen Widerstand leisten konnte, und so bewußtlos, daß er gar nicht bemerkte, was mit ihm vorging. Den Beweis, daß ich mich nicht täuschte, liefert mir ein charakteristischer Geruch nach Aether, den ich auch unter meiner Binde wahrnahm. Ehe ich den Pavillon Nr. 17 verließ, hatte der Arzt aber dem Kranken einige Tropfen Aether eingeflößt und ich erinnere mich bestimmt, daß von der sich so leicht verflüchtigenden Flüssigkeit etwas auf seine Kleidung verschüttet worden war, als er sich auf dem Höhepunkte seines Anfalls heftig hin und her warf. Es ist also gar nicht zu verwundern, daß davon noch etwas an ihm haftete und mein Geruchsinn dadurch fühlbar erregt wurde. Ja, ja... Thomas Roch lag da neben mir ausgestreckt. Und wenn ich vorher nur wenige Minuten gezögert hätte, nach dem Pavillon zurückzukehren, so würde ich ihn darin gar nicht mehr gefunden haben.

Ich denke noch daran... warum mußte jener Graf d'Artigas die unglückselige Laune haben, das Healthsul-House zu besuchen? Wäre mein Pflegebefohlner ihm nicht in den Weg geführt worden, so wäre das alles nicht geschehen. Nur daß man mit ihm von seinen Erfindungen sprach, hat bei Thomas Roch diesen außergewöhnlich heftigen Anfall hervorgebracht. Der erste Vorwurf dafür trifft[59] den Director, der meine Warnung nicht beachtete. Hörte er damals auf mich, so brauchte kein Arzt gerufen zu werden, um dem Patienten seine Hilfe angedeihen zu lassen. Die Thür wäre verschlossen geblieben und der Anschlag vereitelt gewesen...

Was das Interesse angeht, das die Entführung Thomas Roch's zu Gunsten einer Privatperson oder eines der Staaten der Alten Welt haben könnte, so brauch' ich mir darüber den Kopf nicht zu zerbrechen. Ich glaube, in dieser Beziehung ganz beruhigt sein zu können. Niemand würde da Erfolg haben, wo ich seit fünfzehn Monaten nichts erreicht habe. Bei der Stufe geistiger Umnachtung, zu der der französische Erfinder herabgesunken ist, muß jeder Versuch, ihm sein Geheimniß zu entlocken, erfolglos bleiben. Sein Zustand kann sich übrigens nur verschlimmern und zum vollen Wahnsinn auch auf dem Gebiete ausarten, wofür ihm bis heute noch ein Fünkchen Verstand übrig geblieben war.

Alles in allem handelt es sich in diesem Augenblicke aber nicht um Thomas Roch, sondern um mich selbst, und da kann ich Folgendes constatieren:

Nach einigem lebhaften Schwanken setzte das Boot sich, von Rudern getrieben, in Bewegung. Seine Fahrt dauerte kaum eine Minute. Dann erfolgte ein schwacher Stoß. Jedenfalls hatte das Boot dann, nach dem Zusammentreffen mit einem Schiffsrumpfe, beigelegt. Jetzt entstand eine geräuschvolle Bewegung. Ich hörte sprechen, commandieren... das Boot manövrierte... Trotz meiner Binde vernahm ich doch ein undeutliches Gemurmel von Stimmen, das fünf bis sechs Minuten andauern mochte.

Der einzige Gedanke, der dabei in mir aufkommen konnte, war der, daß man mich aus dem Boote nach dem Schiffe, wozu es gehörte, befördern und jedenfalls im Laderaum so lange einsperren würde, bis das betreffende Schiff sich auf offner See befand. So lange es noch auf dem Pamplicosund hinsegelte, würde es wohl niemand einfallen, Thomas Roch und seinen Wärter das Deck betreten zu lassen.

