II.

[14] Ich verließ Paris am 14. April um 7 Uhr morgens in einem mit Postpferden bespannten Reisewagen. In ungefähr zehn Tagen mußte ich die österreichische Hauptstadt erreichen.

Diesen ersten Teil meiner Reise will ich nur kurz erwähnen, da er durch keinerlei bemerkenswerte Zwischenfälle gekennzeichnet ist; auch sind die Gegenden, die ich auf meiner Fahrt passierte, viel zu gut bekannt, als daß sie einer regelrechten Beschreibung bedürften.

In Straßburg nahm ich meinen ersten längeren Aufenthalt. Als ich wieder zum Stadttore hinausfuhr, beugte ich mich noch einmal aus dem Wagenschlag. Die Turmspitze der Kathedrale, des berühmten Münsters, erschien mir wie in Sonnenstrahlen gebadet, die von Südosten einfielen.

Mehrere Nächte verbrachte ich im Wagen, wo das knarrende Geräusch der den Schotter der Straßen zermalmenden Räder mein einziges Schlummerlied bildete; aber gerade diese geräuschvolle Eintönigkeit wirkt oft besser einschläfernd als absolute Ruhe. Ich kam der Reihe nach durch Oos, Baden, Karlsruhe und mehrere andere Städte. Auch Stuttgart und Ulm in Württemberg, Augsburg und München in Bayern ließ ich hinter mir liegen. Nahe der österreichischen Grenze hielt ich mich etwas länger in[14] Salzburg auf und endlich, am 25. April um sechs Uhr fünfunddreißig Minuten abends, blieben die dampfenden Pferde im Hofe des ersten Wiener Gasthofes stehen.

Aber auch hier währte mein Aufenthalt nur sechsunddreißig Stunden. Ich gedachte diese berühmte Hauptstadt bei meiner Rückkehr genau zu besichtigen.

Wien wird weder von der Donau durchschnitten noch von ihr begrenzt. Ich hatte fast eine Meile im Wagen zurückzulegen, um das Ufer des Stromes zu erreichen, dessen willfähriger Rücken mich bis Ragz tragen sollte.

Schon am Vorabend hatte ich mir einen Platz in einem Warenschiffe, der »Dorothea«, gesichert, welches auch eingerichtet war, Passagiere an Bord zu nehmen. Ein buntes Treiben herrschte auf dem Fahrzeug, auf dem gar viele Nationen vertreten waren; Deutsche, Österreicher, Ungarn, Russen, Engländer. Den Passagieren war der rückwärtige Teil des Schiffes zur Verfügung gestellt, während die Waren im Vorderdeck verstaut waren, so daß daselbst niemand Platz finden konnte.

Meine erste Sorge galt dem Lagerplatz für die Nacht in dem gemeinsamen Schlafraum. Aber ich sah bald die Unmöglichkeit ein, meinen Koffer hineinzuschaffen und mußte ihn auf Deck neben einer Bank stehen lassen, von der aus ich während der Reise ein wachsames Auge auf mein Eigentum haben wollte.

Unter der doppelten Einwirkung der Strömung und eines frischen Windes glitt die »Dorothea« ziemlich rasch talwärts; ihr scharfer Kiel zerschnitt die gelblichen Wellen des schönen Stromes, dessen Wasser eher mit Ocker denn mit Ultramarin gefärbt erscheint – wenn auch die Legende vom Gegenteil berichtet. Wir begegneten zahlreichen Schiffen, die mit vollen Segeln dahinglitten und die Produkte des Landes weiterführten, das sich von beiden Ufern an in unabsehbarer Weite ins Innere hinein erstreckt. Auch an einem der riesigen Flöße kamen wir vorbei, die oft aus den Hölzern eines ganzen Waldes aufgebaut sind und auf denen schwimmende Dörfer errichtet werden, die bei der Abfahrt entstehen und bei der Ankunft zerstört werden; sie erinnern an die merkwürdigen brasilianischen »Jangadas« im Amazonenstrom. Dann folgte Insel auf Insel, die der Laune des Zufalles ihr Entstehen zu verdanken scheinen, so regellos sind sie hingesäet,[15] große und kleine; viele ragen kaum über die Oberfläche empor und sind so flach, daß schon ein ganz geringes Steigen des Wasserspiegels sie überschwemmen würde. Sie boten einen gar erfreulichen Anblick, wie sie so frisch und grün, von Weiden und Pappeln umsäumt, aus den Wellen tauchten. Zwischen den feuchten Gräsern wuchsen viele Blumen in leuchtenden Farben.

Auch mehrere Wasserdörfer passierten wir, die unmittelbar am Rande des Stromes erbaut sind. Fast hat es den Anschein, als ob der durch die Schiffe verursachte Wellengang sie auf ihren Pfählen erzittern lasse. Mehrmals mußten wir – auf die Gefahr hin, mit unserem Maste hängen zu bleiben – unter dem von der einen zur anderen Böschung gespannten Seil durchgleiten, an dem eine Plätte befestigt war, die mittels zweier Stangen fortbewegt wurde, deren jede mit einer Flagge in den Landesfarben geschmückt war.

Während dieses Tages kamen wir an Fischamend und Riegelsbrunn vorbei und abends ging die »Dorothea« vor der Einmündung der March, eines aus Mähren kommenden linksseitigen Nebenflusses der Donau, vor Anker; wir waren schon ganz nahe der ungarischen Grenze. Hier verbrachten wir die Nacht vom 27. zum 28. April. Mit der Morgenröte wurde aufgebrochen und jetzt trug uns die rasche Strömung an den erinnerungsreichen Stätten vorüber, wo sich im 16. Jahrhundert Franzosen und Türken mit Todesverachtung bekämpften.

