Drittes Kapitel.
Herr und Frau Patterson.

[31] Horatio Patterson nahm die Stelle des Verwalters der Antilian School erst ein, seit er den Lehrerberuf aufgegeben und sich einer Art Beamtenlaufbahn zugewendet hatte. Er war ein vortrefflicher Lateiner, obwohl in England die Sprache Ciceros und Virgils sonst nicht die Beachtung erfährt, die ihr in Frankreich zu teil wird, wo sie in Universitätskreisen einen hohen Rang einnimmt. Bei der französischen Rasse kommt freilich in Betracht, daß sie lateinischen Ursprungs ist, was für die Söhne Albions ja nicht zutrifft, und deshalb kann sich in diesem Lande die Sprache Roms kaum gegenüber dem Ansturm der neueren Sprachen behaupten.

Doch wenn Herr Patterson sie auch nicht mehr lehrte, so blieb er im Grunde seines Herzens doch den Meistern des von ihm verehrten römischen Altertums unverbrüchlich treu. Während er jedoch viele Aussprüche von Virgil. Ovid und Horaz für sich wiederholte, widmete er der Verwaltung der Antilian School seine Veranlagung zu einem zuverlässigen, methodischen Rechner. Mit der peinlichen – fast kleinlichen – Ordnungsliebe, die ihn auszeichnete,[31] machte er den Eindruck eines Muster-Verwalters, dem alle Geheimnisse des »Soll und Habens« geläufig sind und der die geringsten Einzelheiten der Buchführung kennt. War er in früherer Zeit in den Prüfungen in alten Sprachen prämiiert worden, so hätte er das jetzt bei einem Wettbewerb in der Buchführung oder in der Aufstellung eines Schulbudgets gewiß nicht weniger verdient.

Höchst wahrscheinlich fiel Herrn Horatio Patterson auch die Direktion der Anstalt zu, sobald Herr Ardagh sich, nach Erwerbung eines genügenden Vermögens, davon zurückzog, denn die Antilian School war jetzt im besten Gedeihen und sie verblieb es jedenfalls auch unter den Händen, die so würdig waren, die wertvolle Erbschaft anzutreten.

Horatio Patterson hatte jetzt seit einigen Monaten das vierzigste Lebensjahr überschritten. Mehr ein Mann der Studien als des Sports, erfreute er sich doch einer vortrefflichen Gesundheit, die er niemals durch irgendwelche Exzesse erschüttert hatte: er hatte einen guten Magen, ein regelmäßig arbeitendes Herz und Atmungsorgane ersten Ranges. Eine rücksichtsvolle, eher etwas verschlossene Natur, kam er nie aus dem seelischen Gleichgewicht, hatte es stets verstanden, sich weder durch Taten noch durch Worte zu kompromittieren, und war bei seiner gleichzeitig theoretischen und praktischen Lebensweisheit gar nicht im stande, jemand zu nahe zu treten. Das machte ihn auch höchst duldsam gegen andere... kurz, um eine ihm jedenfalls zusagende Bezeichnung anzuwenden: er war sui compos im höchsten Grade.

Etwas über mittelgroß, doch schmächtig und mit ein wenig abfallenden Schultern, war Horatio Patterson in seinem Auftreten ziemlich linkisch und in seiner Haltung wenig elegant. Jedes mit besonderem Nachdrucke ausgesprochene Wort begleitete er gerne mit einer ausdrucksvollen Handbewegung. Obwohl ernst von Gesichtszügen, konnte er doch gelegentlich auch lächeln. Er hatte wasserblaue Augen, denen man die Kurzsichtigkeit anmerkte, weshalb er eine recht starke Brille trug, die ihm meist auf der Spitze der weit vorstehenden Nase saß. Auch mit den langen Beinen hatte er häufig seine liebe Not, hielt beim Gehen die Fersen zu nahe beieinander und setzte sich so ungeschickt nieder, daß man fürchten mußte, er werde von dem Sitze abgleiten, und ob er im Bette ein bequeme oder eine unbequeme Lage einnehme, das konnte der brave Mann nur allein wissen.

