Neuntes Kapitel.
Eine Jagd auf Orignale.

[352] Etwa fünfzig Toisen von der Stelle, wo der Anfang der Galerie lag, die mit dem Krater verbunden werden sollte, bildete das linke Ufer des Rio Rubber einen ziemlich scharfen Winkel. Von hier aus sollte die Ableitung des Wassers erfolgen. Das erforderte also die Herstellung eines vierhundert Fuß langen Kanals.

Am Morgen des 9. Juli wurde die betreffende Arbeit begonnen.

Gleich zu Anfang zeigte es sich, daß die Aushebung keine besondre Mühe machen werde. Bis auf sieben, acht Fuß Tiefe bestand der Boden aus lockrer[352] Erde Diese Tiefe mußte, bei einer ungefähr gleichen Breite, für den vorliegenden Zweck genügen, so daß keine Sprengarbeit nötig wurde, die den noch vorhandenen Vorrat an Pulver hätte erschöpfen können.

Die Leute von der Karawane ließen es an Tätigkeit nicht fehlen, die Nähe des Ziels verdoppelte ihren Eifer, da sie den Plan Ben Raddles kannten. Obwohl mehrere von ihnen die diesem zugrunde liegende Theorie kaum begriffen, bezweifelte doch keiner, daß der Golden Mount bald Gold in vollem Strome ausspeien werde.
[353]

Feuer! und beide zu gleicher Zeit, Neluto, daß wir nicht fehlen! (S. 359.)
Feuer! und beide zu gleicher Zeit, Neluto, daß wir nicht fehlen! (S. 359.)

Patrick vor allem tat reine Wunder. Bei seiner außerordentlichen Muskelkraft leistete er die Arbeit von zehn andern.

Der Kanal nahm also schnell an Länge zu. Die Leute lösten einander nach gewisser Zeit ab und unter Benützung der langen Dämmerung wurde bis tief in die Nacht hinein gearbeitet. Ben Raddle überwachte die Ausführung des Werkes und sorgte für die Befestigung der Kanalwände, immer darauf achtend, ob sich da vielleicht eine Goldader zeigte. Er fand jedoch davon nichts.

»Na, das ist ja ein Rio, bemerkte der Scout, der sich vor der Bonanza schämen muß! Doch gleichviel, wenn sein Wasser auch keine Pepiten mit sich führt, wenn es uns nur die aus dem Golden Mount verschafft!«

Acht Tage gingen hin. Am 16. Juli war der Kanal fast ganz vollendet. Es blieben nur noch einige Meter auszuheben, dann den noch stehenden, fünf bis sechs Fuß dicken Damm am Ufer zu durchbrechen und endlich die am innern Galerieende noch vorhandne Kraterwand wegzusprengen. Das Wasser wälzte sich dann allein heran, um in die Eingeweide des Vulkans zu stürzen.

Wie lange es noch bis zur Eruption dauern würde, die durch die Bildung der Wasserdämpfe hervorgerufen werden mußte, das hätte niemand mit einiger Sicherheit sagen können. Jedenfalls hatte der Ingenieur aber beobachtet, daß die vulkanische Tätigkeit von Tag zu Tag zunahm. Inmitten der über dem Berge lagernden und immer dichter ausströmenden Rauchwolken schossen zahlreiche Flammen jetzt höher empor und erleuchteten in den wenigen dunkeln Nachtstunden die Gegend in weitem Umkreise. Es war daher zu hoffen, daß das dem Zentralherde zugeleitete Wasser sofort zu Dampf verwandelt werden und ein kräftiges und schnelles Aufflackern der Eruptionserscheinungen auslösen würde.

Spät am Nachmittage desselben Tages kam Neluto eiligen Laufes zu Summy Skim und rief fast atemlos:

»He, Herr Skim!... Herr Skim!

– Was habt ihr denn, Neluto?

– Draußen äsen Orignals (kanadische Elentiere), Herr Skim!

– Orignals... wirklich? fragte Summy.

– Ja, eine ganze Herde, wenigstens ein halbes Dutzend.. oder auch mehr... oder...

– Jawohl, oder auch weniger, fiel Summy ein. Ich kenne schon das alte Lied, mein Junge. Wo weiden denn die Orignals?

– Da draußen.«[354]

Der Indianer wies nach der Ebene im Westen vom Golden Mount.

»Weit von hier?