Nach kurzen Aufenthalten in Petronell, Altenburg und Hainburg passierten wir die Ungarische Pforte, nachdem sich die Schiffsbrücke vor uns geöffnet hatte und bald darauf legte die »Dorothea« am Kai von Preßburg an.


»Die Mitteilung ist sehr ernst zu nehmen.« (S. 13.)
»Die Mitteilung ist sehr ernst zu nehmen.« (S. 13.)

Die Manipulation der Waren machte eine Rast von vierundzwanzig Stunden nötig, deshalb konnte ich diese Stadt, die das Interesse des Reisenden mit Recht in Anspruch nehmen darf, mit Muße besichtigen. Sie macht den Eindruck, auf einer Halbinsel erbaut zu sein. Es könnte niemanden wundernehmen, wenn anstatt der ruhigen Wasser des Stromes das weite Meer sich zu ihren Füßen ausbreitete und sie mit seinen rollenden Wogen bespülte. Längs der herrlichen Kais erheben sich die Häuser der Stadt, welche in einem gefälligen Stile und mit beachtenswerter Regelmäßigkeit erbaut sind.[16]

Ich bewunderte die Kathedrale, deren Kuppel in einer vergoldeten Säule endet, die zahlreichen Privatbauten, meist Paläste, die der ungarischen Aristokratie gehören Darauf stieg ich den Hügel hinan, an welchen sich das Schloß anlehnt und besichtigte diesen mächtigen, viereckigen Bau, dessen Ecken – ähnlich den mittelalterlichen Ruinen – mit Türmen befestigt waren. Ich bereute es nicht, den Aufstieg unternommen zu haben, denn die Aussicht, die sich mir hier oben bot, entschädigte mich reichlich. Ich überblickte die herrlichen Weingärten der Umgebung und die unendliche[17] Ebene, durch welche die Donau, wie ein breites Silberband, sich durchwindet.

Stromabwärts von Preßburg, am 30. April morgens, kam die »Dorothea« in den Bereich der Pußta. Diese Pußta ist wie die russischen Steppen, wie die amerikanischen Savannen; in unabsehbarer Weite dehnen sich die Ebenen über ganz Mittelungarn aus. Es ist eine merkwürdige Region mit ihren unermeßlichen Weideflächen, deren Ende das Auge nicht erreichen kann, durch welche oft in rasender Flucht unzählbare Herden von wilden Pferden jagen und die viele Tausende von Rindern und Büffeln ernährt.

Hier entwickelt sich die eigentliche ungarische Donau in ihren mannigfaltigen Schlangenwindungen; nachdem sie schon aus den Kleinen Karpathen und den Steirischen Alpen kräftige, tributpflichtige Verbündete aufgenommen, verdient sie hier erst den Namen eines mächtigen Stromes, während ihr, so lange sie auf österreichischem Gebiete weilt, nur die Bezeichnung »Fluß« zukommt.

Im Gedanken folgte ich dem Weg, den sie bis hierher genommen, aufwärts bis zur fernen Quelle, nahe der französischen Grenze, im Großherzogtum Baden, das ja an Elsaß grenzt und ich war der Meinung – und freute mich darüber – daß ihre ursprüngliche, seine Wasserader wohl dem Regen in Frankreich ihre Entstehung verdanken mag.

Abends legte unser Schiff in Raab an und blieb hier die Nacht hindurch liegen, ebenso am nächsten Tage und in der folgenden Nacht. Zwölf Stunden genügten mir vollkommen, die Stadt, die mehr den Charakter einer Festung aufweist, das »Györ« der Magyaren, kennen zu lernen.

Einige Meilen unterhalb Raab tauchte am folgenden Morgen die berühmte Zitadelle Komorn auf, eine Gründung des Königs Matthias Corvinus, wo sich der letzte Akt des ungarischen Aufstandes abspielte.

Ich kann mir nichts Fesselnderes vorstellen, als sich in diesem Teile des magyarischen Gebietes auf der Donau treiben zu lassen. Ihre willkürlichen, sanften Wendungen, ihre plötzlichen, scharfen Krümmungen lassen die Landschaft immer wieder unter anderen Gesichtspunkten erscheinen, dann tauchen ungeahnte, flache Inseln auf, halb überschwemmt von den Fluten, Tummelplätze für Reiher und Störche. Das ist die Pußta in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit, mit ihren üppigen Wiesen, die am fernen Horizont von welligen Hügeln eingefaßt werden. Hier gedeihen die edelsten ungarischen[18] Reben. Man schätzt den Weinertrag dieses Landes – den Tokajer Distrikt mitgerechnet – auf mehr als eine Million Tonnen; Ungarn ist das erste Weinland nach Frankreich und steht in der Liste der die Kultur der Rebe betreibenden Staaten vor Italien und Spanien. Man behauptet, daß der gewonnene Wein fast ausschließlich im Lande selbst verbleibe. Ich gestehe, daß ich in den Schenken am Ufer einigen Flaschen den Hals brach; welch ein Verlust für die magyarischen Kehlen!

