[101] Am 1. Januar brachten sich die Familien Zermatt und Wolston gegenseitig ihre Glückwünsche dar. Sie überraschten einander mit kleinen Geschenken, die freilich mehr moralischen als reellen Werth hatten – mit verschiedenen Nichtsen, die durch die Zeit zu theueren Andenken werden. Natürlich wurde auch so mancher warme Händedruck gewechselt an diesem überall festlich begangenen Tage, wo das junge Jahr
Die Bühne unbekannter
Zukunft zuerst betreten,
hat ein französischer Dichter in siebensilbigen Versen gesagt. Diesmal unterschied sich der Neujahrstag freilich von seinen zwölf Vorgängern, seit die Schiffbrüchigen vom »Landlord« das Ufer bei Zeltheim betreten hatten. Der ernsten Stimmung mischte sich heute ein gutes Theil aufrichtiger Freude bei, und[101] bald herrschte eine allgemeine Fröhlichkeit, die Jack mit der Lebendigkeit, womit er alle suchen anfaßte, eher noch zu erhöhen wußte.
Der ältere Zermatt und Wolston umarmten sich. Alte Freunde, wie sie es schon längst waren, hatten sie sich bei dem Zusammenleben hier gegenseitig schätzen und achten gelernt. Der erste erwies Annah die ganze Zärtlichkeit eines Vaters, und der zweite behandelte Ernst und Jack wie eigene Söhne. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den beiden Müttern, die allen ihren Kindern mit gleicher Liebe entgegenkamen.
Annah Wolston mußte sich besonders geschmeichelt fühlen über die Art und Weise, wie Ernst sie begräßte. Der junge Mann versuchte sich bekanntlich zuweilen in Gedichten. Schon früher hatte er ja dem braven Esel, nach dem diesem verderblichen Zusammentreffen mit der riesigen Boaschlange, eine Grabschrift in recht hübschen Reimen gewidmet. Jetzt, wo es dem jungen Mädchen galt, erhob sich seine Phantasie natürlich zu höherem Fluge, und über Annahs Wangen ergoß sich eine tiefe Röthe, als der jugendliche Jünger des Apoll sie beglückwünschte, in der herrlichen Luft des Gelobten Landes ihre Gesundheit wiedergefunden zu haben.
»Die Gesundheit... und das reinste Glück!« antwortete sie, Frau Zermatt umarmend.
Der betreffende Tag, übrigens ein Freitag, wurde gleich einem Sonntage durch Abhaltung einer Andacht und mit der Bitte an den Höchsten gefeiert, daß er den Abwesenden seinen Schutz verleihe, während ihm gleichzeitig heißer Dank für alle bisher bewiesene Güte dargebracht wurde.
Bald darauf aber rief Ernst:
»Und unsere Thiere?...
– Wie, unsere Thiere, was ist's damit? fragte der ältere Zermatt.
– Nun ja, Turc, Falb, Braun, unsere Büffel Sturm und Brummer, unser Stier Brüll, unsere Kuh Blaß, unser Onagre Leichtfuß und die jungen Esel Pfeil, Flink und Rasch, unser Schakal Caro, unser Strauß Brausewind, unser Affe Knips II., kurz, alle unsere zwei- und vierfüßigen guten Freunde...
– Ich bitte Dich, Ernst, unterbrach ihn Frau Zermatt, Du beabsichtigst doch nicht etwa gar, auch die Ställe und den Hühnerhof anzudichten?
– Nein, gewiß nicht, Mutter; ich glaube nicht, daß die braven Thiere selbst für die schönsten Reime empfänglich wären; dagegen verdienen sie zur[102] Feier des Neuen Jahres doch wohl eine doppelte Futterration und ein frisches Strohlager.
– Ernst hat recht, sagte Wolston, es ist nicht mehr als billig, daß unsere Thiere...
– Und den Schakal, sowie den Cormoran Jennys nicht zu vergessen! fügte Annah Wolston ein.
– Richtig, mein Kind, stimmte Frau Wolston ihr zu. Die Schützlinge Jennys müssen ebenfalls ihr Theil haben!