Noch immer geknebelt, packte man mich an den Beinen und den Schultern. Ich hatte nicht die Empfindung, daß fremde Arme mich über die Schanzkleidung eines Schiffes hoben, sondern die, daß man mich niederließ. Wollte man mich loslassen, mich ins Wasser stürzen, um sich von einem lästigen Zeugen zu befreien?... Dieser Gedanke schoß mir durch den Kopf und ein kalter Schauer durchrieselte mich vom Kopf bis zu den Füßen Unwillkürlich that ich einen tiefen Athemzug und meine Brust erweiterte sich von der Luft, die ihr vielleicht bald fehlen sollte...[60]

Doch nein, man senkte mich mit einer gewissen Vorsicht hinab auf einen Fußboden, der mir metallisch kühl erschien. Ich wurde lang hingelegt und zu meinem größten Erstaunen entledigte man mich meiner Fesseln. Dann hörten die Tritte um mich her auf und einen Augenblick darauf vernahm ich das sonore Geräusch einer zuschlagenden Thür...

Hier bin ich also... Wo?... Und befinde ich mich allein?... Ich entferne den Knebel von meinem Munde und die Binde von den Augen...

Alles um mich ist schwarz... tiefschwarz Nicht der geringste helle Schein, nicht einmal jene unbestimmte Lichtempfindung, die sich das Auge sonst in gänzlich verfinsterten Zimmern bewahrt.

Ich rufe... rufe wiederholt... Keine Antwort. Meine Stimme wird erstickt, als wenn sie gegen ein für die Fortpflanzung von Tönen ungeeignetes Mittel schallte.

Dazu ist die Luft, die ich athme, warm, schwer, dick, und meine Lungenthätigkeit wird erschwert, sogar unmöglich werden, wenn die Luft hier nicht erneuert wird.

Durch das Ausstrecken der Arme überzeuge ich mich von Folgendem:

Ich befinde mich in einem Raume mit Eisenblechwänden, der nicht mehr als drei bis vier Cubikmeter zu messen scheint. Beim Hingleiten mit den Händen über die Wand bemerke ich, daß diese wie die wasserdichten Scheidewände eines Schiffes mit Nietenköpfen bedeckt ist.

An einer der Wände scheint mir der Rahmen einer Thür eingelassen zu sein, deren Charniere die sonstige Fläche um einige Centimeter überragen. Diese Thür muß sich von außen nach innen öffnen und durch dieselbe hat man mich ohne Zweifel in dieses enge Behältniß gebracht.

Das Ohr an die Thür drückend, vernehme ich keinerlei Geräusch. Die Stille ist ebenso absolut wie die Finsterniß... eine seltsame Stille, die nur bei meinen Bewegungen durch den metallischen Klang des Fußbodens unterbrochen wird. Da ist nichts von dem dumpfen Geräusch, das gewöhnlich an Bord von Schiffen herrscht, weder das Rauschen des Wassers längs des Rumpfes, noch das Klatschen des Meeres, wenn die Wellen daran schlagen. Ebensowenig ist von Stampfen oder Rollen etwas zu bemerken, und das hätte doch nicht fehlen dürfen, denn im Becken der Neuze bringt die Fluth stets eine merkbare schaukelnde Bewegung hervor.

Nun fragt es sich freilich, ob der Raum, in dem ich mich befinde, überhaupt einem Schiffe angehört und ob ich annehmen kann, daß dieses auf dem[61] Wasser des Stromes schwimmt, obwohl ich durch ein Boot fortgeschafft wurde, dessen Fahrt nur eine Minute währte. Dieses Boot konnte ja, statt an einem Schiffe, das es am Fuße des Healthsul-House erwartete, an einer andern Uferstelle wieder angelegt haben. Dann war es ja möglich, daß ich auf der Erde, vielleicht in einer Höhle, niedergelegt worden wäre. Das erklärte doch die völlige Unbeweglichkeit des Behälters. Freilich hat dieser genietete Eisenblechwände und um mich ist der unbestimmte Geruch von salzigem Wasser verbreitet, jener ganz eigenartige Geruch, den die Luft im Innern von Fahrzeugen annimmt und über den ich mich gar nicht täuschen konnte.