Nun gab es auch eine jetzt siebenunddreißigjährige Mrs. Patterson, eine recht verständige Frau ohne jede Koketterie oder Hoffart. An ihrem Gatten fand[32] sie nichts Lächerliches, und dieser wußte dagegen ihre Dienste zu schätzen, wenn sie ihn bei seinen Buchhaltungsarbeiten unterstützte. Wenn der Verwalter der Antilian School aber auch ein Zahlenmensch war, so darf man nicht glauben, daß er, trotz geringer Wertschätzung seiner Toilette. in seinem Äußern vernachlässigt wurde. Das wäre ein Irrtum. Es gab wohl kaum einen besser geknüpften Krawattenknoten als den seinigen, keine glänzendere Fußbekleidung als seine Lackleder-Halbstiefel, abgesehen von seiner Person nichts gleichmäßig steiferes als seinen Brustlatz, nichts tadelloseres als seine schwarzen Beinkleider, nichts besser[33] geschlossenes als seine – der eines Geistlichen ähnliche – Weste und nichts sorgfältiger zugeknöpftes als seinen weiten Rock, der ihm bis über die Knie reichte.

Mr. und Mrs. Patterson hatten in den Gebäuden der Anstalt eine sehr hübsche Wohnung inne. Deren Fenster lagen einerseits nach dem großen Hofe und anderseits nach einem Garten mit großen Bäumen, unter denen sich ein wohlgepflegter, angenehm frischer Rasen ausbreitete. Die Wohnung bestand aus einem halben Dutzend Räumen im ersten Stockwerke.

Hierher begab sich Horatio Patterson nach seinem Besuche beim Direktor; er beeilte sich dabei aber nicht, um seine Entschlüsse erst reisen zu lassen, obwohl sie schließlich nur die wenigen Minuten alt waren, um die er seine Abwesenheit verlängert hatte. Bei einem Manne, der gewöhnt war, klar zu sehen, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, bei einer Frage jedes Für und Wider abzuwägen, wie er das Soll und das Haben in seinem Hauptbuche auszugleichen pflegte, bei einem solchen mußte es gewöhnlich schnell zu einer endgültigen Entschließung kommen. Diesmal freilich hieß es, sich nicht leichten Sinnes in ein Abenteuer stürzen.


 »In erster Linie gedenke ich mein Testament zu machen.« (S. 38.)
»In erster Linie gedenke ich mein Testament zu machen.« (S. 38.)

Bevor er eintrat, machte Horatio Patterson seine hundert Schritte über den zu dieser Zeit leeren Hof... immer gerade wie ein Blitzableiter, steif wie ein Pfahl, blieb einmal stehen und ging dann wieder weiter, legte jetzt die Arme auf den Rücken und kreuzte sie nachher vor der Brust, während seine Blicke weit hinaus- und über die Mauern der Antilian School hinwegschweiften.

Bevor er jedoch mit Mrs. Patterson über die Sache sprach, die ihm im Kopfe herumging, konnte er nicht dem Drange widerstehen, erst noch sein Bureau aufzusuchen und die Rechnung über den vorigen Tag abzuschließen. Erst wenn er diese sorgsam geprüft hatte und sein Kopf vollkommen frei war, konnte er über die Vorteile und die Nachteile des Vorschlages, den ihm sein Direktor gemacht hatte, ohne jede Ablenkung sprechen.

Übrigens erforderte seine Arbeit nur kurze Zeit, und sein Bureau im Erdgeschoß verlassend, stieg er nach dem ersten Stockwerke zu derselben Minute hinauf, wo die Pensionäre die verschiedenen Klassen verließen.