– Und da heute der erste Tag des Jahres für die ganze Erde ist, nahm Frau Zermatt das Wort, wollen wir uns auch recht innig derer erinnern, die sicherlich unser gedenken!«
Ein herzlicher Gruß der beiden Familien wurde den geliebten Passagieren der »Licorne« nachgesendet.
Die treuen Thiere wurden nach Verdienst belohnt, wobei man es ihnen weder an Zucker noch an Liebkosungen fehlen ließ.
Darauf sammelte sich die kleine Gesellschaft im »Speisezimmer« von Felsenheim zu einem ausgewählten, reichlichen Frühstück, zu dessen frohem Verlauf ein Paar Gläser des alten, vom Befehlshaber der Corvette geschenkten Weines nicht wenig beitrugen.
Am heutigen Festtage dachte niemand daran, sich den sonst gewohnten Arbeiten zu widmen. Der ältere Zermatt schlug deshalb auch einen Spaziergang nach Falkenhorst vor. Das war ein Weg von kaum einer Lieue und erforderte keine Anstrengung, da er immer im Schatten der schönen, die Sommer- und die Winterwohnung verbindenden Allee hinführte.
Das Wetter war prächtig, wenn auch sehr warm. Die Doppelreihe der Alleebäume ließ aber keinen Sonnenstrahl durch ihr dichtes Laubwerk dringen. Es handelte sich also nur um einen angenehmen Ausflug, bei dem man, längs des Strandes hingehend, zur Rechten das Meer und zur Linken die Felder hatte.
Gegen elf Uhr erfolgte der Aufbruch, der ganze Nachmittag sollte in Falkenhorst verbracht werden, und zum Abendessen gedachte man wieder zurück zu sein. Wenn die beiden Familien sich im vergangenen Jahre niemals weder in Waldegg, noch auf dem Prospect-Hill oder in der Einsiedelei von Eberfurt aufgehalten hatten, lag das nur daran, daß an den Meiereien gewisse Vergrößerungen nöthig geworden waren, die sich erst nach der Rückkehr der »Licorne« ausführen ließen. Nebenbei war ja auch zu vermuthen, daß mit dem Eintreffen neuer[103] Colonisten das jetzige Gebiet des Gelobten Landes manche Veränderung erfahren würde.
Nachdem sie durch die Einfriedigung des Küchengartens gekommen waren und den Schakalbach auf der Familienbrücke überschritten hatten, wendeten sich die Spaziergänger der Allee zu, deren Obstbäume an den Seiten sich schon erstaunlich entwickelt hatten.
Die Spaziergänger beeilten sich nicht. eine Stunde mußte ja hinreichen. nach Falkenhorst zu kommen. Die Hunde Braun und Falb, die ihre Herren begleiten durften, sprangen fröhlich voraus. An jeder Seite prangten die Felder mit Mais, Hirse, Hafer, Weizen, Korn, Maniok und Bataten in üppigem Gedeihen. Die zweite Ernte versprach sehr ergiebig zu werden, ohne von dem zu reden, was die Ländereien weiter im Norden, die durch die Abflüsse aus dem Schwanensee bewässert wurden, noch obendrein liefern mußten.
»Welch glücklicher Gedanke, das Wasser des Schakalbaches auszunützen, das sich vorher ganz zwecklos ins Meer ergoß, welches seiner doch nicht bedurfte!« bemerkte Jack gegen Herrn Wolston.
Nach je zwei- bis dreihundert Schritten blieben die Lustwandler einmal stehen, und in diesen Pausen entwickelte sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. Annah vergnügte sich damit, einige der hübschen Blumen zu pflücken, deren Wohlgeruch den ganzen Weg erfüllte. Mehrere hundert Vögel flatterten zwischen den dichtbelaubten und früchteschweren Aesten umher Durch das Gras und Kraut schlüpfte mancherlei Wild, wie Hafen, Kaninchen, Auerhähne, Haselhühner und Schnepfen. Weder Ernst noch Jack hatten ihre Jagdflinten mitnehmen dürfen, und es schien fast, als ob die Vierfüßler und das Geflügel das wüßten. Heute sollte ja auch spazieren gegangen. nicht gejagt werden.