Man kann erfreulicherweise feststellen, daß die Kulturverhältnisse in der Pußta sich von Jahr zu Jahr bessern. Aber es gibt da noch viel Arbeit! Vor allem müßte ein Netz von Bewässerungskanälen geschaffen werden, was eine außerordentliche Fruchtbarkeit außer Zweifel setzen würde; Bäume müßten gepflanzt werden, Tausende von Bäumen, ausgedehnte, dichte Schutzwände gegen die rauhen Winde. Dann wären dem Lande doppelte und dreifache Ernten sicher!

Es ist ein Unglück, daß die Ländereien in Ungarn nicht im richtigen Ausmaß verteilt sind; weite Strecken liegen brach da, denn es gibt Güter in einer Ausdehnung von fünfundzwanzigtausend Quadratmeilen, die der Besitzer niemals ganz kennen gelernt hat; den Kleinbauern fällt kaum ein Viertel des riesigen Ländergebietes zu.

Dieser Stand der Dinge, der dem Lande zum Schaden gereicht, wird aber nach und nach abgeändert werden, schon allein wegen der gewaltsamen Logik, die in der Zukunft liegt. Übrigens zeigt sich der ungarische Bauer dem Fortschritte durchaus nicht abgeneigt. Er hat den guten Willen, Mut und den nötigen Verstand. Vielleicht könnte man eine zu große Selbstzufriedenheit an ihm tadeln, aber der deutsche Bauer krankt auch an diesem Fehler, und in höherem Maße. Zwischen den beiden besteht der Unterschied: der erstere glaubt alles lernen zu können, der letztere glaubt schon alles zu wissen!

Nach Gran, das sich am rechten Donauufer ausbreitet, vermeinte ich einen Wechsel der bisherigen Szenerie zu bemerken. An Stelle der Pußta erheben sich lange und dichte Hügelketten, die äußersten Ausläufer der Karpathen und der Norischen Alpen, welche bis an den Fluß herantreten ihn einengen und auf ein schmales Durchbruchstal beschränken. Gran ist der Sitz eines Erzbischofs, Primas von Ungarn und dürfte wahrscheinlich das am meisten umworbene Bistum der Welt sein, falls die Güter dieser[19] Erde für einen katholischen Prälaten überhaupt eine Anziehungskraft besitzen können. Tatsächlich erfreut sich der Inhaber dieses Bischofssitzes – welcher nebenbei Kardinal, Primas, Legat, Reichsfürst und Kanzler des Königreiches ist – eines Einkommens, das eine Million Pfund übersteigen kann.

Unterhalb Gran tritt die Pußta wieder in ihre Rechte. Man muß zugeben, daß die Natur die größte Künstlerin ist! Sie bedient sich des Gesetzes der Gegensätze, und zwar im Großen, wie sie ja niemals kleinlich ist. Hier wollte sie, daß die Landschaft, die zwischen Preßburg und Gran so abwechslungsreich lebendig gewesen, ein trauriges, sorgenvolles, eintöniges Ansehen zur Schau trage.

Hier hatte die »Dorothea« einen der Stromarme zu wählen, die die Insel St. Andreas einschließen; beide sind jedoch der Schiffahrt gleich günstig. Sie entschied sich für den linken Arm, was mir Gelegenheit gab, die Stadt Waitzen zu sehen, die durch ein halbes Dutzend Kirchtürme gekennzeichnet ist; eine Kirche erhebt sich am Ufer selbst und spiegelt sich, von dichtem Grün umrahmt, im klaren Wasser.

Später kommt ein wenig Bewegung in die Gegend. In der Ebene machen sich zahlreiche Sumpfkulturen bemerkbar und auf dem Strome gleiten viele Fahrzeuge hin. Der Ruhe folgt das frische Leben. Man merkt, daß man sich der Hauptstadt nähert. Und welcher Hauptstadt! Sie ist ein Doppelgestirn und wenn auch ihre beiden Teile nicht Sterne erster Größe sind, so erstrahlt ihr Gesamtbild dennoch mit seltenem Glanz am ungarischen Firmament.

Die »Dorothea« hatte eine letzte bewaldete Insel umschifft und jetzt liegt zunächst Buda vor unseren Blicken da, während Pest erst später auftaucht; in diesen beiden Städten, die unzertrennbar sind, wie die siamesischen Schwestern, wollte ich vom 3. bis 6. Mai bleiben; doch war es wohl kaum eine Ruhestation zu nennen; ich wollte die Stadt ja gründlich kennen lernen, was eher große Ermüdung als Erholung zur Folge haben durfte.

Zwischen Buda und Pest, zwischen der türkischen und der magyarischen Stadt, gleiten fortwährend Flotillen kleiner Boote hin und her, kleine Galeoten, die längs der Ufer Handel treiben; sie sind mit einem Flaggenmast im vorderen Teile und einem mächtigen Steuerruder versehen, das[20] sich durch eine außergewöhnlich lange Stange auszeichnet. Beide Ufer sind zu prächtigen Kais umgestaltet, deren lange Häuserreihen sich durch architektonische Schönheit auszeichnen und von zahlreichen Kirchturmspitzen überragt werden.

Buda, die Türkenstadt, liegt am rechten, Pest am linken Ufer und die Donau mit ihren vielen lieblichen Inseln, die im reichsten Grün prangen, bildet gleichsam die Sehne des Bogens, den die ungarische Stadt beschreibt. Nach dieser Seite breitet sich die Ebene aus, so daß die Stadt zu ihrer Entwicklung genügend Spielraum hatte, während sich hinter Buda eine Reihe von Hügeln aufbauen, welche von der Zitadelle gekrönt werden.