Sofort bildeten sich da und dort einzelne Gruppen, unter andern eine der neun Preisträger. Man hätte da wirklich glauben können, diese schwömmen schon an Bord des »Alert« einige hundert Meilen weit von der irischen Küste. Daß die jungen Leute dabei mit mehr oder weniger Zungenfertigkeit schwätzten, kann man sich wohl leicht genug vorstellen.[34]

Wenn es auch entschieden war, daß die Reise nach den Antillen gehen sollte, so harrte doch eine andere, sie berührende Frage noch immer der Lösung. Würden sie von der Abfahrt bis zur Heimkehr einen Begleiter haben? Sie vermmieten allerdings selbst, daß man sie in die weite Welt nicht so allein hinausziehen lassen werde. Doch wußten sie nicht, ob Mrs. Kathlen Seymour schon selbst jemand als Führer bestimmt oder es Herrn Ardagh überlassen hätte, einen solchen auszuwählen. Daß der Direktor zu dieser Zeit von der Anstalt fernbleiben könnte, ließ sich kaum annehmen. Wem würde also der Auftrag zu teil werden, und hatte Herr Ardagh seine Wahl schon getroffen oder nicht?

Vielleicht mutmaßten einige, daß Herr Patterson der Auserwählte sein werde. Doch würde der ruhige und häusliche Verwalter, der die engere Heimat niemals verlassen hatte, sich auch bewegen lassen, alle seine Gewohnheiten zu ändern und sich eine Reihe von Wochen von Mrs. Patterson zu trennen? Würde er den mit so mancher Verantwortlichkeit verbundenen Auftrag annehmen? Das war kaum zu erwarten.

War Horatio Patterson schon nicht wenig erstaunt, als der Direktor ihm den erwähnten Vorschlag machte, so liegt es auf der Hand, daß Frau Patterson nicht weniger verwundert sein mußte, als sie von ihrem Gatten die betreffende Mitteilung erhielt. Es wäre unter anderen Umständen gewiß niemand in den Sinn gekommen, daß zwei so eng – man möchte fast sagen, durch chemische Verwandtschaft – verbundene Elemente getrennt, gewaltsam voneinander gerissen werden könnten, wäre es auch nur für wenige Wochen. Daß aber Frau Patterson die Reise etwa mitmachte, davon konnte ja keine Rede sein.

Solche Gedanken beschäftigten den guten Patterson, als er sich seiner Wohnung näherte. Es sei hier aber bemerkt. daß seine Entscheidung gefallen. sein Entschluß gefaßt war, als er durch die Tür des Zimmers trat, worin Frau Patterson ihn erwartete.

Diese wußte ja nicht, daß ihr Ehegemahl zum Direktor gerufen worden war, und so begrüßte sie ihn bei seinem Erscheinen mit den Worten:

»Oho, Herr Patterson, was hat denn das zu bedeuten?

– Etwas neues, liebe Frau, etwas ganz neues...

– Aha, es ist also wohl ausgemacht worden, daß Herr Ardagh die jungen Pensionäre nach den Antillen begleiten wird?

– Keineswegs, er kann zu dieser Zeit des Jahres unmöglich der Anstalt fernbleiben.[35]

– So hat er also einen andern gewählt?

– Ja.

– Und wer ist das?

– Ich.

– Du... Horatio?...

– Ja, ja... ich, ich bin es!«

Frau Patterson überwand ohne besondere Mühe das Erstaunen, das ihr diese Überraschung erregt hatte. Als verständige Frau und würdige Gefährtin des Herrn Patterson wußte sie sich zu fügen und erging sich nicht in leeren Einwänden.

Der Verwalter aber war nach dem Austausch jener wenigen Worte an das Fenster getreten und trommelte mit vier Fingern der linken Hand an einer Scheibe.

Seine Ehehälfte gesellte sich sofort zu ihm.

»Du hast die Wahl doch angenommen? fragte sie.

– Ja freilich!

– Meiner Ansicht nach hast Du daran gut getan.