Seit meiner Einsperrung ist meiner Schätzung nach eine Zeit von vier Stunden verflossen. Es muß bald Mitternacht sein. Soll ich bis zum Morgen hier aushalten? Es ist ein Glück, daß ich nach der Anstaltsordnung des Healthsul-House um sechs Uhr gegessen habe. Ich leide nicht von Hunger, sondern neige eher dazu, einzuschlafen. Ich hoffe jedoch die Kraft zu haben, um dem Schlafe zu widerstehen... nein, ich lasse mich nicht davon überwältigen. Ich muß mich wieder mit etwas von der Außenwelt beschäftigen. Womit aber?... Kein Ton, kein Lichtstrahl dringt in diesen Eisenkasten. Doch Achtung! So schwach es auch sein mag, vielleicht schlägt mir doch ein Geräusch ans Ohr. Im Gehörsinn drängt sich jetzt meine ganze Lebenskraft zusammen. Dazu achte ich auch immer – für den Fall, daß ich nicht auf festem Lande bin – auf eine Bewegung, ein Erzittern, das ja nicht ausbleiben kann. Angenommen, das Schiff liege noch vor Anker, so muß es sich doch bald zur Abfahrt rüsten, sonst... sonst könnt' ich nicht begreifen, warum Thomas Roch und ich entführt worden wären.

Endlich!... Es ist also kein Irrthum, ich fühle eine leichtes Wiegen und befinde mich also nicht auf dem Lande. Ich bemerke freilich keinen Stoß, keinen Ruck. Es ist eher ein sanftes Hingleiten über die Wasserfläche.

Doch ich will in Ruhe nachdenken. Ich befinde mich an Bord eines der Fahrzeuge, die in der Mündung der Neuze vor Anker lagen, eines Fahrzeugs, das unter Dampf oder unter Segel das Ergebniß der Entführung abwartete. Das Boot hat mich dahin gebracht; doch, ich wiederhole es, ich habe nicht die Empfindung gehabt, daß man mich über eine Schanzkleidung emporhißte. Vielleicht bin ich durch eine Stückpforte in den untern Raum befördert worden. Das ist jedoch ohne Bedeutung. Ob man mich nun auf den Grund eines Laderaums hinuntergeschafft hat oder nicht, jedenfalls befinde ich mich auf einem schwimmenden und beweglichen Bauwerke.[62]

Ohne Zweifel wird mir die Freiheit bald wieder gegeben, ebenso wie Thomas Roch, vorausgesetzt, daß er ebenso fest eingeschlossen ist, wie ich Unter Freiheit verstehe ich nur das Zugeständniß, auf dem Deck des Schiffes nach Belieben umhergehen zu dürfen. Das wird aber vor einigen Stunden nicht zu erwarten sein, da es doch darauf ankommt, daß wir nicht gesehen werden. Wir werden freie Luft also nicht eher athmen, als bis das Schiff aufs offne Meer hinausgelangt ist.

Ist es ein Segelschiff, so wird es haben warten müssen, bis sich etwas Wind erhob, der Landwind, der mit Tagesanbruch einsetzt und die Fahrt über den Pamplicosund begünstigt. Wenn es freilich ein Dampfer wäre...

Doch nein; an Bord eines Dampfers verbreiten sich stets gewisse Ausdünstungen von der Steinkohle und Oelen, Gerüche aus dem Feuerraume, die auch bis zu mir gedrungen wären. Uebrigens hätt' ich auch die Bewegungen der Schraube oder der Schaufelräder, das Zittern der Maschinen, das Stoßen der Dampfkolben fühlen müssen.

Das Beste ist also, sich in Geduld zu fassen; ich komme doch erst morgen aus diesem Loche heraus. Doch wenn man mich auch noch nicht befreit, wird man mir doch Nahrung bringen, denn welcher Grund läge dafür vor, mich hier Hungers sterben zu lassen? Dann hätte man mich auf den Grund des Stroms versenken können, statt mich an Bord zu nehmen. Sind wir erst auf hoher See, so hat ja niemand von mir etwas zu fürchten. Meine Stimme wird sich nirgends vernehmlich machen können; meine Einwendungen wären nutzlos und etwaige Vorwürfe noch nutzloser.

Was bin ich ferner für die Urheber dieses Ueberfalls? Ein einfacher Krankenwärter, jener bedeutungslose Gaydon. Nur Thomas Roch galt es, aus dem Healthful-House zu entführen. Ich... ich bin nur so nebenher mitgenommen worden. weil ich in jener Minute gerade nach dem Pavillon zurückkam.