Aber die ehemalige Türkenstadt verwandelt sich langsam in eine ungarische, genauer gesagt, österreichische Stadt. Sie ist mehr militärisch veranlagt als handeltreibend und es fehlt ihr die Regsamkeit des geschäftlichen Lebens. Man erstaune nicht, wenn in den Straßen längs der Fußsteige Gras wächst. Die Bewohner sind größtenteils Soldaten. Man möchte behaupten, daß sie sich in einer im Belagerungszustand versetzten Stadt bewegen. Hie und da entrollt der Wind die stellenweise angebrachten seidenen Fahnen in den Nationalfarben und läßt sie aufflattern. Buda macht fast den Eindruck einer toten Stadt, während in dem gegenüberliegenden Pest das warme Leben pulsiert. Fast könnte man sagen, die Donau bilde hier die Scheidewand zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Buda kann sich aber außer dem Arsenal und mancher Kaserne mehrerer Paläste rühmen, die wohl des Ansehens wert sind. Ich habe mit einer gewissen Rührung seine alten Kirchen betrachtet, besonders die Kathedrale, die unter der Herrschaft der Osmanen in eine Moschee verwandelt wurde. Ich bin eine breite Straße entlang gewandert, deren Häuser nach orientalischem Muster erbaut und von Gittern umgeben waren. Ich bin in den Sälen des Rathauses gestanden, das von schwarz-gelb gestreiften Schranken eingeschlossen wird und ich habe ehrerbietig das Grab Gull-Babas betrachtet, zu dem die türkischen Pilger Wallfahrten unternehmen.

Es ging mir aber nicht anders wie den meisten fremden Besuchern: Pest nahm den Löwenanteil meiner Zeit in Anspruch, obwohl ich dies keinesfalls als verlorene Zeit bezeichnen kann; zwei Tage sind wahrhaftig kaum genügend, der herrlichen ungarischen Hauptstadt die gebührende Ehre zu erweisen.[21]

Es ist jedem anzuraten, zuerst den im Süden Budas, am äußersten Ende des Vorortes Tarlan gelegenen Hügel zu erklimmen, um die Totalansicht der Schwesterstädte zu genießen. Man erblickt von hier die sich der Ufer entlang ziehenden Straßen von Pest, die schönen Plätze, die von öffentlichen und privaten Prachtbauten umgeben sind, welche dem besten architektonischen Geschmacke ihr Entstehen verdanken. So mancher Dom, mit reichen, goldenen Zieraten geschmückt, strebt mit seinen schlanken Türmen dem Himmel entgegen. Der Anblick der Stadt Pest ist überwältigend und nicht ohne Grund findet ihn so mancher großartiger als das Panorama, das Wien den Blicken darbietet.

Die umgebende Landschaft ist mit zahlreichen Villen geschmückt; hier nimmt das ausgedehnte Rakos-Feld seinen Anfang, auf dem in vergangenen Zeiten der ungarische Adel seine stürmischen Versammlungen abhielt.

Man darf auch nicht unterlassen, das Museum zu besuchen, die Gemälde und Skulpturen, die naturhistorischen Schätze, die prähistorischen Altertümer, die Inschriften, Münzen, die ethnographischen Sammlungen von großem Werte, die es enthält. Ferner muß man die Margarethen-Insel mit ihren Hainen und Wiesen, den Bädern, die von einer warmen Quelle gespeist werden, bewundern; der Volksgarten und das Stadtwäldchen sind gleichfalls sehenswert; letzteres zeichnet sich durch schattige Baumgruppen, Zelte und Spielplätze und einen kleinen Flußlauf aus, der von leichten Kähnen befahren werden kann; lebensfrohe Menschen tummeln sich in diesem Erholungsorte, zu Fuß und zu Pferde, und hier kann man den interessantesten Männer- und Frauentypen begegnen.

Am Vorabende meiner Abreise trat ich in einen der ersten Gasthöfe ein, um mich für einige Augenblicke auszuruhen. Das Lieblingsgetränk der Magyaren – weißer Wein, der mit einem eisenhaltigen Wasser vermengt wird – hatte mich angenehm erfrischt und ich war eben im Begriffe, meine Forschungsreise durch die Stadt wieder aufzunehmen, als mein Blick auf eine aufgeschlagen daliegende Zeitung fiel. Ich nahm sie gedankenlos zur Hand und plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von einer durch dicke, gotische Lettern in die Augen fallenden Überschrift gefesselt. »Otto Storitz' Gedächtnisfeier« – las ich zu meinem Erstaunen.

Das war doch der Name, welchen der Polizeileutnant erwähnt hatte, der Name des berühmten deutschen Alchimisten sowohl wie des abgewiesenen[22] Freiers des Fräulein Myra Roderich. Jeder Zweifel war ausgeschlossen.

Ich las folgendes:

»In ungefähr zwanzig Tagen, am 25. Mai, wird in Spremberg Otto Storitz' Todestag feierlich begangen Man kann mit Bestimmtheit voraussagen, daß die Bevölkerung an diesem Tage auf dem Kirchhofe der Vaterstadt des berühmten Gelehrten in großer Zahl erscheinen wird.