»Ich erwarte bestimmt, hatte der ältere Zermatt, dem Annah Wolston eifrig beistimmte, vor dem Weggange gesagt, daß heute diese harmlosen Geschöpfe unbelästigt bleiben.«
Ernst, dem die Jagdlust nicht so tief im Blute lag, war sofort zu einer Zusage bereit, Jack aber ließ sich erst etwas bitten. Auszugehen ohne Gewehr, das – seinen Worten nach – einen Theil seines Selbst bildete, erschien ihm gerade so, als ob ihm ein Arm oder ein Bein amputirt worden wäre.
»Ich kann ja das Gewehr immerhin mitnehmen, ohne davon gleich Gebrauch zu machen, hatte er gesagt. Selbst wenn ein ganzes Volk Rebhühner zwan zig Schritt von mir vorüberzöge, verpflichte ich mich, nicht zu schießen...[104]
– Ein solches Versprechen würden Sie nicht zu halten vermögen, Jack, hatte das junge Mädchen geantwortet. Bei Ernst hätte das wohl keine Gefahr, doch bei Ihnen...
– Wenn uns nun aber ein Raubthier in den Weg käme, ein Panther, Bär, Tiger oder Löwe, die giebt's ja alle auf der Insel...
– Doch nicht im Gelobten Lande, Jack, hatte Frau Zermatt entgegnet. Erhebe nur keinen weiteren Einspruch; Du hast ja für die Jagd noch dreihundertvierundsechzig Tage zur Verfügung.[105]
– Haben wir denn nicht wenigstens ein Schaltjahr?
– Nein, das nicht, erwiderte Ernst.
– Man hat aber auch gar kein Glück!« rief der junge Jäger.
Es war ein Uhr geworden, als die Familien, nachdem sie das Mangobaumgehölz durchschritten hatten, unten vor Falkenhorst anlangten.
Zunächst überzeugte sich der ältere Zermatt, daß die Hürde, die den Geflügelhof umgab, in unversehrtem Zustande war. Weder die Affen noch die Eber hatten sich diesmal der ihnen angeborenen Zerstörungslust hingegeben. Jack hätte freilich auch keine Möglichkeit gehabt, derartige Plünderer zu züchtigen.
Die Spaziergänger ruhten nun ein wenig auf der halbrunden, die Wurzeln des riesigen Mangobaumes überdeckenden Terrasse aus, die aus thonig-fetter Erde hergestellt und mittels einer Mischung von Harz und Theer undurchlässig gemacht worden war. Jeder nahm eine kleine Erfrischung zu sich, die die Methfässer unter der Terrasse lieferten. Dann erstiegen alle die im Innern des Stammes angelegte Wendeltreppe, womit sie die, vierzig Fuß über der Erde gelegene Plattform erreichten.
Wie glücklich fühlte sich die Familie Zermatt hier unter dem breiten Geäste des Baumes! War diese Stelle doch sozusagen ihr erstes Nest gewesen, das bei ihnen so viele Erinnerungen wachrief. Seine beiden, mit Gittergeländer versehenen Balkons, sein doppelter Fußboden, seine mit dicht anschließender Rindenlage abgedeckten Zimmer, hatten das »Nest« zu einer reizenden und kühlen Sommerwohnung gemacht, die jetzt aber nur zu vorübergehendem Aufenthalte diente. Geräumigere Einrichtungen sollten am Prospect-Hill geschaffen werden. Jedenfalls wollte der ältere Zermatt den »Horst des Falken« aber so lange in stand halten, wie der riesige Baum ihm auf seinen Aesten eine genügende Stütze böte und bis er einst »an Jahren reich« vor Alter selbst zusammenbräche.
An diesem Nachmittage trat im Laufe des Gesprächs auf dem Balkon Frau Wolston noch mit einer Anregung hervor, die gewiß Beachtung verdiente. Bei der ungeheuchelten Frömmigkeit und den tiefen religiösen Gefühlen, die ihr eigen waren, konnte niemand über ihre Worte erstaunen.