Man packte mich an den Beinen und den Schultern. (S. 60)
Man packte mich an den Beinen und den Schultern. (S. 60)

Auf jeden Fall bleib' ich, was auch kommen möge, wohin sie mich schleppen, wer auch die Leute seien, die diesen Streich ausgeführt haben, bei dem Entschlusse, meine Rolle als Wärter weiter zu spielen. Niemand, nein, niemand wird ahnen, daß sich unter dem Rocke Gaydon's der Ingenieur Simon Hart verbirgt. Das bietet mir zweierlei Vortheile: erstens wird man einem armen Teufel von Krankenwärter nicht mißtrauisch entgegentreten, und zweitens kann ich vielleicht das Geheimniß dieses ganzen Unternehmens enträthseln und ausnutzen, wenn es mir einmal gelingt, zu entfliehen...[63]

Doch wohin verirre ich mich? Ehe an eine Flucht zu denken ist, gilt es doch, erst am Ziele angelangt zu sein. Dann erst wird es Zeit sein, ein Entweichen zu wagen, wenn sich dazu Gelegenheit bietet. Bis dahin ist es wichtig, daß keiner erfahre, wer ich bin, und das wird niemand erfahren.

Jetzt unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß wir in Fahrt sind. Dabei komm' ich wieder auf meine ersten Gedanken. Nein!... Das Schiff, das uns trägt, kann, wenn es kein Dampfer ist, auch kein Segler sein. Es wird unbedingt durch einen mächtigen Motor angetrieben. Zugegeben, daß ich die eigenthümlichen[64] Geräusche einer Dampfmaschine, die eine Schraube oder ein Räderpaar in Bewegung setzt, nicht höre. Ich muß zugestehen, daß dieses Fahrzeug nicht durch das Hin- und Hergehen der Dampfkolben erschüttert wird. Es scheint sich vielmehr um eine fortlaufende, gleichmäßige Bewegung zu handeln, um eine Art directe Rotation die sich auf den Antriebsmechanismus, dieser sei nun, welcher es will, überträgt. Da ist kein Irrthum möglich, das Schiff wird durch einen eigenartigen Mechanismus bewegt. Doch durch welchen?... Sollte eine jener Turbinen in Frage kommen, von denen in letzter Zeit vielfach die Rede gewesen[65] ist und die, im Innern eines eingetauchten Rohres arbeitend, bestimmt erscheinen, an Stelle der Schrauben zu treten, da sie den Widerstand des Wassers besser ausnützen und eine größere Geschwindigkeit erzielen?...

Nun, binnen einiger Stunden werd' ich ja wissen, um welche Art von Navigation es sich handelt, die in einem vollkommen homogenen Mittel vor sich geht.

Uebrigens ist es nicht weniger auffallend, daß auch von einem Rollen oder Stampfen des Fahrzeugs kaum etwas zu bemerken ist. Wie sollte es kommen, daß der Pamplicosund so außergewöhnlich still läge? Es genügt für ihn ja doch schon die Gezeitenströmung, um seine Oberfläche merkbar zu erregen.

Vielleicht ist jetzt aber gerade die Zeit zwischen Ebbe und Fluth, und ich entsinne mich, daß sich der Landwind gestern Abend vollkommen gelegt hatte. Immerhin! Die Sache erscheint mir unerklärlich, denn ein von irgendwelcher Kraft bewegtes Schiff, seine Geschwindigkeit sei nun groß oder klein, muß immer ein gewisses Erzittern wahrnehmen lassen, und davon bemerke ich keine Spur.


Ich lausche... draußen sprechen Leute... (S. 67.)
Ich lausche... draußen sprechen Leute... (S. 67.)

Von welch' peinigenden Gedanken ist mir der Kopf jetzt erfüllt! Trotz des dringlichen Verlangens nach Schlaf, trotz der Erschlaffung, die sich meiner in dieser erstickenden Luft bemächtigt, bin ich entschlossen, dem Schlummer zu widerstehen. Ich werde bis zum Tagesanbruch wach bleiben, und doch kann es für mich ja nicht Tag werden, ehe nicht Licht von außen in diesen Behälter dringt. Vielleicht genügt dazu noch gar nicht, daß sich die Thüre öffnet, sondern wird es nöthig, daß man mich aus diesem Loche befreit, mich nach dem Verdeck bringt...

Ich lehne mich in eine Ecke der Eisenwände, denn es fehlt mir sogar ein Stuhl, um mich niedersetzen zu können. Da ich aber in den Lidern bleierne Schwere fühle und mich eine wirkliche Schlafsucht erfaßt, spring' ich wieder auf. Jetzt packt mich der Zorn, ich schlage mit der Faust gegen die Wände, ich rufe... Vergeblich!... Meine Hände werden durch die Nietköpfe der Metalltafeln verletzt und meine Rufe bringen niemand herbei.