Niemand hat vergessen. wie dieser ganz außergewöhnliche Mann zu Deutschlands Ruhm beigetragen hat durch seine staunenerregenden Entdeckungen, durch die ans Wunderbare streifenden Erfindungen auf dem Gebiete der physikalischen Wissenschaften, die ihm die Möglichkeit des Fortschrittes, der rascheren Entwicklung verdanken.«

Der Verfasser des Artikels übertrieb nicht. Otto Storitz erfreute sich in Gelehrtenkreisen mit vollstem Recht seines Rufes als Mann von hochbedeutendem Wissen. Was mir aber zu denken gab, war folgender Passus:

»Es ist eine bekannte Tatsache, daß Otto Storitz bei seinen Lebzeiten von gewissen, mit einem Hang zum Übernatürlichen begabten Geistern für eine Art Zauberer gehalten worden ist. Hätte er ein oder zwei Jahrhunderte früher das Licht der Welt erblickt, so wäre der Fall nicht ausgeschlossen gewesen, daß er verhaftet, verurteilt und öffentlich verbrannt worden wäre. Wir bemerken ferner, daß jetzt noch, nach seinem Tode, viele zum Aberglauben neigende Leute ihn mehr denn je für einen Hexenmeister und Beschwörungskünstler halten und ihm übernatürliche Kräfte zuschreiben. Zu ihrer Beruhigung dient nur der Umstand, daß er seine gefährlichen Geheimnisse mit ins Grab genommen hat. Der Versuch, dieser Sorte von Leuten die Augen öffnen zu wollen, dürfte vergebliche Mühe sein; für sie wird Otto Storitz immer ein Kabbalist, ein Magier, wenn nicht ein vom Teufel Besessener sein.«

Meinetwegen kann man ihn dafür halten – dachte ich – maßgebend für mich ist nur, daß Dr. Roderich den Sohn abgewiesen hat. Alles Übrige läßt mich kalt.

Und nun die Schlußworte des Zeitungsartikels: »Wie jedes Jahr gelegentlich der Feier seines Todestages, dürfte auch diesmal der zum Grabe Otto Storitz' pilgernde Menschenstrom ein bedeutender sein, abgesehen von den wahren Freunden des dahingeschiedenen Gelehrten, die[23] sein Andenken treu bewahrt haben. Auch können wir unbesorgt annehmen, daß die im höchsten Grade abergläubische Bevölkerung von Spremberg sich auf irgend ein Wunder gefaßt macht und die Gelegenheit nicht versäumen will, dabei Zeuge zu sein. Wie man sich in der Stadt erzählt, soll der Kirchhof der Schauplatz der unwahrscheinlichsten, außergewöhnlichsten Naturerscheinungen sein. Und es würde niemanden übermäßig in Erstaunen setzen, wenn – inmitten allgemeinen Entsetzens – der das Grab verschließende Stein sich plötzlich heben und der phantastische Gelehrte in all seiner Glorie auferstehen würde.

»Viele sind sogar der Meinung, Otto Storitz sei gar nicht gestorben, man hätte am Tage der Beisetzung das Begräbnis nur simuliert.

»Unsere Zeit ist zu kostbar, um sie mit der Widerlegung solch unsinniger Gerüchte zu verschwenden. Aber, wie jedermann weiß, Aberglauben und Logik sind zwei diametral entgegengesetzte Begriffe und es wird wohl noch so manches Jahr dauern, ehe der gesunde Menschenverstand über diese lächerlichen Legenden triumphiert haben wird.«

Dieser Artikel regte mich zu pessimistischen Betrachtungen an. Nicht daß ich an Otto Storitz Tode und wirklichem Begräbnis auch nur einen Moment gezweifelt hätte; nichts war gewisser als das! Auch war es nicht der Mühe wert, sich bei dem Gedanken aufzuhalten, sein Grab werde sich am 25. Mai öffnen und er – ein moderner Lazarus – werde vor den Augen der verblüfften Menge erscheinen. Aber – wenn der Tod des Vaters auch unanfechtbar war und blieb, so war es ebenso unzweifelhaft, daß er einen lebenden, und zwar einen nicht tatenlos lebenden Sohn hatte, welcher von der Familie Roderich abgewiesen, beleidigt worden war. War da nicht die Sorge am Platze, er könne Markus feindlich gesinnt sein, ihm Schwierigkeiten bereiten, seiner Vermählung Hindernisse in den Weg stellen?...

»Unsinn! sagte ich mir, während ich die Zeitung fortwarf, welch unvernünftige Gedanken! Wilhelm Storitz hat um Myras Hand angehalten... gut; man hat sie ihm verweigert... noch besser!... Was weiter? Niemand hat diesen Storitz wiedergesehen und nachdem mir Markus von der ganzen Geschichte nie ein Sterbenswort mitgeteilt hat, sehe ich nicht ein, warum ich dieser Angelegenheit auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken soll.«


Meine Aufmerksamkeit wurde durch die in die Augen fallende Überschrift gefesselt. (S. 22.)
Meine Aufmerksamkeit wurde durch die in die Augen fallende Überschrift gefesselt. (S. 22.)

Ich ließ mir Papier, Feder und Tinte bringen und schrieb meinem Bruder, daß ich Pest am nächsten Morgen zu verlassen gedächte und meineAnkunft in Ragz – ich war höchstens fünfundsiebzig Meilen davon entfernt – am Nachmittage des 11. Mai zu erwarten sei. Ich berichtete ihm, daß bisher meine Reise durch keine unliebsamen Zwischenfälle verzögert worden war und gab der Hoffnung Ausdruck, daß sie sich in gleich günstiger Weise vollenden werde. Auch unterließ ich nicht, ihm Empfehlungen an Herrn und Frau Roderich aufzutragen und fügte für Fräulein Myra die Versicherung meiner brüderlichen, herzlichen Zuneigung bei.