– O... etwa eine Lieue... oder eine halbe...

– Oder zweihundert Meter weit... 's ist richtig,« sagte Summy lachend...

Einer der wärmsten Wünsche des eifrigen Jägers war es von jeher gewesen, einmal auf Orignale zu treffen und ein paar davon zu erlegen. Dieser Wunsch war ihm seit dem Eintreffen in Klondike noch nicht in Erfüllung gegangen. Höchstens hatte er gehört, daß zwei oder drei dieser Tiere in der Umgebung von Dawson City oder am Forty Miles Creek gelegentlich zu sehen gewesen wären. Nelutos Meldung erregte also im höchsten Grade seine cynegetischen Triebe.

»Kommt mit!« rief er dem Indianer zu.

Beide verließen ohne Zögern das Lager und gingen einige hundert Schritt am Fuße des Golden Mount hin. An dessen letztem südlichen Ausläufer angelangt, konnte Summy mit eignen Augen die kleine Herde Orignale sehen, die nach Nordwesten ruhig über die weite Ebene hintrotteten.

Trotz seines heftigen Verlangens, deren Verfolgung sogleich aufzunehmen, verschob er das doch weislich bis zum folgenden Tage. Es war schon zu spät, eine Jagd zu beginnen. Die Hauptsache blieb es ja, daß diese Wiederkäuer sich in der Gegend hier gezeigt hatten; man würde sie da schon wieder aufzufinden wissen.

Ins Lager zurückgekehrt, machte Summy seinem Vetter sofort Mitteilung von seiner Absicht. Da es an Leuten zur Vollendung des Kanals nicht fehlte, sah der Ingenieur kein Hindernis, sich Nelutos für einen Tag berauben zu lassen. Es wurde demnach verabredet, daß die beiden Jäger morgen früh fünf Uhr aufbrechen sollten, den Spuren der Orignals nachzugehen.

»Du versprichst mir aber, Summy, empfahl diesem noch Ben Raddle, dich auf keinen Fall zu weit von hier zu entfernen...

– Das hättest du nur den Elentieren empfehlen sollen, antwortete Summy lachend.

– Nein, Summy, das leg' ich dir ans Herz. In diesem wüsten Lande ist man nie vor schlimmen Begegnungen sicher.

– Gerade weil es so wüst und menschenleer ist, ist es doch sicher, erwiderte Summy.[355]

– Nein, Vetter. Versprich mir wenigstens, daß du am Nachmittage zurück bist.

– Am Nachmittag oder am Abend, Ben.

– Abende, die die halbe Nacht lang dauern! Damit verpflichtest du dich ja zu gar nichts, antwortete der Ingenieur. Sagen wir: um sechs, und bedenke, daß es mich sehr beunruhigen wird, wenn du bis dahin nicht zurückgekehrt bist.

– Na gut, einverstanden, Ben, erwiderte Summy Skim. Abgemacht, um sechs Uhr... mit einem Gnadenviertelstündchen.

– Schön, ich nehme auch diese Viertelstunde an, doch nur, wenn sie nicht mehr als fünfzehn Minuten dauert!«

Ben Raddle fürchtete immer, daß sein Vetter, wenn er einmal auf der Jagd war, sich weiter, als es gut war, hinreißen ließ. Bisher war noch kein Indianertrupp an den Mündungen des Mackensie aufgetaucht und dazu konnte man sich beglückwünschen. Das konnte aber heute oder morgen anders sein und Ben Raddle dachte immer an den Rauch, den Neluto über den Bäumen des Waldes gesehen zu haben glaubte Obwohl seitdem vierzehn Tage ohne jeden Zwischenfall verflossen waren, konnte er sich einer gewissen Sorge nicht entschlagen und sehnte die Stunde herbei, wo er, nach glücklicher Erreichung des Zweckes, der ihn hierher geführt hatte, den Weg nach Dawson wieder einschlagen könnte.

Am nächsten Morgen schon vor fünf Uhr verließen Summy Skim und Neluto das Lager, jeder bewaffnet mit einem weittragenden Gewehre, mit Mundvorrat für zwei Mahlzeiten und begleitet von einem guten Hunde, der aus denen, die die Karawane mit sich geführt hatte, besonders ausgewählt war. Das auf den Namen Stop hörende Tier war eigentlich mehr ein Wacht- als ein Jagdhund. Summy, der an ihm aber einen sehr seinen Geruchssinn und eine besondre Anhänglichkeit an Menschen entdeckt zu haben glaubte, hatte Stop schon vorher an sich gewöhnt und sich dessen weitrer Ausbildung unterzogen. Er war auch nicht wenig stolz auf seine erzielten Erfolge.