»Schon oft, liebe Freunde, so sprach sie, habe ich bewundert – und bewundre noch – was Sie alles auf diesem Theil unserer Insel geleistet und geschaffen haben: Felsenheim, Falkenhorst, Prospect-Hill, die Meiereien, Anpflanzungen und Felder; alles zeugt von ebensoviel Intelligenz wie von Arbeitsfreudigkeit.[106] Frau Zermatt hab' ich aber schon wiederholt gefragt, warum Ihnen Eines mangle...
– Eine Kapelle? fiel Betsie sofort ein. Sie haben recht, meine liebe Merry. Wir brauchen wirklich, dem Allmächtigen danken zu können...
– Etwas mehr als eine Kapelle, ließ sich Jack, dem nichts unausführbar erschien, vernehmen, eine wirkliche Kirche, ein Baudenkmal mit schönem Glockenthurme!... Wann beginnen wir damit, Vater?... Baumaterial haben wir ja soviel, daß wir davon noch verkaufen können!... Herr Wolston wird die Pläne entwerfen und wir, wir führen sie aus.
– Ja, erwiderte der ältere Zermatt lächelnd, wenn ich mir auch den fertigen Kirchenbau vorstellen kann, so sehe ich dafür doch keinen Geistlichen keinen Prediger...
– O, als solcher tritt Franz nach seiner Heimkehr ein, meinte Ernst
– Inzwischen machen Sie sich darum keine Sorge, Herr Zermatt, setzte Frau Wolston hinzu. Wir begnügen uns vorläufig schon damit, in unserer Kapelle beten zu können.
– Ihr Vorschlag ist ausgezeichnet, Frau Wolston! Wir dürfen ja niemals vergessen, daß bald neue Colonisten eintreffen könnten. In den Mußestunden der Regenzeit werden wir ihn eingehender erörtern... zunächst z. B. den geeigneten Platz dafür auswählen...
– Mir scheint, lieber Mann, sagte da Frau Zermatt, daß es leicht sein müsse, Falkenhorst, wenn es uns einmal nicht mehr als Wohnung dienen soll, zu einer Kapelle über der Erde umzugestalten.
– Und unsere Gebete wären dann schon auf dem halben Wege zum Himmel, wie unser lieber Franz sagen würde, fügte Jack hinzu.
– Das wäre doch etwas zu weit von Felsenheim, antwortete der ältere Zermatt. Mir erscheint es wünschenswerther, diese Kapelle in der Nachbarschaft unserer Hauptwohnung zu errichten, so daß rings um sie neue Wohnstätten entstehen können. Nun, ich wiederhole es, wir werden die Sache erörtern.«
In den noch übrigen drei oder vier Monaten der schönen Jahreszeit waren freilich alle Hände von dringenden Arbeiten in Anspruch genommen, und vom 15. März bis Ende April gab es überhaupt keinen Rasttag. Herr Wolston schonte sich gewiß nicht, Fritz und Franz konnte er aber doch nicht ersetzen, wo es galt, die Meiereien mit Futtervorräthen zu versorgen, um die Ernährung der Thiere auch im Winter zu sichern. In Waldegg, der Einsiedelei von Eberfurt,[107] sowie beim Prospect-Hill gab es jetzt wenigstens hundert Schafe, Ziegen und Schweine, und die Stallungen bei Felsenheim hätten nicht hingereicht, eine so große Herde aufzunehmen. Mit dem Geflügel lag die Sache leichter, denn das trieb man vor Eintritt der schlechten Jahreszeit in den Hühnerhof zusammen, wo es weder den Hühnern und Trappen, noch den Tauben an täglicher Pflege mangelte. Die Gänse und Enten konnten sich auf einer größeren Lache aus. tummeln, die sich nur zwei Flintenschuß weit von hier befand. Nur die Zugthiere, die Esel und Büffel, sowie die Kühe und deren Kälber blieben in Felsenheim selbst.