Nein, das ist meiner unwürdig! Ich habe mir gelobt, mich zu mäßigen, und jetzt, gleich zu Anfang, verliere ich schon alle Selbstbeherrschung und benehme mich wie ein Kind.

Mit Sicherheit beweist das Fehlen jedes Rollens und Stampfens, daß das Fahrzeug die offne See noch nicht erreicht hat. Sollte es etwa, statt über den Pamplicosund zu steuern, gar die Neuze hinausfahren? Doch nein; wem[66] könnte es in den Sinn kommen, sich ins Innre der Grafschaft zu begeben? – Als Thomas Roch aus dem Healthsul-House entführt wurde, geschah es ohne Zweifel in der Absicht, ihn nach außer halb der Vereinigten Staaten, wahrscheinlich nach einer weltverlassnen Insel oder nach irgend einem Punkte der Alten Welt zu schaffen. Unser schwimmendes Bauwerk kann also den ziemlich kurzen Lauf der Neuze stromauf nicht gehen... Wir treiben jetzt auf dem Wasser des Pamplicosundes, der ausnahmsweise ganz ruhig ist.

Ist das Fahrzeug erst ins freie Wasser gekommen, dann kann es Schwankungen durch den Wellenschlag nicht entgehen, der ja seine Wirkung, selbst bei völlig abgeflauter Brise, auch auf große Schiffe äußert. Ich müßte mich denn gerade an Bord eines Kreuzers oder eines ganz tief gehenden Panzerschiffs befinden, und das ist doch kaum anzunehmen.

In diesem Augenblick scheint es mir, als ob... wahrhaftig, ich täusche mich nicht... im Innern entsteht ein Geräusch... ein Geräusch von Schritten... die Schritte nähern sich der Eisenblechwand, in der sich die Thür zu meiner Kammer befindet. Das sind jedenfalls Leute von der Besatzung... Wird sich diese Thür endlich öffnen?... Ich lausche... draußen sprechen Leute... ich vernehme ihre Stimmen... ich kann sie aber nicht verstehen. Sie bedienen sich einer mir unbekannten Sprache... Ich rufe... ich schreie... Keine Antwort!

Es gilt also zu warten, zu warten, immer noch zu warten! Ich wiederhole mir dieses Wort... es hämmert mir im Kopfe, wie der Klöppel einer Glocke

So sei es versucht, die Zeit abzuschätzen, die bis jetzt verstrichen ist.

Ich kann sie, seit das Schiff abgefahren ist, auf nicht mehr als vier bis fünf Stunden berechnen. Meiner Schätzung nach muß Mitternacht vorüber sein. Leider kann mir meine Uhr inmitten der tiefen Finsterniß nichts nützen.

Sind wir aber schon fünf Stunden unterwegs, so muß das Schiff aus dem Pamplicosund heraus sein, es mag nun den Ocracoke- oder den Hatteras-Inlet zur Durchfahrt benutzt haben. Ich glaube also, daß es sich, etwa eine gute Seemeile von der Küste, auf dem Meere befindet. Und dennoch keine Bewegung vom Seegange oder einer Dünung...?

Das ist unerklärlich... fast nicht glaublich... Doch wie, wenn ich mich nun doch getäuscht hätte... wenn ich nur das Opfer einer Illusion geworden wäre!... Bin ich etwa gar nicht im untern Raum eines fahrenden Schiffes eingeschlossen?...[67]

Noch eine Stunde verstreicht, das Zittern von den Maschinen hat aufgehört. Das Fahrzeug, das mich davonträgt, muß jetzt still liegen... Sollte es schon seinen Bestimmungsort erreicht haben?... In diesem Falle könnte das nur einer der Häfen im Norden oder Süden des Pamplicosundes sein. Doch wie wäre es wahrscheinlich, daß der aus dem Healthsul-House geraubte Thomas Roch wieder auf dem Festlande abgesetzt werden sollte?... Die Entführung müßte da sehr bald bekannt werden und ihre Urheber setzten sich in einem der Häfen der Union der Gefahr aus, entdeckt zu werden...