Das Wetter war schön und frisch, trotz der Sonne, die schon seit Stunden ihren langen Bogen über dem Horizonte beschrieb. Die beiden Jäger schritten rasch voran, während der Hund bellend um sie her sprang.

Alles in allem hatten Summy Skims Ausflüge in der Nähe von Dawson City oder in der Nachbarschaft des Forty Miles Creek ihm – mit Ausnahme der drei Bären, von denen zwei unter so merkwürdigen Umständen erbeutet[356] worden waren – nur kleines Zeug vor die Flinte geliefert: Krammetsvögel, Amseln, Rebhühner oder ähnliches Geflügel. Jetzt erhob ihn der Gedanke, bald ein edleres Wild vor den Lauf zu bekommen.

Der Orignal ist eine Elenart, dessen Kopf die Weidsprossen des Elchs schmücken. Früher in dem vom Yukon und seinen Nebenflüssen bewässerten Gebiete sehr häufig, hat sich dieser einst fast als Haustier lebende Wiederkäuer seit der Besiedlung der Claims von Klondike zerstreut und nach nördlicheren Gegenden geflüchtet, wo er nach und nach immer mehr aufs neue verwildert.

Man kann sich ihm nur schwer nähern und erlegt ihn nur unter ganz günstigen Umständen. Das ist bedauernswert, denn sein Haarfell ist kostbar und sein dem des Ochsen ähnliches Fleisch schmeckt vortrefflich.

Summy Skim wußte recht wohl, wie leicht der Orignal scheu und flüchtig wird. Er hat sehr scharfen Geruchs- und Gehörsinn und ist auch sehr schnellfüßig. Bei der geringsten Störung entflieht er trotz sei nes Gewichts, das oft fünfhundert Kilogramm erreicht, mit einer Geschwindigkeit, die jeder Verfolgung spottet. Die beiden Jäger beobachteten also alle nur mögliche Vorsicht, sich auf Schußweite heranzuschleichen.

Die gestern am Saume des Waldes beobachtete Wiederkäuerherde hatte sich etwa um anderthalb Lieues von da entfernt.

An einzelnen Stellen ragten kleine Baumgruppen auf und um die erwähnte Strecke zurückzulegen, mußten die beiden von einer zur andern schlüpfen, richtiger kriechen, um von den Tieren nicht bemerkt zu werden. Näher am Walde war das anders und die Jäger konnten schwerlich weiter vorwärts kommen, ohne ihre Anwesenheit zu verraten. Dann stoben die Orignale jedoch davon und man mußte auf jede Hoffnung verzichten, ihre Spuren wiederzufinden.

Nach kurzer Beratschlagung kamen Summy Skim und Neluto dahin überein den Wald weiter im Süden zu betreten. Stahlen sie sich darin von Baum zu Baum weiter vor, so gelang es ihnen voraussichtlich, an die Herde heranzukommen und sie von rückwärts her zu beschießen.

Dreiviertel Stunden später hatten Summy Skim und der Indianer den Wald etwa zwei Kilometer von der Stelle erreicht, wo die Orignale weideten. Neluto hielt Stop am Halsbande, um dessen Ungeduld zu zügeln.

»Wir wollen nun unter dem Schutze der Bäume weiter vordringen, sagte Summy Skim, doch um Himmelswillen, laßt mir den Hund nicht los![357]

– Nein, nein, Herr Skim, gab der Indianer zur Antwort, doch Sie könnten die Güte haben, wieder mich etwas zurückzuhalten, Stopp zerrt gar zu sehr.«

Summy Skim lächelte. Der Mann hatte wirklich Mühe genug, nicht selbst schneller fortzgezogen zu werden.

Unter den Bäumen ging es nicht ohne Schwierigkeiten weiter. Espen, Birken und Fichten standen oft dicht beisammen und untereinander verzweigtes Buschwerk hinderte häufig den Marsch. Dabei mußte man es auch vermeiden, die auf der Erde verstreuten dürren Zweige beim Darauftreten zu zerknicken. Da jetzt Windstille herrschte, hätten die Orignale das um so leichter gehört. Die allmählich wärmer scheinende Sonne durchflutete die Baumkronen mit hellem Lichte. Keine Stimme eines Vogels traf das Ohr und in der Tiefe des Waldes war es fast feierlich still.