Auf diese Weise war – abgesehen von der Jagd und der Fischerei, die auch vom April bis zum September reiche Beute versprachen – die Ernährung aller schon durch die Erzeugnisse des Viehhofes gesichert.
Am 15. März war nun immer noch etwa eine Woche übrig, ehe die Feldarbeiten die Betheiligung aller Insassen Felsenheims erforderten. Diese Frist hätte also ohne Nachtheile mit einem Ausfluge über die Grenzen des Gelobten Landes hinaus ausgefüllt werden können. Darüber entspann sich noch an diesem Abend auch ein Gespräch, woran beide Familien theilnahmen. Anfänglich gingen die Anschauungen etwas auseinander, schließlich herrschte über einen dabei gemachten Vorschlag aber allgemeine Uebereinstimmung.
Herr Wolston kannte bisher kaum etwas anderes, als den Theil des Landes zwischen dem Schakalbache und dem Cap der Getäuschten Hoffnung, auf dem auch die Meiereien von Waldegg, Zuckertop, die Einsiedelei Eberfurt und der Prospect-Hill lagen.
»Es wundert mich, lieber Zermatt, sagte er, daß weder Sie noch Ihre Kinder im Laufe von fast zwölf Jahren es versucht haben, weiter ins Innere der Neuen Schweiz einzudringen.
– Wozu hätte das dienen sollen, lieber Wolston? erwiderte Zermatt. Bedenken Sie nur die Verhältnisse: Als wir nach dem Schiffbruche des »Landlord« hier glücklich das Ufer erreichten, waren meine Söhne noch eigentlich Kinder, die mich bei einer solchen Untersuchung nicht hätten unterstützen können. Auch daran, daß meine Frau mich begleitet hätte, war gar nicht zu denken, und ebenso unklug wäre es gewesen, sie allein zurückzulassen.
– Allein mit Franz, der erst fünf Jahre alt war! setzte Betsie hinzu. Uebrigens klammerten wir uns immer an die Hoffnung, von irgendeinem Schiffe bald wieder aufgenommen zu werden.[108]
– Vor allem, fuhr der ältere Zermatt fort, mußten wir doch für unsere dringendsten Bedürfnisse sorgen und wenigstens so lange in der Nähe des Schiffes bleiben, bis wir daraus geborgen hatten, was uns in Zukunft nützlich werden könnte. An der Mündung des Schakalbaches hatten wir Süßwasser, an dessen linkem Ufer leicht zu bearbeitende Felder und auf dem rechten stand eine reiche Pflanzenwelt. Bald darauf führte uns ein Zufall zur Auffindung der gesunden und geschützten Wohnung von Felsenheim. Sollten wir da die Zeit vergeuden, nur um unsere Neugier zu befriedigen?
– Dazu kommt noch, bemerkte Ernst, daß wir uns mit einer Entfernung, von der Rettungsbucht der Gefahr aussetzten, mit Eingeborenen zusammenzutreffen, vielleicht mit Bewohnern der Andamanen, die gerade im Rufe besonderer Wildheit stehen.
– Endlich brachte jeder Tag, fuhr der ältere Zermatt fort, neue und so dringliche Arbeiten, daß an deren Verschiebung nicht zu denken war. Jedes neue Jahr aber legte uns wiederum viele Arbeiten, wie das vergangene auf Dann fesselte uns die liebe Gewohnheit, und da es uns hier wohlging, wurzelten wir sozusagen an dieser Stelle fest... Darum haben wir sie niemals verlassen. In dieser Weise sind die Jahre verstrichen, und uns erscheint es doch, als wären wir erst seit gestern hier. Nun also, mein lieber Wolston, wir befanden uns auf diesem Stückchen Erde stets recht wohl, und kamen nie auf den Gedanken, daß es weise sein könnte, anderswo nach noch Besserem zu suchen..
– Das ist alles ganz richtig, antwortete Wolston; ich freilich hätte im Laufe der Jahre dem Verlangen, das Land auch weiter nach Süden, Osten und Westen kennen zu lernen, schwerlich widerstehen können.