Am nächsten Tage, um 8 Uhr morgens, wurden die Taue gelöst, welche die »Dorothea« am Landungsplatze festhielten und wir glitten wieder mit der Strömung südwärts.

Selbstverständlich hatte sich seit der Abreise von Wien bei jeder Station, die angelaufen wurde, im Stande der Passagiere manches geändert. Einige hatten das Schiff in Preßburg, Gran, Raab oder Budapest verlassen, andere hatten sich vor der Abfahrt in eben denselben Städten eingeschifft. Wir waren im ganzen höchstens fünf oder sechs, welche seit dem Verlassen der österreichischen Hauptstadt der »Dorothea« treu geblieben waren, unter ihnen Engländer, welche die Reise bis zum Schwarzen Meere mitmachten.

In Pest wie in den früheren Stationen hatte also die »Dorothea« Zuwachs an Passagieren bekommen. Einer derselben fesselte meine Aufmerksamkeit in höherem Grade als die andern, weil er mir durch sein seltsames Gebaren auffiel.

Er war ein großer, ungefähr fünfunddreißigjähriger Mann und hatte rötlich schimmernde, blonde Haare; sein Gesichtsausdruck war hart, der Blick gebieterisch, im großen und ganzen war er höchst unsympathisch. Sein ganzes Auftreten verriet den hochmütigen, auf alles geringschätzig herabblickenden Menschen. Er wandte sich öfters mit Erkundigungen an das Schiffspersonal, so daß ich seine kalte, unangenehme Stimme hören konnte und den kurzen, verächtlichen Ton, in dem seine Fragen gestellt waren.

Dieser Reisende schien sich mit niemanden anfreunden zu wollen. Das focht mich weiter nicht an, denn ich selbst hatte mich bisher meinen Reisegefährten gegenüber äußerst reserviert verhalten. Der Eigentümer der »Dorothea« war der einzige, an welchen ich einige, die Reise betreffende, notwendige Fragen gestellt hatte.

Bei genauerer Betrachtung dieser neu aufgetauchten Persönlichkeit kam ich zu dem Schlusse, daß er ein Deutscher sein müsse und wahrscheinlich[27] aus Preußen stamme. Das fühlte man heraus, wie man sagt, und alles an ihm trug den Stempel der teutonischen Rasse. Es war ganz unmöglich, ihn mit den braven Ungarn, den so sympathischen Magyaren, wahren Freunden Frankreichs, zu verwechseln.

Seitdem unser Schiff Budapest verlassen hatte, ging es nicht viel schneller vorwärts, als uns die Strömung tragen wollte. Die kaum bemerkbare Brise erwies sich als zu schwach, um der »Dorothea« eine eigene Geschwindigkeit zu verleihen. Daher konnte ich nach Muße die an meinen Blicken vorüberziehende Landschaft in allen Einzelheiten betrachten. Nach dem Verlassen der Doppelstadt näherte sich die »Dorothea« der Csepel-Insel, die den Strom teilt, und steuerte auf den linken Arm zu.

Vielleicht sind meine Leser einigermaßen erstaunt – angenommen, daß dieses Buch Leser findet – über den so ruhigen, fast möchte ich sagen, banalen Verlauf einer Reise, die ich anfangs als »seltsam, außergewöhnlich« gerühmt habe. Ich bitte nur um ein wenig Geduld. Binnen kurzem wird man des Außergewöhnlichen, Seltsamen übergenug haben.

Ich erwähnte soeben, daß wir uns der Csepel-Insel näherten; während die »Dorothea« dieselbe umschiffte, ereignete sich der erste Zwischenfall, der meiner Erinnerung eingeprägt blieb. Ein ganz harmloser Zwischenfall übrigens. Kaum habe ich das Recht, ein so wenig bedeutungsvolles Ereignis »Zwischenfall« zu nennen, das sich zu allem übrigen noch als ein Truggebilde meiner Phantasie erwies, wie ich unmittelbar nachher zu beweisen imstande war. – Was immer es gewesen sei – es trug sich folgendermaßen zu.

Ich stand zu dieser Zeit im rückwärtigen Teile des Schiffes neben meinem kleinen Koffer, auf dessen Deckel ein Papier befestigt war, aus dem jedermann meinen vollen Namen, Charakter und Adresse ersehen konnte. Ich lehnte an der Schiffsverkleidung und ließ meine Blicke in seligem Nichtstun über die Pußta schweifen, die sich südlich von Pest ausbreitet und ich gestehe, ich dachte an gar nichts.

Plötzlich bemächtigte sich meiner das dunkle Gefühl, jemand stünde hinter mir.

Wir kennen aus Erfahrung das dumpfe Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir ohne unser Wissen von jemanden beobachtet werden, von dessen Gegenwart wir keine Ahnung haben. Es ist dies ein schlecht oder[28] gar nicht erklärtes Phänomen und vorderhand noch voller Rätsel. Und in diesem Augenblicke empfand ich ein derartiges Unbehagen.

Ich wandte mich rasch um – in meiner unmittelbaren Nähe befand sich niemand.