Ist das Fahrzeug nun thatsächlich irgendwo eingelaufen, so muß ich doch das Rasseln der Ankerketten in den Klüsen hören, und wenn es der Anker von weiterem Forttreiben aufhält, muß es einen fühlbaren Ruck geben. Das kann bis dahin nur noch wenige Minuten dauern.

Ich warte... ich lausche...

Nichts... ein düstres, beunruhigendes Schweigen herrscht an Bord. Man möchte fast fragen, ob sich auf diesem Schiffe außer mir noch andre lebende Wesen befinden...

Jetzt umfängt mich eine lähmungsartige Schwäche... Die Luft ist zu schlecht geworden; ich kann kaum noch athmen... auf der Brust lastet es mir wie ein Bleigewicht, dessen ich mich nicht entledigen kann... Die Lider werden mir immer schwerer... schließen sich... ich verfalle einer furchtbaren Erschöpfung, die mich unwiderstehlich einschläfern wird...

Wie lange hab ich denn geschlafen? Ich weiß es nicht. Ist's jetzt Tag oder Nacht?... Ich könnte es nicht sagen. Was ich aber zuerst wahrnehme, ist, daß meine Athmung leichter von statten geht. Jetzt füllen sich meine Lungen mit einer Luft, die nicht mehr wie vorher mit Kohlensäure überladen ist.

Ist die Luft, während ich schlief, erneuert worden?... Hat jemand den Behälter geöffnet?... Ist ein Mensch in meinem engen Kerker gewesen?...

Ja... hier hab' ich den Beweis davon.

Ganz zufällig ergreift meine Hand einen Gegenstand... ein Gefäß, das mit einer Flüssigkeit gefüllt ist, die recht angenehm duftet. Ich setze es an meine brennenden Lippen, denn mich quält der Durst so entsetzlich, daß ich mich auch mit Brackwasser begnügt hätte...

O, das ist Ale, eine vortreffliche Sorte Ale, die mich erfrischt, wieder kräftigt und wovon ich eine ganze Pinte verschlinge...[68]

Bin ich aber nicht verurtheilt, vor Durst umzukommen, so wird man mich doch wohl auch nicht dem Hungertode preisgeben wollen.

Nein... hier in einer Ecke steht ein Korb und der enthält ein Brot und ein Stück kaltes Fleisch.

Ich esse... esse begierig... und allmählich kommen mir die Kräfte wieder.

Ich bin also doch nicht so verlassen und vernachlässigt, wie ich gefürchtet hatte. Irgend jemand ist in dieses finstre Loch eingetreten und durch die Thür ist etwas von dem Sauerstoff der Außenluft eingedrungen, ohne den ich erstickt wäre. Ferner hat man mir etwas gebracht, um meinen Durst und Hunger bis zu der Stunde zu befriedigen, wo ich von hier herausgelassen werde.

Wie lange soll diese Einschließung aber noch dauern?... Stunden... Tage lang?...

Es ist mir weder möglich, die Zeit zu berechnen, die seit meinem Einschlummern verflossen ist, noch kann ich mit einiger Genauigkeit angeben, welche Zeit es jetzt sein mag. Meine Uhr hatt' ich inzwischen zwar aufgezogen, sie hat aber kein Repetierwerk... Vielleicht, indem ich nach den Zeigern taste?... Richtig... Der kleine Zeiger scheint auf der acht zu stehen... jedenfalls des Morgens...

Sicher bin ich mir nur über das eine, daß das Schiff sich nicht mehr fortbewegt. An Bord fühlt man nicht mehr die leiseste Erschütterung... ein Beweis, daß die Maschinerie in Ruhe ist Inzwischen vergehen die Stunden... endlose Stunden, und ich frage mich, ob nicht die Nacht herankommen wird, ehe jemand aufs neue meinen Kerker betritt, um ihn so, wie während meines Schlafs zu lüften, mir Mundvorräthe zu bringen... Ja, ja, man wird das thun wollen, während ich wieder schlafe...

Diesmal bin ich aber fest entschlossen, mich nicht übermannen zu lassen... Ja, ich werde mich stellen, als ob ich schliefe... und wer dann auch hier hereintreten möge... ich werde ihn zu einer Antwort zu zwingen wissen![69]

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 57-70.
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