– Weil Sie englisches Blut in den Adern haben, meinte der ältere Zermatt, und deshalb immer »unterwegs« sein müssen. Wir gehören aber zu den friedlichen und seßhaften Schweizern, die ihre Berge nur mit Bedauern verlassen, zu den Leuten, die gern zu Hause bleiben, und ohne die Verhältnisse, die uns einst nöthigten, Europa zu verlassen...
– Dagegen erheb' ich Einspruch, rief Jack, mindestens soweit es mich betrifft. Wenn auch ein Schweizer mit Leib und Seele, verlangte es mich doch immer, die ganze Erde zu durchstreifen!
– Du wärst auch werth, ein Engländer zu sein, erklärte Ernst, doch darfst Du nicht glauben, daß ich Dir aus diesem Trieb in die Ferne einen[109] Vorwurf machen möchte. Uebrigens meine ich, daß Herr Wolston recht hat; auch ich halte es für geboten, daß wir unsere Neue Schweiz endlich einmal in ihrem ganzen Umfange besichtigen.
– Sie ist ja, wie wir jetzt wissen, nur eine Insel im Indischen Ocean, setzte Wolston hinzu, und ich halte es für angezeigt, ihre Erforschung noch vor der Rückkehr der »Licorne« zu vollenden.
– Sobald der Vater es wünscht! rief Jack, der stets bereit war, auf Entdeckungen auszuziehen.
– Davon werden wir nach der schlechten Jahreszeit wieder sprechen, erklärte der ältere Zermatt. Ich habe gegen einen Zug ins Innere gar nichts einzuwenden. Jedenfalls müssen wir aber anerkennen, vom Schicksal begünstigt worden zu sein, daß es uns nach dieser gesunden und fruchtbaren Küste verschlagen ließ. Sollte es anderswo noch eine geben, die sich mit dieser messen könnte?
– Wieviel wissen wir aber von ihr? antwortete Ernst. Nach Osten zu, wo wir das Ostcap umschifft haben, um nach der »Licorne«-Bai zu gelangen, ist unsere Pinasse nur an einem Uferstriche mit nackten Felsen und zwischen gefährlichen Klippen hingefahren, und selbst am Ankerplatze der Corvette zeigte sich nur ein sandiger Strand. Begeben wir uns dagegen weiter nach Süden hinaus, so ist es doch möglich, daß die Neue Schweiz dort einen weniger trostlosen Anblick bietet.
– Darüber können wir uns, sagte Jack, nur unterrichten, wenn wir einmal eine Rundfahrt mit der Pinasse ausführen.
– Wenn Sie aber, nahm Wolston wieder das Wort, nach Osten zu und nicht über die »Licorne«-Bai hinausgekommen sind, so haben Sie doch wohl den Küstenstrich im Norden weiterhin besucht?
– Ja wohl, etwa fünfzehn Lieues weit, antwortete Ernst, vom Cap der Getäuschten Hoffnung bis zur Perlenbucht.
– Und wir sind nicht einmal wißbegierig genug gewesen, rief Jack, den Rauchenden Felsen aufzusuchen...
– Ein ödes, unfruchtbares Eiland, bemerkte Annah, das Jenny gewiß nie wiederzusehen verlangte.
– Alles in allem, meinte der ältere Zermatt, dürfte es am rathsamsten sein, die bis an die Perlenbucht heranreichenden Landstrecken zu besichtigen, denn von deren Ufer aus erstrecken sich grüne Prairien, größere[110] und kleinere Hügel und dichtbelaubte Wälder offenbar weit ins Innere hinein...
– Wälder, worin man Trüffeln sammeln kann, sagte Ernst.
– Seh' einer das Leckermaul! rief Jack.
– Ja freilich, Trüffeln, bestätigte der ältere Zermatt lachend, doch man trifft dort gewiß auch die, die sie auszuscharren pflegen.
– Ohne die Panther und die Löwen zu vergessen! setzte Betsie hinzu.