– Das glaube ich auch, liebe Frau. Da mir der Direktor ein so gutes Zeugnis seines Vertrauens zu mir ausstellte, konnte ich die Sache gar nicht abschlagen.

– Nein, Horatio, das war unmöglich; ich bedaure dabei nur eines...

– Nun, was denn?

– Daß es sich nicht um eine Land-, sondern um eine Seereise handelt, daß Du über das Meer fahren mußt...

– Ja, das ist dabei nicht zu umgehen, Juliette. Die Aussicht auf eine zwei- bis dreiwöchige Fahrt erschreckt mich aber nicht. Wir haben ein gutes Schiff zur Verfügung. Zu dieser Jahreszeit, zwischen Juli und September, ist das Meer meist ruhig und die Schiffahrt bequem. Obendrein ist auch eine Prämie für den Leiter des Ausfluges ausgeworfen, für den Mentor, mit welchem Titel ich beehrt worden bin.

– Eine klingende Prämie? fragte Frau Patterson, die für Vorteile dieser Art nicht unempfindlich war.

– Jawohl, bestätigte Patterson, ein Betrag in gleicher Höhe wie der, den die Preisträger erhalten sollen.

– Siebenhundert Pfund Sterling?[36]

– Siebenhundert Pfund.

– Na, das ist ja schon der Mühe wert!«

Horatio Patterson erklärte, derselben Ansicht zu sein.

»Wann soll die Fahrt angetreten werden? fragte Frau Patterson, die nun gar keine Einwendung mehr zu machen hatte.

– Schon am dreißigsten Juni, und binnen fünf Tagen müssen wir in Cork sein, wo der »Alert« uns erwartet. Es ist also keine Zeit zu verlieren und wir werden gleich von heute an die nötigen Vorbereitungen treffen müssen...

– Das las' getrost meine Aufgabe sein, Horatio, antwortete Frau Patterson.

– Du wirst auch dabei nichts vergessen?...

– Beruhige Dich darüber.

– Leichte Kleidung, denn wir reisen nach sehr warmen Ländern, die unter den feurigen Strahlen der Tropensonne braten...

– Deine leichteste Sommerkleidung wird bereit liegen...

– Doch eine von schwarzer Farbe, denn es würde der mir zugewiesenen Stellung ebenso wie meinem Charakter widersprechen, etwa in der phantastischen Tracht eines Touristen aufzutreten.

– Verlass' Dich nur auf mich, Horatio. Ich werde auch nicht das Wergal-Rezept gegen die Seekrankheit vergessen und ebensowenig die Ingredienzien deren Gebrauch es empfiehlt.

– Ach was... die Seekrankheit! rief Patterson etwas verächtlich.

– O, es ist immer klug und weise, dagegen gewappnet zu sein, entgegnete seine Gattin. Aber es bleibt doch wohl dabei: es ist nur eine Reise von zwei bis höchstens dritthalb Monaten in Aussicht genommen?

– Von zweiundeinhalb Monaten oder zehn bis elf Wochen, Juliette. Freilich, auch in diesem Zeitraume kann ja so mancherlei passieren. Hat nicht ein Weiser gesagt, man wisse zwar, wann man abreise, doch niemals, wann man wiederkomme?

– O, wenn man nur überhaupt zurückkommt, antwortete Frau Patterson sehr richtig. Du solltest mir keine Angst machen, Horatio. Sieh, ich finde mich ja ohne drängenden Einspruch in Dein zweiundeinhalbmonatiges Fernsein und wende sogar nichts gegen eine Fahrt übers Meer ein, trotzdem daß mir dessen Gefahren nicht unbekannt sind. Ich glaube jedoch, Du wirst diese mit gewohnter[37] Klugheit zu vermeiden wissen, nur lass' mich nicht das eine fürchten, daß diese Reise sich noch weiter ausdehnen könnte.