Die Empfindung war eine so lebhafte, überzeugende gewesen, daß ich einige Minuten ganz verblüfft dastand, als ich konstatierte, daß ich ganz allein sei. Aber schließlich mußte ich den augenscheinlichen Beweis gelten lassen, daß mich mehr als zehn Klafter von meinen mir am nächsten stehenden Reisegenossen trennten.

Ich lachte mich selbst ob meiner ungeschickten Nervosität aus, nahm meine frühere Stellung wieder ein und hätte gewiß diesen nebensächlichen Zwischenfall bald vergessen, wenn nicht spätere Vorkommnisse, deren Eintreffen ich nicht ahnen konnte, dafür Sorge getragen hätten, daß er auf immer meinem Gedächtnis einverleibt blieb.

Jedenfalls dachte ich für den Augenblick nicht mehr daran; meine Aufmerksamkeit wurde wieder von der Pußta gefesselt, die mit ihren merkwürdigen Luftspiegelungen, ihren weiten Ebenen, ihren grünenden Weiden, ihren Kulturen – die in der Nähe von Städten reichlicher zutage traten – still und friedlich vor mir lag. Der Strom war immer noch von Reihen niederer, mit Weiden bewachsener Inselchen geziert, deren Häupter wie große, grau-grüne Büschel aus dem Wasser ragten.

Am 7. Mai legten wir, immer den vielfachen Windungen des Flusses folgend, bei bewölktem Himmel, der uns mit mehr feuchten, als trockenen Stunden bedachte, fast zwanzig Meilen zurück. Als der Abend anbrach, blieb man für die Nacht zwischen Duna-Pentele und Duna-Földvar stehen. Der folgende Tag brachte keine Abwechslung; diesmal machte man ungefähr zehn Meilen unterhalb Batta halt.

Am 9. Mai hatte sich der Himmel aufgehellt, man trat die Tagesfahrt mit der Gewißheit an, kurz nach Sonnenuntergang in Mohács einzutreffen.

Als ich gegen 9 Uhr in das Deckhaus treten wollte, fügte es der Zufall, daß der deutsche Passagier gerade herauskam. Fast wären wir zusammengestoßen und bei der Gelegenheit erstaunte ich über den eigentümlichen Blick, den er mir zuwarf. Es war das erstemal, daß wir uns in der Nähe sahen und trotzdem wollte mir scheinen, daß in diesem seltsamen[29] Blick nicht Frechheit allein, sondern – aber ich mußte mich irren – auch Haß zu lesen war.

Was wollte dieser Mensch von mir? Haßte er mich bloß aus dem Grunde, weil ich Franzose war? Der Gedanke lag nahe, daß er meinen Namen auf dem Deckel des Koffers oder auf der Platte meiner Reisetasche, die auf einer Bank des Deckhauses stand, gelesen hatte.

Mochte er immerhin meinen Namen wissen! Ich verspürte keine Neugierde, den seinigen kennen zu lernen; seine Persönlichkeit war mir zu wenig interessant.

Die »Dorothea« legte in Mohács an, aber es war schon zu dunkel, als daß ich von dieser bedeutenden Stadt etwas anderes als zwei Kirchturmspitzen erblicken konnte, die sich aus einer von den Schatten der Nacht bereits verschlungenen schwarzen Masse abhoben. Trotzdem ging ich ans Land, kehrte aber nach einem einstündigen Rundgang wieder an Bord zu rück.

Neue Passagiere schifften sich ein und am 10. Mai wurde mit Tagesgrauen weitergefahren.

Während dieses Tages begegnete mir das fragliche Individuum mehrmals auf Deck und blickte mich dabei auf eine Art und Weise an, die mir ganz ernstlich zu mißfallen begann. Es ist durchaus nicht meine Gewohnheit, mit fremden Leuten einen Streit vom Zaune zu brechen, aber ich liebe es nicht, daß man mich mit dieser hartnäckigen Ungezogenheit anstarrt. Wenn er etwas zu sagen hatte, warum sagte mir es dieser freche Mensch denn nicht? In einem solchen Falle spricht man aber nicht mit Blicken, und wenn er der französischen Sprache unkundig war, hätte ich ihm recht gut auf deutsch Antwort geben können.

Aber wenn ich schon den Deutschen zur Rechenschaft ziehen wollte, war es besser, vorher einige Erkundigungen über seine Person einzuziehen.

Ich näherte mich dem Schiffsherrn und fragte ihn, ob er diesen Passagier zufällig näher kenne.

»Ich sehe ihn zum erstenmal, antwortete er mir.

– Er ist wohl ein Deutscher? fuhr ich fort.

– Zweifelsohne, Herr Vidal; ich glaube sogar, er ist es doppelt: denn er muß ein Preuße sein.

– O weh! Und es ist schon an dem einen zu viel«, rief ich. Die Antwort war – wie ich gern eingestehe – wenig eines gebildeten Menschen[30] würdig; aber dem Schiffseigentümer, welcher ungarischer Abstammung war, schien sie sehr zu gefallen.

Am Nachmittage erreichten wir Zombor, das jedoch vom linken Flußufer aus ziemlich weit landeinwärts liegt, so daß es unmöglich zu erblicken war. Es ist dies eine sehr bedeutende Stadt und liegt, gleich Szegedin, auf jener riesigen Halbinsel, die durch die beiden Flußläufe der Donau und Theiß, eines ihrer wasserreichsten Nebenflüsse, gebildet wird.