– Aus diesem allen, ließ sich Wolston vernehmen, geht hervor, daß wir uns ohne gewisse Vorsichtsmaßregeln weder nach der einen, noch nach der anderen Seite weit hinwegwagen dürfen. Da unsere zukünftige Colonie sich jedenfalls noch bis jenseit des Gelobten Landes ausdehnen wird, halte ich es für richtiger, erst dessen Hinterland kennen zu lernen, als eine Rundfahrt auf dem Wasser zu unternehmen...
– Und zwar vor der Rückkehr der Corvette, fiel Ernst ein. Meiner Ansicht nach wäre es das Beste, durch den Paß der Cluse zu gehen und durch die Niederung des Grünthales zu ziehen, um auf die Berge zu gelangen, die man von den Höhen bei Eberfurt aus sehen kann.
– Sind Ihnen diese nicht als recht fernliegend erschienen? fragte Wolston.
– Ja... etwa fünfzehn Lieues weit, antwortete Ernst, denn man erkannte nur noch ihren bläulichen Kamm am Horizonte.
– Ich bin überzeugt, sagte da Annah Wolston lachend, daß Ernst bereits einen vollständigen Reiseplan entworfen hat.
– Zugestanden, Annah, antwortete der junge Mann; ich möchte gar zu gern eine genaue Karte unserer Neuen Schweiz herstellen.
– Liebe Freunde, begann jetzt der ältere Zermatt, laßt mich einen Vorschlag machen, der Herrn Wolston wenigstens in etwas befriedigen wird...
– Angenommen! Angenommen! rief Jack.
– So höre mich doch erst an, Du leibhaftige Ungeduld! Gegen zwölf Tage haben wir noch übrig, ehe die Arbeiten bei der zweiten Ernte uns in Anspruch nehmen, und wenn es Euch recht ist, widmen wir die Hälfte davon dem Besuche des Theiles der Insel, der ihr östliches Ufer bildet.
– Und inzwischen, bemerkte Frau Wolston wenig zustimmenden Tones, während Herr Zermatt und seine Söhne, sowie auch mein Mann weit draußen umherschweifen, bleiben wir, Frau Zermatt, Annah und ich, wohl hübsch allein hier in Felsenheim zurück?...[111]
– O nein, Frau Wolston, beruhigte sie der ältere Zermatt, die Pinasse soll dann alle aufnehmen.
– Wann geht es fort? rief Jack. Gleich heute...
– Warum nicht lieber von gestern? erwiderte sein Vater lachend.
– Da wir das Innere der Perlenbucht schon von Ansehen kennen, sagte Ernst, dürfte es, meine ich, auch richtiger sein, am östlichen Ufer hinzusegeln. Die Pinasse steuerte dabei geraden Weges nach der »Licorne«-Bai und wendete sich von da aus nach Süden. Vielleicht entdecken wir dabei die Mündung eines Flusses, dessen Laufe wir folgen könnten...
– Das ist ein vortrefflicher Gedanke, bestätigte der ältere Zermatt.
– Wenigstens, bemerkte Wolston dagegen, wenn es nicht wünschenswerther erscheint, die ganze Insel zu umschiffen...
– Eine vollständige Rundfahrt? antwortete Ernst. Das erforderte wohl mehr Zeit, als wir übrig haben, denn bei unserem ersten Ausfluge durch das Grünthal erblickten wir nur den bläulichen Kamm jenes Bergzuges am Horizonte.
– Gerade über diese Bergkette sollten wir uns aber genauer unterrichten, erwiderte ihm Wolston.
– Ja freilich, das hätte schon weit früher geschehen sollen, stimmte Jack ihm zu.
– Gewiß, gewiß! bestätigte der ältere Zermatt; und vielleicht mündet in diesen Ufertheil ein Fluß, den wir, wenn auch nicht mit der Pinasse, doch mit dem Canot hinausfahren könnten.«
Nachdem man sich über diesen Vorschlag geeinigt hatte, wurde die Abfahrt auf den zweitnächsten Tag festgesetzt.