Die neunte Stunde war herangekommen, als die beiden Jäger ungefähr dreihundert Schritt von den Orignals Halt machten. Die einen grasten da oder tranken aus einem aus dem Walde hervorkommenden Rio, die andern hatten sich gelagert und mochten wohl eingeschlafen sein. Die Herde verriet jedenfalls keinerlei Unruhe. Freilich würde sie der geringste Alarm in die Flucht jagen und dann wandten sie sich wahrscheinlich nach Süden, den Quellen des Porcupine River zu.

Summy Skim und Neluto waren nicht die Leute dazu, sich der Ruhe hinzugeben, obgleich sie dieser gewiß bedurft hätten. Da sich jetzt die Gelegenheit zu einem glücklichen Schuß bot, wollten sie sich diese nicht entgehen lassen.

So schlichen sie sich denn, das Gewehr in der Hand und den Finger am Drücker, durch das Gebüsch näher zum Waldesrande. Obgleich hier die Würze der Gefahr fehlte, da es sich ja nicht um Raubtiere handelte, empfand Summy Skim – er gestand das später wiederholt ein – jetzt doch eine Erregung ohnegleichen. Sein Herz schlug schneller, seine Hand zitterte ein wenig und er fürchtete, nicht sicher schießen zu können. Und doch glaubte er, vor Scham sterben zu müssen, wenn er diese Gelegenheit versäumte, einen so vielbegehrten Orignal zu erlegen.

Einer hinter dem andern krochen Summy Skim und Neluto durch das Unterholz geräuschlos noch näher heran. Nach wenigen Minuten befanden sie sich nur noch gegen sechzig Schritt von der Stelle, wo die Wiederkäuer lagerten oder umhertrotteten. Diese waren jetzt in Schußweite; Stop, den Neluto noch immer hielt, atmete keuchend, bellte aber nicht.[358]

Die Orignale schienen von der Annäherung der Jäger nichts zu merken, die, die auf der Erde lagen, richteten sich nicht auf und die andern grasten ruhig weiter.

Eines davon, ein prächtiges Tier, dessen Geweih fast dem Geäst eines jungen Baumes glich, erhob jetzt aber doch den mächtigen Kopf. Seine Ohren bewegten sich und es wendete die Schnauze dem Walde zu, als wollte es die ihm daraus entgegenströmende Luft prüfen.

Vielleicht hatte das Tier doch eine Gefahr gewittert und wenn es entfloh, riß es die andern gewiß mit sich fort.

Summy Skim ahnte etwas dergleichen und das Blut drängte sich in ihm stärker zum Herzen.

»Feuer! und beide zu gleicher Zeit, Neluto, um sicher zu sein, daß wir nicht fehlen!«

Plötzlich erscholl ein wütendes Gebell und Stop, den Neluto freigelassen hatte, um das Gewehr anschlagen zu können, jagte mitten in die Herde hinein.

Ein Volk Rebhühner wäre nicht so schnell davongeflattert, wie die Orignale jetzt entflohen. Weder Summy Skim noch der Indianer hatte Zeit gehabt, zu zielen und zu schießen.

»Verdammter Köter! rief Summy, sich wütend emporrichtend.

– Ja, den hätte ich an der Kehle halten müssen, sagte der Indianer.

– Lieber gleich erwürgen sollen!« wetterte Summy Skim außer sich.

Wenn das Tier jetzt zur Hand gewesen wäre, wahrlich, es wäre nicht leichten Kaufs davongekommen. Stop befand sich aber schon mehr als zweihundert Meter draußen, als die Jäger vor dem Rande des Waldes auftauchten. Er hetzte nach Leibeskräften den Orignalen nach und es erwies sich vergeblich, ihn zurückzurufen.