– Die Bemerkungen, die ich machen zu müssen glaubte, antwortete Patterson mit einer entschuldigenden Handbewegung, die Grenze zarter Rücksicht überschritten zu haben, diese Bemerkung sollte Dir keine Unruhe und Angst erregen, liebes Kind. Ich wünschte im Gegenteil, Dir alle unnötige Unruhe zu ersparen, im Falle unsere Rückkehr sich etwas verzögern sollte, was ja doch ganz harmlose Gründe haben kann.

– Das mag ja sein, Horatio. Hier ist aber von einer zweiundeinhalbmonatigen Abwesenheit die Rede, und ich hoffe, daß sie nicht noch länger dauern werde.

– Ich ja auch, versicherte Patterson. Worum handelt es sich denn übrigens?... Um einen Ausflug in eine herrliche Erdengegend, um eine Spazierfahrt von Insel zu Insel in dem gesegneten Westindien. Wenn wir da nun wirklich um vierzehn Tage später heimkehrten...

– Nein, nein, Horatio, das darf nicht sein!« antwortete die vortreffliche Frau, die hierbei ihren Kopf mehr aufsetzte als gewöhnlich.

Ganz unerklärlich erscheint es, daß Herr Patterson bei dieser Gelegenheit fast etwas hitzig wurde, was doch sonst gar nicht in seiner Natur lag. Er schien es ordentlich darauf abzusehen, der Frau Patterson noch etwas mehr Angst einzujagen.

Jedenfalls bestand er hartnäckig darauf, die Gefahren, die jede Reise, und vorzüglich eine solche über das Meer böte, mit kräftigen Farben auszumalen. Frau Patterson wollte diese Gefahren, die er eindringlich darstellte und mit lebhaften Gesten noch weiter schilderte, aber trotz alledem nicht glauben.

»Ich verlange ja gar nicht, erklärte er dagegen, daß Du sie für unabwendbar hältst, doch daß Du wenigstens mit ihrer Möglichkeit rechnest und wegen dieser Möglichkeit gewisse notwendige Maßregeln ins Auge faßt.

– Und welche, Horatio?

– In erster Linie, Juliette, gedenke ich mein Testament zu machen.

– Dein Testament?

– Jawohl, in bindender, rechtskräftiger Form...

– Du wirst mich langsam töten! rief Frau Patterson, der diese Reise jetzt allerlei Schreckbilder vorgaukelte.[38]

– Nein, liebe Frau, das gewiß nicht! Ich will nur die kluge Vorsicht nicht aus den Augen setzen. Ich gehöre doch einmal zu den Menschen, die ihre irdischen Angelegenheiten in Ordnung wissen wollen, ehe sie einen Bahnzug besteigen, und erst recht, wenn es sich darum handelt, sich auf das große Wasser hinauszuwagen.«

Das war nun einmal die Art des würdigen Mannes, und wer konnte wissen, ob er jetzt allein an die Festlegung seines letzten Willens dachte Jedenfalls bedrückte dieser Teil des Zwiegesprächs Frau Patterson schon aufs schwerste, zunächst der Gedanke, daß ihr Ehegatte die sonst nie berührte Erbschaftsfrage regeln wollte, dann das Nebelbild der Gefahren einer Reise über den Atlantischen Ozean, die Zusammenstöße, Strandungen, Schiffbrüche, das Ausgesetztwerden auf irgend einer Insel mit schrecklichen Kannibalen...

Da empfand es Horatio Patterson doch, daß er vielleicht etwas zu weit gegangen sei, und er versuchte mit tröstlicherem Zuspruch die Gattin wieder zu beruhigen, diese Hälfte seiner selbst von ihrer Angst zu befreien. Schließlich gelang es ihm auch, sie zu überzeugen, daß selbst ein Übermaß von Vorsicht niemals schädliche oder bedauerliche Folgen haben könne, und wie man damit, daß man sich gegen jede Möglichkeit schütze, den Freuden dieses Lebens doch noch keineswegs auf ewig Lebewohl sage.