Sechsunddreißig Stunden waren übrigens keine zu lange Frist für die nöthigen Vorbereitungen. Zunächst mußte die »Elisabeth« für die Fahrt segelfertig gemacht und gleichzeitig ausreichendes Futter für die Thiere besorgt werden, um diese in der Zeit der Abwesenheit beider Familien, die unvorhergesehene Umstände vielleicht verlängern könnten, keine Noth leiden zu lassen.
Das gab also für die einen wie für die anderen noch reichliche Arbeit.
Wolston und Jack unterzogen sich einer gründlichen Besichtigung der im Hintergrunde der Bucht liegenden Pinasse. Seit der Fahrt nach der »Licorne«-Bai war sie nicht wieder aufs Wasser hinausgekommen. Jetzt bedurfte sie einiger Ausbesserungen, worauf sich Wolston übrigens sehr gut verstand.
Auch an Kenntniß der Schiffahrt fehlte es ihm nicht, doch war in dieser Hinsicht ja auf[112] Jack, den unerschrockenen Nachfolger seines Bruders Fritz, zu rechnen, der die »Elisabeth« gewiß ebenso geschickt führte, wie er den Kajak steuerte.
Bei ihm galt es höchstens einen etwas zügellosen Drang zu beschränken, der ihn vielleicht zu einer Unklugheit verleiten könnte.
Der ältere Zermatt, seine Gattin, Ernst, Frau Wolston und Annah, denen es oblag, die Ställe und den Geflügelhof zu versorgen, entledigten sich dieser Aufgabe mit regem Eifer. Weder den Büffeln noch dem Onagre, weder den Kühen noch den Eseln oder dem Strauße konnte es da an dem nöthigen Pflanzenfutter[113] fehlen; daneben wurden natürlich auch die Hühner, Gänse und Enten, Jennys Cormoran, die beiden Schakale, der Affe und die Hunde nicht vernachlässigt. Nur Braun und Falb sollten mit an Bord genommen werden, da sich im Laufe der Fahrt, wenn die Pinasse da und dort die Küste anlief, wohl Gelegenheit zu jagen bieten könnte.
Selbstverständlich erforderten jene Vorarbeiten auch einen Besuch der Meiereien von Waldegg und Zuckertop, sowie der Einsiedelei von Eberfurt und des Prospect-Hill, wo die verschiedenen Thiere untergebracht waren. Das verursachte immerhin einigen Zeitverlust; mit Hilfe des Wagens gelang es jedoch, die vom älteren Zermatt bestimmte Frist von sechsunddreißig Stunden nicht zu überschreiten.
Man hatte thatsächlich auch keine Zeit mehr zu verlieren. Die schon gelb werdenden Felder standen nahe vor der Reise der Früchte. Das Einernten konnte kaum um mehr als zwölf Tage verzögert werden, doch war die Pinasse bis dahin auch jedenfalls zurückgekehrt.
Kurz, am Abend des 14. März war alles vollendet und eine Kiste mit conservirtem Fleische, ein Sack Maniokmehl, ein Fäßchen Meth, eine kleine Tonne Palmwein vier Gewehre, ebensoviele Pistolen, Pulver, Blei, selbst hinreichende Munition für die zwei Signalkanonen der »Elisabeth«, ferner Decken, Wäsche, Kleidung zum Wechseln, Regenmäntel aus Wachstuch und die nöthigen Küchengeräthe an Bord geschafft.
Damit war alles zur Abfahrt fertig, und es galt nur noch, beim ersten Morgenrothe die dann vom Lande her wehende Brise zu benutzen, um nach dem Cap im Osten hinauszusegeln.
Um fünf Uhr des Morgens und nach einer stillen Nacht schifften sich alle ein, begleitet von den zwei Hunden, die vergnügt hin und her sprangen.
Als die Fahrgäste ihren Platz auf dem Verdecke eingenommen hatten, wurde am Achter noch das Canot emporgezogen. Dann setzte man das Brigg-, das Fock- und ein Klüversegel bei, der ältere Zermatt stand am Steuer, Wolston und Jack an den Schoten, die Pinasse drehte in den Wind und verlor jenseit der Haifischinsel die Höhen von Felsenheim bald aus dem Gesichte.[114]
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