Die Herde floh nach Norden zu und so schnell, daß der Hund ihr nicht folgen konnte, obgleich er ein kräftiges und schnellfüßiges Tier war. Kehrte die Herde nun vielleicht in den Wald zurück oder entfloh sie über die Ebene mehr nach der östlichen Seite hin? Das zweite wäre am erwünschtesten gewesen, denn damit hätte sie sich dem Golden Mount genähert, der anderthalb Lieues von hier seine Rauchwirbel ausstieß. Die Tiere konnten aber auch eine schräge Richtung auf den Peel River zu einschlagen und in den ersten Schluchten der Felsengebirge Schutz suchen. In diesem Falle mußte man darauf verzichten, ihrer je habhaft zu werden.[359]

»Folgt mir nach, rief Summy Skim dem Indianer zu, wir wollen wenigstens versuchen, sie nicht aus dem Gesichte zu verlieren.«

Am Waldesrande hineilend, begannen beide die schon fast einen Kilometer entfernte Herde zu verfolgen. Dieselbe unwiderstehliche Leidenschaft, die den Hund hinausgetrieben hatte, stachelte auch sie jetzt an, ohne daß sie überlegen konnten, was sie eigentlich vornahmen.

Eine Viertelstunde später erregte etwas Summy Skims stärkstes Erstaunen. Die Orignale hielten im Laufe an, wie ungewiß darüber, wohin sie sich wenden sollten.

Was sollten sie auch tun? Weiter nach Norden konnten sie nicht flüchten, denn da hätte die Küste ihnen bald den Weg abgeschnitten. Wendeten sie sich dagegen nach Südosten zurück, dann mußten Summy Skim und Neluto auf alle weitre Hoffnung verzichten.

Doch nein: nach einigem Zögern stürmten die Orignale wieder dem Walde zu und suchten Schutz unter dem Gewirr der Bäume. Der Anführer der Herde verschwand mit einem Satze hinter den ersten Stämmen und die übrigen folgten ihm nach.

»Das war für uns entschieden das Beste, rief Summy Skim. Auf der Ebene hätten wir ihnen nicht in Schußweite nahe kommen können, im Walde aber kommen sie nicht mehr so schnell vorwärts, da holen wir sie im glücklichen Falle doch vielleicht wieder ein.«

Ob nun dieser Gedankengang richtig war oder nicht, jedenfalls hatte er zur Folge, die Jäger in einen Wald zu verlocken, dessen Ausdehnung sie nicht zu beurteilen vermochten und den sie überhaupt nicht kannten.

Stop war ihnen vorausgelaufen und sprang eifrig zwischen den Bäumen hin. Noch hörte man zwar sein Bellen, konnte ihn aber nicht mehr sehen.

Seine Geschmeidigkeit ermöglichte es ihm, überall durchzukommen, und er näherte sich jetzt den Orignalen, die durch ihr Geweih gehindert wurden, schnell durch das Unterholz hindurchzubrechen. Unter diesen Umständen erschien es nicht unmöglich, daß es noch gelang, sie zu überwältigen.

Die beiden Jäger, die sich unter dem Geäst einzig durch die Stimme des Hundes führen ließen, mühten sich nach Kräften zwei Stunden lang ab. Von blinder Leidenschaft getrieben, eilten sie aufs Geratewohl dahin und drangen immer weiter nach Westen vor, ohne sich zu fragen, ob sie denn auch den Weg wieder finden würden, wenn es sich um die Rückkehr handelte.[360]

Der Wald wurde mit der weitern Entfernung von seinem Rande immer weniger dicht. Die Bäume waren noch dieselben, Espen, Birken und Fichten, sie standen nur etwas weiter voneinander und auf einem weniger von Wurzeln durchsetzten und von Gebüschen bedeckten Boden.

Wenn den beiden die Orignale nicht sichtbar waren, so hatte doch Stop deren Fährte nicht verloren. Sein Gebell ertönte noch immer und er konnte jetzt nicht besonders weit von seinem Herrn sein.

Summy Skim und Neluto drangen noch tiefer in den Wald ein, als plötzlich, kurz nach der Mittagsstunde, die Stimme des Hundes nicht mehr an ihr Ohr schlug.

Sie befanden sich jetzt an einer offnen Stelle, nach der die Sonnenstrahlen ungehindert hereindrangen. Wie weit sie vom Waldesrande entfernt waren, konnte Summy Skim nur nach der bis jetzt verflossenen Zeit beurteilen und er schätzte die Strecke etwa auf acht bis zehn Kilometer. An Zeit zur Rückkehr ins Lager würde es also nicht fehlen, auch wenn beide, was sie sehr nötig hatten, einmal ausruhten.