»Das aeternum vale, setzte er hinzu, das Ovid dem Orpheus in den Mund legte, als dieser die geliebte Eurydike zum zweiten Male verlor!«

O nein, Frau Patterson sollte ihren Gatten ja nicht verlieren, auch nicht zum ersten Male. Der ordnungssüchtige Mann würde aber trotzdem jeder Möglichkeit vorbeugen wollen und den Gedanken, sein Testament zu machen, gewiß nicht aufgeben. Noch denselben Tag suchte er einen Notar auf, und sein letzter Wille wurde von diesem den gesetzlichen Vorschriften entsprechend und so aufgesetzt, daß er bei seiner etwaigen Eröffnung keine zweifelhafte Auslegung zuließ.

Man kann also überzeugt sein, daß Herr Patterson alle denkbare Vorsicht gebraucht hatte für den Fall, daß der »Alert« im Ozean mit Mann und Maus versinken und man von dessen Mannschaft und Passagieren nie wieder etwas hören sollte.

Das erwartete Patterson zwar selbst nicht, denn er fügte seinen Worten noch hinzu:

»Es wäre vielleicht noch eine andere Maßregel zu treffen...

– Und welche, Horatio?« fragte Frau Patterson.[39]

Ihr Gatte glaubte sich augenblicklich nicht weiter aussprechen zu sollen.

»Ach... nichts... nichts... das wird sich finden,« begnügte er sich zu erwidern.

Und wenn er nichts weiter sagen wollte, so geschah es, um Frau Patterson nicht aufs neue zu ängstigen. Vielleicht wäre es ihm auch nicht gelungen, sie zur Billigung seiner Idee zu bekehren, selbst wenn er diese durch weitere lateinische Citate unterstützte, womit er die würdige Gattin gewohnheitsgemäß nicht verschonte.

Um das Gespräch abzubrechen, schloß er es mit den Worten:

»Und nun wollen wir uns mit meinem Reisekorbe und mit meiner Hutschachtel beschäftigen.«

Die Abfahrt sollte zwar erst in fünf Tagen erfolgen, doch was getan ist, ist ja getan und braucht also nicht später gemacht zu werden.

Kurz, was Patterson ebenso wie die neun Preisträger anging, es war von jetzt an nur noch von den Reisevorbereitungen die Rede.

Wenn die Abfahrt des »Alert« übrigens für den 30. Juni bestimmt war, mußte man von den noch übrigen fünf Tagen volle vierundzwanzig Stunden abziehen, die die Fahrt von London nach Cork beanspruchte.

Die Reisenden sollten sich nämlich mit der Eisenbahn zuerst nach Bristol begeben. Dort bestiegen sie dann den Dampfer, der den täglichen Dienst zwischen England und Irland versieht, fuhren die Savern hinunter, überschritten hierauf den Kanal von Saint-Georges und den von Bristol und landeten in Queenstown, am Eingange der Bai von Cork und an der Südwestseite des Grünen Erin. Einen Tag erforderte die Fahrt zwischen Großbritannien und Irland, und Patterson glaubte, das werde ihn schon hinreichend »seefest« machen.

Von den Familien der jungen Stipendiaten, die wegen des Vorhabens befragt worden waren, trafen bald, auf telegraphischem Wege oder brieflich, die erbetenen Antworten ein. Was Roger Hinsdale anging, geschah das schon am ersten Tage, da dessen Eltern in London wohnten, und diesen teilte der preisgekrönte Sohn die Absichten der Mrs. Kathlen Seymour persönlich mit. Die übrigen Antworten trafen nacheinander von Manchester, Paris, Nantes, Kopenhagen, Rotterdam und Gothenburg ein, und von der Familie des jungen Hubert Perkins kam ein aus Antigoa abgesandtes Telegramm.