Am folgenden Morgen war das Ziel der »Dorothea«, die immer parallel zu den Schlangenwindungen des Ufers lief, die an der rechten Seite liegende Stadt Vukovár.

Wir fuhren jetzt der Grenze Slawoniens entlang, wo der Strom seine nord-südliche Richtung ändert, um sich nach Osten zu wenden. Hier liegt auch das Territorium der Grenzer-Regimenter. In absehbaren Zwischenräumen erblickte man, hinter der Böschung halb verborgen, zahlreiche Wachposten, welche immer durch hin und her eilende Schildwachen, die sich sonst in Holzhütten oder hinter aus Zweigen errichteten Schutzwänden aufhielten, mit einander im Zusammenhang standen.

Dieses Gebiet ist militärisch verwaltet. Alle Bewohner, unter dem Namen »Grenzer« bekannt, sind Soldaten. Die Provinzen, die Kreise, die Pfarrdistrikte, alles verschwindet, um den Regimentern, den Kompagnien dieser ganz eigenartigen Armee Platz zu machen. Unter der Benennung »Militärgrenze« versteht man alles Land von der Küste des Adriatischen Meeres bis zu den Transsylvanischen Alpen; es bedeckt einen Flächenraum von sechshundertundzehn Quadratmeilen; die Bevölkerung zählt mehr als elfhunderttausend Seelen und ist einer strengen Disziplin unterworfen. Diese Einrichtung wurde nicht erst unter der jetzigen Regentin Maria Theresia ins Leben gerufen, sondern entstammt einer früheren Zeit und sie erfüllt ihren Zweck, nicht bloß als Schutzwall gegen die Türken, sondern auch als Sanitätskordon gegen die Pest Und eines ist so schlimm wie das andere.

Als wir Vukovár verlassen hatten, erblickte ich den Preußen nicht mehr an Bord. Wahrscheinlich war diese Stadt seine Bestimmungsstation gewesen. Um so besser! Ich war auf diese Weise von seiner unliebsamen Gegenwart befreit und ersparte mir jede Auseinandersetzung mit ihm.

Außerdem nahmen jetzt ganz andere Gedanken mein ganzes Sein in Anspruch. In wenigen Stunden mußte das Schiff Ragz erreicht haben.[31]

Welche Freude, den Bruder wiederzusehen, von welchem ich seit mehr als einem Jahre getrennt war, ihn in meine Arme schließen zu können, seine neue Familie kennen zu lernen! Und wieviel des Interessanten hatten wir uns zu erzählen!

Gegen fünf Uhr nachmittags tauchten am linken Ufer, hinter den Weiden der Uferböschung und den im Hintergrunde emporragenden Pappelbäumen mehrere Kirchen auf; einige waren mit Kuppeln geschmückt, andere von hohen Türmen überragt, die sich scharf vom Himmel abhoben, auf dem eilende Wolken hinsegelten.

Das waren die Vorläufer einer großen Stadt, das war Ragz! Bei der nächsten Krümmung des Stromes konnte man sie ganz überblicken; sie lag malerisch am Fuße hoher Hügel ausgebreitet, deren einer von einem ehrwürdigen, mittelalterlichen Schlosse, der traditionellen Akropolis der alten ungarischen Städte, gekrönt wurde.

Ein frischer Wind hatte sich in die Segel gelegt und trieb die »Dorothea« rasch dem Ziele entgegen. Sie legte an. In demselben Augenblicke ereignete sich der zweite Zwischenfall meiner Reise. Verdient er überhaupt erwähnt zu werden?... Man urteile selbst!

Ich stand an der Schanzverkleidung der Backbordseite und suchte mit meinen Augen den Kai ab, während sich die meisten Reisenden dem Ausgang zudrängten. Um das andere Ende der Landungsbrücke waren mehrere Gruppen von Personen versammelt, unter denen sich wahrscheinlich auch Markus aufhielt.

Während ich ihn aus der Menge herauszufinden trachtete, hörte ich dicht neben mir die laut und deutlich in deutscher Sprache hervorgestoßenen, unerwarteten Worte:

»Wenn Markus Vidal Myra Roderich heiratet, dann wehe ihr und wehe ihm!«


Ich wandte mich rasch um... (S. 29.)
Ich wandte mich rasch um... (S. 29.)

Ich fuhr herum.... Niemand!... Ich stand ganz allein! Aber es hatte doch soeben jemand neben mir gesprochen! Man hatte mir ganz gewiß jene Worte zugerufen und ich gehe noch weiter und behaupte, daß die Stimme mir nicht unbekannt war!

Aber trotzdem war niemand in meiner Nähe zu sehen; ich wiederhole – niemand!... Es mußte ein Irrtum meinerseits gewesen sein, als ich die drohenden Worte zu hören glaubte!... Eine Art Halluzination, nichtsweiter.... Meine Nerven schienen sich in einem gefährlichen Zustand zu befinden, nachdem sie mir in einem Intervall von zwei Tagen den gleichen schlechten Streich spielten!... Vorsichtshalber suchte ich meine Umgebung nochmals ab.... Nein! Es war tatsächlich niemand da.... Was sollte ich anderes tun als die Achseln zucken und auch meinerseits ruhig und vernünftig das Land gewinnen!

Und das führte ich denn auch aus, indem ich mir mühevoll einen Weg durch die lärmende Menge bahnte, die sich auf der Landungsbrücke zusammendrängte.

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 14-25,27-33,35.
Lizenz:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon