Zehntes Kapitel.
Nordostwind.

[124] Hatte der Anblick des dahintreibenden Körpers die jungen Passagiere auch aufs tiefste erregt, so sahen sie an ihm doch nur das Opfer eines Unglücksfalles, vielleicht eines Sturzes, bei dem sich der Ärmste schwer verletzt hatte, ehe er vollends ins Meer fiel. Wer hätte auch ahnen können, daß hierbei ein Verbrechen im Spiele war?

Harry Markel und seine Genossen wußten das freilich besser, und Corty raunte noch John Carpenter zu:

»Nun fehlte bloß noch, daß der Kapitän Paxton und seine Mannschaft an den Strand geschwemmt würden!«

Soweit der Blick reichte, behielten sie die Wasserfläche scharf im Auge, es kam aber kein anderer Leichnam zum Vorschein, der von einem der Fahrzeuge in der Nähe des »Alert« hätte aufgefischt werden können. Natürlich harrten sie jedoch ungeduldig darauf, weiter zu fahren und nicht mehr in Sicht des Landes zu sein.

Jetzt erschienen am Himmel auch einzelne Vorzeichen, die auf einen Witterungsumschlag hindeuteten. Im Osten stiegen Wolken auf und vielleicht erhob sich noch vor dem Ende des Tages ein Wind von der Landseite.

Den dachte man sich zu nutze zu machen, selbst im Falle, daß er zum Sturme ausartete, wenn er nur den »Alert« so zwanzig Meilen auf das offene Meer hinaustrieb.

Doch ob diese Hoffnung nicht täuschte? Würden sich die Wolken nicht bei den letzten Strahlen der Sonne wieder zerstreuen, und sollte Harry Markel doch noch die Boote zu Hilfe nehmen müssen, um aufs hohe Meer zu kommen?

Geschützt unter einem Zelte auf dem Deck beobachteten die jungen Leute den lebhaften Verkehr am Eingange des Sankt-Georgskanals. Hier liefen nicht nur Dampfer ein und aus, die einen nach den Gestaden Irlands, die anderen nach dem Atlantischen Ozean, sondern auch einige Segelschiffe kamen zum Vorschein, die sich von Schleppdampfern aus Queenstown hinausbugsieren ließen.[124]

Ja, wenn es Harry Markel nur gewagt hätte, wie gern würde er einen solchen Dampfer angerufen und seine Dienste reichlich belohnt haben, wenn er dadurch nur hinaus, hinaus aufs offene Meer gekommen wäre!

Tony Renault empfahl auch diesen Ausweg, da fünf bis sechs Meilen vor dem Kanal wohl auf Seewinde zu hoffen wäre.

Harry Markel widersetzte sich dem aber mit aller Entschiedenheit und so trockenen Tones, daß jede weitere Einrede verstummen mußte. Ein Kapitän weiß ja auch selbst, was er zu tun hat, und nimmt von keinem andern Ratschläge an.

So viel Harry Markel auch daran gelegen war, sich von der für ihn und seine Genossen so gefährlichen Küste zu entfernen, hätte er sich doch auf keinen Fall entschlossen, ein Schleppboot zu Hilfe zu nehmen. Was wäre dann die Folge gewesen, wenn der Führer dieses Bootes den Kapitän Paxton oder einen von dessen Leuten zufällig gekannt und an Bord des »Alert« nicht wiedergefunden hätte?.. Nein, da war es jedenfalls ratsamer, ruhig noch länger zu warten.

Gegen drei Uhr nachmittags zeigte sich im Südwesten eine dichte Rauchsäule von einem Dampfer, dessen Annäherung zu einer interessanten Beobachtung Gelegenheit gab.

Das Fahrzeug glitt sehr schnell dahin und schon eine halbe Stunde später erkannte man deutlich, daß es ein Kriegsschiff war, das dem Kanal zusteuerte.

Jetzt richteten sich alle kleinen Ferngläser nach ihm hin. Tony Renault und die anderen wetteiferten untereinander, wer die Nationalität dieses Dampfers zuerst entdecken würde.

Louis Clodion gelang das, und nach genauerer Prüfung des vom Top des einen Gefechtsmastes wehenden Wimpels rief er erfreut:

»Das ist ein Franzose... ein Schiff der Kriegsmarine!

– Ein Franzose! Ein Franzose! jubelte Tony Renault. Den begrüßen wir, wenn er hier vorüberkommt.«

Sofort bat er Harry Markel, Frankreich, das hier durch eines seiner Panzerschiffe vertreten wurde, den üblichen Salut zu erweisen.

Harry Markel, der ja keine Urfache hatte, das zu verweigern, ging gleich darauf ein und fügte noch hinzu, daß der Franzose den »Alert« dann jedenfalls auch salutieren werde, wie das ja bei allen Flotten üblich ist.

Das Fahrzeug war ein Panzerkreuzer zweiter Klasse von sieben- bis achthundert Tonnen und mit zwei Gefechtsmasten. Die Trikolore wehte von[125] seinem Heck und schnell durchschnitt es mit dem Rammsporn am Bug das ruhige Meer und ließ – eine Folge seiner ausgezeichneten Wasserlinien – einen langen Streifen nur sehr flachen Kielwassers hinter sich.

Mit den Fernrohren war beim Vorüberfahren des Panzers vor dem »Alert« auch dessen Name zu erkennen.

Es war der »Jemmapes«, einer der schönsten Typen der französischen Flotte.

Louis Clodion und Tony Renault standen auf dem Hinterdeck am Gaffelreep des Besanmastes. Als der »Jemmapes« nur noch eine Viertelmeile entfernt war, zogen sie das Reep an und ließen mit dem Rufe Vive la France! die britische Flagge dreimal auf- und niedergleiten. Engländer, Dänen, Holländer, kurz alle, stimmten in den Ruf ihrer Kameraden ein, während die Flagge des »Jemmapes« an ihrer Stange auf- und abstieg.

Eine Stunde darauf wurden in gleicher Weise die englischen Farben begrüßt, als diese an der Gaffel eines transatlantischen Dampfers sichtbar wurden.

Es war das die »City-of-London« von der zwischen Liverpool und New York verkehrenden Cunardlinie. Gewohnheitsmäßig lieferte das Schiff seine Postsäcke schon in Queenstown ab, wodurch diese ihr Ziel einen halben Tag früher erreichten, als das Paketboot selbst an seinem Ziele ankam.

Die »City-of-London« salutierte den »Alert«, dessen Flagge von John Howard und Hubert Perkins unter dem Hurra der jungen Passagiere gehißt worden war.

Gegen fünf Uhr hatten sich die Wolkenmassen im Nordosten wesentlich vermehrt und ragten jetzt auch über die Höhenzüge hinter der Bai von Cork auf. Überdies bot der Himmel heute gegenüber der gleichen Stunde an den letzten Tagen ein sehr verändertes Aussehen.

Versank die Sonne heute auch noch hinter einem klaren Horizonte, so war doch anzunehmen, daß sie morgen früh inmitten jener schweren Dunstmassen aufgehen werde.

Harry Markel und John Carpenter standen auf dem Vorderdeck beieinander. Aus Vorsicht zeigten sie sich nicht auf dem Hinterkastell, wo sie vom Steilufer oder von dem mit schwärzlichen Felsblöcken besäten Strande aus hätten gesehen und vielleicht erkannt werden können.

»Da scheint endlich Wind zu kommen, sagte der Obersteuermann, indem er die Hand nach der Roche-Spitze zu ausstreckte.

– Das glaub' ich auch, antwortete Harry Markel.[126]

– Na, wenn das zutrifft, wollen wir uns keine Handvoll davon entgehen lassen, Kapitän Paxton... ja: Kapitän Paxton. Ich muß mich schon daran gewöhnen, dich so zu nennen... wenigstens für ein paar Tage oder doch noch für einige Stunden. Morgen, vielleicht schon heute Nacht, hoffe ich ja, daß du wieder zum Kapitän Markel wirst, zum Befehlshaber des... Oh, ich werde für unser Schiff nach einem Namen suchen... mit dem ›Alert‹ fangen wir unsere Fahrten im Stillen Ozean doch nicht an!«

Harry Markel ließ den Mann reden und fragte nur:

»Ist denn alles zur Abfahrt fertig?

– Alles, Kapitän Paxton, versicherte der Obersteuermann. Wir brauchen nur den Anker einzuholen und Segel zu setzen. Ein Schiff mit so scharfem Bug und so schlankem Heck wie unseres braucht nicht viel Wind, schnell dahinzugleiten.

– Gewiß, es würde mich auch wundern, wenn wir heut' Abend bei Sonnenuntergang nicht fünf bis sechs Meilen von Roberts-Cove weg wären...

– Und mich noch mehr beunruhigen als verwundern! erwiderte John Carpenter. Doch da kommen zwei von unseren Passagieren, die dich, wie es scheint, sprechen wollen.

– Was sollten sie mir zu sagen haben?« murmelte Harry Markel.

Magnus Anders und Tony Renault – die beiden Novizen, wie ihre Kameraden sie nannten – wandten sich eben dem Vorderkastell zu, vor dem Harry Markel und John Carpenter im Gespräch standen.

Tony Renault nahm zuerst das Wort.

»Herr Kapitän Paxton, begann er, meine Kameraden senden uns, Magnus Anders und mich, Sie zu fragen, ob denn immer noch kein Umschlag des Wetters in Aussicht steht.

– Ja freilich... ich hoffe sogar recht bald, antwortete Harry Markel.

– Dann könnte der ›Alert‹ vielleicht also noch heute Abend absegeln? sagte Magnus Anders.

– Das wäre wohl möglich. Eben hab' ich mit John Carpenter darüber gesprochen.

– Aber jedenfalls nicht vor dem Abend? fragte Tony Renault.

– Eher wahrscheinlich nicht, erklärte Harry Markel. Die Wolken dort steigen sehr langsam herauf, und wenn sich überhaupt Wind erhebt, wird das doch vor zwei bis drei Stunden nicht der Fall sein.[127]

– Wir haben bemerkt, daß die Wolkenbank ununterbrochen zusammenhängt und jedenfalls von tief unter dem Horizonte heraufsteigt. Deshalb meinen Sie, Herr Kapitän, ja wohl auch, daß eine Änderung des Wetters eintreten werde?«

Harry Markel nickte als Bestätigung mit dem Kopfe und für ihn nahm der Obersteuermann das Wort.

»Jawohl, meine jungen Herren, ich glaube auch, daß wir endlich Wind bekommen, und zwar einen günstigen Wind, der uns nach Westen hinaustreibt. Nur noch ein wenig Geduld, der ›Alert‹ wird schon bald die irische Küste verlassen haben. Jetzt ist übrigens Zeit zum Essen. Ranyah Cogh hat alles mögliche für Ihre Mahlzeit aufgeboten... für die letzte, die letzte in Sicht des Landes!«

Harry Markel runzelte die Stirn; er verstand gut genug, worauf John Carpenter mit der »letzten« anspielte. Es war nur zu schwierig, das Geschwätz des Elenden zu hemmen, dem nun einmal eine rohe und wilde Scherzhaftigkeit im Blute lag.

»Schön, antwortete Magnus Anders, wir setzen uns zu Tische, sobald das Essen aufgetragen ist.

– Und fürchten Sie nicht, uns davon abzurufen, setzte Tony Renault hinzu, wenn Sie inzwischen abfahren wollten. Wir wollen alle bei der Abfahrt helfen.«

Die beiden jungen Leute begaben sich wieder nach dem Hinterdeck und plauderten hier weiter, während sie den Himmel im Auge behielten, bis einer der Matrosen, Namens Wagah, ihnen meldete, daß der Tisch gedeckt sei.

Wagah hatte den Dienst im Deckhause und alles zu besorgen, was die Hauptkajüte und die Kabine betraf; er vertrat sozusagen die Stelle eines Stewards an Bord.

Der Mann zählte fünfunddreißig Jahre; die Natur hatte aber einen Fehlgriff getan, als sie ihn mit einem offenherzigen Gesichtsausdruck, überhaupt mit einer ansprechenden Erscheinung ausstattete: er war in der Tat nicht einen Heller mehr wert als seine Genossen. Seine zur Schau getragene Willfährigkeit wäre wohl andern nicht frei von heimlicher Schurkerei erschienen, denn er konnte eigentlich niemand gerade ins Gesicht sehen; den noch so jungen Passagieren entgingen aber solche Einzelheiten, sie waren ja zu unerfahren, derlei Anzeichen menschlicher Verworfenheit zu erkennen.[128]

Wagah hatte vorzüglich auch Horatio Patterson zu täuschhen verstanden, denn wenn auch älter, war der gelehrte Herr in dieser Hinsicht ebensowenig gewitzigt, wie Louis Clodion und dessen Kameraden.


Die Passagiere eilten zu den Querbalken, die Leute zu unterstützen. (S. 133)
Die Passagiere eilten zu den Querbalken, die Leute zu unterstützen. (S. 133)

Bei seiner Pünktlichkeit in allen Dienstleistungen und dem Eifer, den er dabei markierte, mußte Wagah ja einem so naiven Manne wie dem Verwalter der Antilian School gefallen. Harry Markel hatte eine glückliche Hand gehabt, als er ihn zum Steward wählte, denn keiner hätte seine Rolle besser als er gespielt. Auch wenn Wagah diese Stellung während der ganzen Reise beibehalten[129] hätte, würde in Patterson kein Verdacht gegen den Mann aufgestiegen sein. Der Leser weiß jedoch, daß diese Rolle eigentlich schon nach wenigen Stunden ausgespielt sein sollte.

Der Mentor war also ganz bezaubert von seinem Steward. Er hatte diesem schon in seiner Kabine den Platz seiner Toilettengegenstände und Kleidungsstücke gezeigt, da er sich von Wagah der ersprießlichsten Dienste versah, wenn ihn die Seekrankheit packen sollte, obgleich er das nicht erwartete, da er sich nach der Überfahrt von Bristol nach Queenstown dagegen gefestigt glaubte. Gleichzeitig deutete er auf eine reichliche, klingende Anerkennung aus dem für die Reise ausgeworfenen Fonds hin, wenn jener seine Wünsche wie bis jetzt so willig befriedige.

Als er so mit dem Steward über das und jenes und auch über den »Alert« und dessen Personal plauderte, kam Patterson auch auf Harry Markel zu sprechen. Ihm erschien »der Kommandant« – wie er sagte – etwas kühl und zugeknöpft, überhaupt von wenig mitteilsamer Natur.

»Darin haben Sie recht, Herr Patterson, antwortete ihm Wagah. Ja, für einen alten Seemann ist er etwas gar zu ernst. Der Kapitän Paxton denkt eben immer nur an seine Pflichten; er ist sich seiner Verantwortlichkeit bewußt und bemüht sich, seine Obliegenheiten zu erfüllen. Sie werden ihn ja beobachten können, wenn der ›Alert‹ etwa in schlechtes Wetter käme. In unserer Handelsflotte gibt es keinen, der ein Schiff besser führen könnte als er, und er wäre ebensogut befähigt, ein Kriegsschiff zu kommandieren, wie Se. Hoheit der erste Lord der Admiralität...

– Ein Zeugnis, das er mit Recht verdient, Wagah, meinte Horatio Patterson, und in gleich lobender Weise ist er auch uns geschildert worden. Als die hochsinnige Mistreß Kathlen Seymour uns den ›Alert‹ zur Verfügung stellte, haben wir schon vernommen, was der Kapitän Paxton wert wäre, dieser Deus – ich sage nicht: ex machina, sondern – dieser Deus machinae, den Gott der wunderbaren Maschine, die ein Schiff darstellt, das jeder Wut des Meeres zu trotzen vermag!«

Auffallend erschien hierbei, es gewährte Horatio Patterson aber ein besonderes Vergnügen, daß der Steward ihn selbst dann zu verstehen schien, wenn ihm ein lateinisches Citat entschlüpfte. Er erschöpfte sich daher in Lobsprüchen über Wagah, und seine jungen Begleiter hatten keinerlei Ursache, an seinen Worten zu zweifeln.[130]

Die Hauptmahlzeit verlief unter ebenso freudiger Stimmung wie das Frühstück und war – das verdiente alle Anerkennung – auch ebensogut zubereitet. Der Koch Ranyah Cogh erntete dafür seine redlich verdienten Lobsprüche, bei denen in den hochtönenden Phrasen Horatio Pattersons von cibus und potus nicht zu wenig die Rede war.

Trotz der Bemerkungen des würdigen Schulverwalters verließ Tony Renault, der seine Ungeduld nicht zügeln konnte, doch wiederholt die Kajüte, um zu sehen, was auf dem Deck, wo die Mannschaft beschäftigt war, vorginge. Zuerst wollte er sich da überzeugen, ob der Wind seine günstige Richtung beibehielte, dann wieder, ob er zunähme oder etwa abflaute, ein drittes Mal, ob endlich Vorbereitungen zur Abfahrt im Gange wären, und schließlich, um den Kapitän Paxton an sein Versprechen zu erinnern, es den jungen Leuten melden zu lassen, wenn sie am Gangspill mit anfassen könnten.

Natürlich überbrachte Tony Renault seinen Kameraden, die ebenso ungeduldig waren wie er, allemal die erwünschte Antwort. Der »Alert« sollte nun ohne weitere Verzögerung absegeln, doch nicht vor halb acht Uhr, d. h. mit der Umkehr der Gezeiten, wo ihn dann der Ebbestrom schnell aufs offene Meer hinaustragen würde.

Die Passagiere hatten also genügende Zeit zu essen und brauchten auch keine doppelten Bissen zum Munde zu führen, was für Horatio Patterson unbehaglich gewesen wäre. Ebenso besorgt um die gute Verwaltung seiner Angelegenheiten wie um die Gesundheit seines Magens, nahm er seine Mahlzeiten stets mit weiser Langsamkeit ein, verzehrte nur kleine Bissen, trank dazu nur kleine Schlucke und kaute alles tüchtig, ehe er es in den muskulo-membranösen Kanal des Pharynx hinabgleiten ließ.

Dabei predigte er wiederholt zum Ergötzen der Zöglinge der Antilian School.

»Dem Munde fällt die erste Arbeit zu. Er hat zum Zerkauen die Zähne, die dem Magen fehlen. Der Mund soll zerkleinern und einspeicheln, der Magen nur verdauen, dann hat der Körper den richtigen Nutzen vom Essen!«

War das ohne Zweifel richtig, so bedauerte Patterson doch lebhaft, daß weder Horaz noch Virgil oder ein anderer Dichter des alten Rom diesen Lehrsatz in lateinische Verse gebracht hatte.

So verlief die Mahlzeit am letzten Ankerplatze des »Alert«, ohne daß Wagah genötigt war, die Schutzkanten der Tafel wegen der Bewegungen des[131] Schiffes aufzuklappen. Roger Hinsdale brachte deshalb auch, an seine Schulgenossen gewendet, ein Hoch auf den Kapitän Paxton aus, wobei er nur bedauerte, daß dieser nicht bei dem Essen in der Kajüte den Vorsitz führen könnte, Niels Harboe aber versicherte hoch und teuer, daß es ihnen allen während der ganzen Fahrt nicht an Appetit mangeln werde.

»Ja, warum sollte es uns denn an Appetit fehlen? bemerkte dazu der Mentor, den ein Glas Portwein mehr als gewöhnlich belebt hatte. Wird er denn nicht fortwährend durch die frische, salzhaltige Seeluft angeregt werden?

– Oho, wandte Tony Renault mit ironischem Augenzwinkern dagegen ein, wie steht's denn da mit der Seekrankheit?

– Pah... Seekrankheit! rief John Howard. Ein paarmal Übelwerden, das ist ja alles!

– Übrigens, bemerkte Albertus Leuwen, ist es fraglich, ob man als bestes Mittel, ihr zu entgehen, auf einen vollen oder einen leeren Magen achten soll.

– Auf einen leeren, behauptete Hubert Perkins.

– Nein... auf einen vollen, versicherte Axel Wickborn.

– Liebe junge Freunde, fiel da Horatio Patterson ein, glaubt meiner alten Erfahrung: das beste ist, sich an die abwechselnden Bewegungen des Schiffes zu gewöhnen. Wie wir es auf der Überfahrt von Bristol nach Queenstown gehalten haben, werden wir bei gleichem Verhalten auch fernerhin nichts von dieser – übrigens ungefährlichen – Krankheit zu fürchten haben. Hier heißt's nur, sich gewöhnen; auf dieser Erde kommt ja alles auf Gewohnheit hinaus.«

O, er sprach klug und weise, der vortreffliche Mann, und jetzt fügte er noch hinzu:

»Ach, meine jungen Freunde, da fällt mir eben noch ein Beispiel ein, das meine Anschauung wesentlich unterstützt...

– Erzählen... erzählen! rief die ganze Tafelrunde.

– Ja... sofort, erklärte Patterson, den Kopf etwas zurücklehnend. Ein Gelehrter, ein Ichthyolog, dessen Name mir entfallen ist, hat bezüglich der Macht der Gewohnheit einen Versuch durchgeführt, der – wenigstens was die Fische betrifft – einen schlagenden Beweis lieferte. Er besaß ein Aquarium und darin einen Karpfen, der in dem Aquarium ein sorgloses Leben führte. Eines Tages kam da dem Gelehrten der Gedanke, dieses Schuppentier an das[132] Leben außerhalb des Wassers gewöhnen zu wollen. Er nahm ihn aus dem Aquarium, anfänglich nur einige Sekunden, dann einige Minuten, später mehrere Stunden, zuletzt gleich für einige Tage, und siehe da, das intelligente Tier gewöhnte sich wirklich daran, in der freien Luft zu atmen.

– Das ist nicht glaublich, wendete Magnus Anders ein.

– Die Tatsache ist aber unumstößlich, entgegnete Patterson, und ihre wissenschaftliche Bedeutung läßt sich gar nicht bestreiten.

– Dann, fiel Louis Clodion ungläubig ein, dann müßte wohl auch der Mensch bei einer ähnlichen Vorbereitung schließlich im Wasser leben können?

– Die Wahrscheinlichkeit ist nicht anzuzweifeln, lieber Louis.

– Kann man wohl, fragte Tony Renault, auch erfahren, was aus diesem interessanten Karpfen geworden ist?... Lebt er vielleicht noch heute?

– Nein... er ist tot, ist eingegangen, nachdem er zu jenem herrlichen Versuche gedient hatte, schloß Patterson, umgekommen durch einen Unfall, der an sich wieder höchst interessant ist. Eines Tages fiel er nämlich zufällig wieder in das Aquarium, und darin ist er... ertrunken! Ohne dieses Mißgeschick hatte er, wie seinesgleichen, jedenfalls hundert Jahre lang gelebt!«

In diesem Augenblicke ertönte der Ruf: »Alle Mann auf Deck!«

Das Kommando Harry Markels unterbrach den Mentor, gerade als ihm laute Hurras für seine wahrhaftige Mitteilung danken sollten. Keiner der Passagiere hätte es aber versäumen mögen, sich an den Abfahrtmanövern zu beteiligen.

Der Wind, eine leichte Brise aus Nordosten, war ziemlich stetig geworden.

Schon standen vier Mann am Gangspill, es in Drehung zu setzen, und die Passagiere eilten jetzt zu den Querbalken, die Leute zu unterstützen. John Carpenter und einige Matrosen waren beschäftigt, Klüver-, Top- und Bramsegel sowie die unteren Segel loszubinden, dann die Raaen zu hissen, sie fest zu sorren und anzuholen, sobald das Schiff sich gewendet hätte.

»Den Anker herauf!« befahl Harry Markel einen Augenblick später.

Mit noch einigen Drehungen des Gangspills wurde der Anker bis zu seinem Kranbalken emporgewunden und hier ausgepentert.

»Alles los, rief Harry Markel, und nach Südwesten gesteuert!«

Der »Alert« setzte sich in Bewegung und entfernte sich damit von Roberts-Cove, während die jungen Leute die britische Flagge hißten und mit lauten Hurras begrüßten.[133]

Horatio Patterson stand eben bei Harry Markel vor dem Kompaßhäuschen, und nachdem er zuerst ausgesprochen hatte, daß die große Reise nun endlich begonnen habe, fügte er noch hinzu:

»Eine große und früchtereiche Reise, Kapitän Paxton! Dank der fürstlichen Freigebigkeit der Mistreß Kathlen Seymour wird jeder von uns bei der Abfahrt von Barbados noch einen Preis von siebenhundert Pfund erhalten.«

Harry Markel, der von dieser Bestimmung noch nichts wußte, sah Patterson scharf an und entfernte sich dann, ohne ein Wort zu äußern.

Es war jetzt halb neun Uhr. Die Passagiere konnten noch die Lichter im Kinsale-Harbour und das Leuchtfeuer der Corrakilty-Bai sehen.

Da trat John Carpenter an Harry Markel heran mit der Frage:

»Nun... diese Nacht wird's doch?...

– Weder diese noch eine andere Nacht, erwiderte Harry Markel. Auf der Rückfahrt sind unsere Passagiere jeder siebenhundert Pfund mehr wert!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 124-134.
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