Der Vorschlag war allerseits mit Freuden und unter Bezeugung der wärmsten Dankbarkeit für Mrs. Kathlen Seymour auf Barbados angenommen worden.[40]

Während sich Frau Patterson nun mit den Reisevorbereitungen für ihren Gatten beschäftigte, legte dieser die letzte Hand an die Buchführung der Antilian School, und sicherlich ließ er dabei keine Rechnung unerledigt, kein Schriftstück unvollendet liegen. Dann wollte er sich noch Entlastung bezüglich seiner, seit dem 28. Juni 1877 geführten Verwaltung erbitten.

Gleichzeitig vernachlässigte er aber auch seine persönlichen Angelegenheiten nicht im geringsten und ordnete vor allem die, die ihm am meisten am Herzen lag und über die er seiner Gattin noch mehr mitteilen wollte, als er es bei jenem ersten Gespräch getan hatte.


Als dann die neun Stipendiaten den Break besteigen wollten... (S. 44.)
Als dann die neun Stipendiaten den Break besteigen wollten... (S. 44.)

Die beiden Beteiligten bewahrten darüber das strengste Stillschweigen. Sollte nur in Zukunft an den Tag kommen, um was es sich handelte?... Ja; unzweifelhaft wenigstens dann, wenn Patterson aus der Neuen Welt unglücklicherweise nicht zurückkehren sollte.

Gewiß ist nur, daß das Ehepaar wiederholte Besuche bei einem Manne des Gesetzes, einem Sollicitor (etwa: Staatsanwalt) machte und sich auch persönlich gewissen Magistratspersonen vorstellte. Das Personal der Antilian School bemerkte auch, daß Patterson eines Tages bei der Heimkehr ein noch ernsthafteres Gesicht zeigte und noch zugeknöpfter erschien als gewöhnlich, und auch daß Frau Patterson so gerötete Augen hatte, als ob sie eben einen ganzen Strom von Tränen vergossen hätte.

Man schrieb das aber nur dem Schmerze über die bevorstehende Trennung zu und fand den Ausdruck von Trauer unter den vorliegenden Umständen ganz am Platze.

Der 28. Juni kam heran. Am Abend sollte die Abfahrt stattfinden und um neun Uhr der Mentor mit seinen jungen Begleitern den Zug nach Bristol besteigen.

Am Morgen hatte Herr Julian Ardagh noch eine letzte Zusammenkunft mit Herrn Patterson. Während er ihm einerseits empfahl, die Buchführung auf der Reise streng in Ordnung zu halten – übrigens eine recht unnötige Ermahnung – setzte er ihm anderseits die Wichtigkeit der ihm anvertrauten Stellung auseinander und wie viel es auf ihn ankäme, ein gutes Einvernehmen zwischen den Zöglingen der Antilian School zu erhalten.

Um halb neun Uhr nahmen alle im großen Hofe der Anstalt Abschied. Roger Hinsdale. John Howard, Hubert Perkins, Louis Clodion, Tony Renault, Niels Harboe, Axel Wickborn, Albertus Leuwen und Magnus Anders drückten[43] dem Direktor, den Lehrern und ihren Kameraden noch einmal die Hand, von denen die letztgenannten sie nicht ohne einen ziemlich natürlichen Neid von dannen ziehen sahen.

Horatio Patterson hatte sich von seiner Juliette verabschiedet, deren Photographie er mitnahm, und hatte dabei tiefbewegte Worte gesprochen mit dem Bewußtsein eines praktischen Mannes, der sich gegen alle Zufälle gesichert hat.

Als dann die neun Stipendiaten den Break besteigen wollten, der alle nach dem Bahnhofe bringen sollte, wendete er sich an die jungen Leute und sagte, jede Silbe dieses Verses des Horaz voll betonend:


Cras ingens iterabimus aequor.


Nun sind sie fort. In einigen Stunden wird sie der Schnellzug nach Bristol befördert haben. Morgen kommen sie über den Kanal von Saint-Georges, den Patterson als ingens aequor bezeichnet hat. Den Stipendiaten der Antilian School: Glückliche Reise!

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 31-41,43-44.
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