Atemlos und recht hungrig setzten sie sich am Fuße eines Baumes nieder, holten den Mundvorrat aus den Jagdtaschen und sprachen ihm mit gewaltigem Appetit, doch auch mit dem Bedauern zu, daß ihrer Mahlzeit ein saftiges Stück gerösteter Orignallende fehlte.

Als sie sich erholt hatten, zögerten die Jäger einen Augenblick, welchen Weg sie nun einschlagen sollten; vergeblich empfahl ihnen die Klugheit, den nach dem Lager zu wählen. Summy Skim wollte davon nichts wissen. Als Schneider heimzukehren, ist für einen Jäger schon beschämend genug, doch auch noch ohne seinen Hund wiederzukommen, ist für ihn der Gipfel der Schande. Stop hatte sich aber noch nicht wieder blicken lassen.

»Wo mag der wohl stecken? fragte Summy Skim.

– Doch jedenfalls auf der Verfolgung der Orignale, antwortete der Indianer.

– Ja, das versteht sich von selbst, Neluto; doch wo sind jetzt die Orignale?«

Wie zur Beantwortung dieser Frage ertönte das Bellen Stops plötzlich aus weniger als dreihundert Toisen Entfernung. Ohne weiter ein Wort zu wechseln, eilten die beiden Jäger in der durch die Stimme des Hundes angedeuteten Richtung hin.[361]

Vorsicht und Klugheit kamen bei ihnen nicht mehr zu Worte. Summy Skim und Neluto liefen wieder, daß ihnen der Atem ausging.

Das konnte sie sehr weit fortführen. Die Richtung nach Nordwesten war es nicht, die sie einhielten. Die Orignals liefen jetzt vielmehr nach Südwesten, hinter ihnen der sie hitzig verfolgende Stop und hinter Stop dessen vielleicht noch hitzigere Herren, die dem Golden Mount jetzt ohne Bedenken den Rücken zukehrten.

Allgemach begann die Sonne sich dem westlichen Horizonte zuzuneigen; wenn die Jäger ihrem Versprechen gemäß um sechs Uhr noch nicht zurück waren, so würden sie doch um sieben oder um acht Uhr, also noch lange vor der nächtlichen Dunkelheit, im Lager eintreffen.

Summy Skim und Neluto gaben sich freilich dieser Überlegung nicht erst hin. Sie liefen, was die Füße sie tragen konnten, ohne an etwas andres zu denken, und sogar ohne den Versuch, ihren Hund zu rufen.

Über die verflossene Zeit hatten sie jedes Urteil verloren; Müdigkeit fühlten sie nicht mehr.

Summy Skim dachte gar nicht mehr daran, wo er sich befände. Er jagte auf dem Gebiete des äußersten Nordens ganz, wie er in der Umgebung von Montreal gejagt hätte.

Ein- oder zweimal glaubten Neluto und er schon, einen Erfolg in der Hand zu haben. Über den Gebüschen, kaum fünfhundert Schritt von ihnen, waren mehrmals Geweihenden sichtbar gewesen. Die gewandten Tiere waren aber bald verschwunden und es bot sich keine Gelegenheit, einen sichern Schuß auf sie abzugeben.

Mehrere Stunden gingen mit dieser vergeblichen Verfolgung hin und aus dem schwächer hörbaren Gebell Stops ließ sich schließen, daß die Orignals wieder einen gewissen Vorsprung gewonnen hätten. Endlich hörte das Bellen ganz auf, mochte nun der Hund zu entfernt oder vom Laufen auch selbst so erschöpft sein, daß er keinen Laut mehr von sich geben konnte.

Summy Skim und Neluto machten Halt. Sie waren am Ende ihrer Kräfte und sanken wie willenlose Massen zusammen. Jetzt war die vierte Nachmittagsstunde herangekommen.

»Schluß nun,« sagte Summy, als er wieder imstande war, zu sprechen.

Neluto bewegte den Kopf als Zeichen der Zustimmung.

»Wo sind wir eigentlich?« fuhr Summy fort.[362]

Der Indianer machte eine Geste, daß er das nicht wüßte. und blickte rings umher.

Die beiden Jäger befanden sich am Rande einer größern Lichtung, durch die sich ein Rio hinschlängelte, der im Südwesten jedenfalls in einen der Nebenflüsse des Porcupine River ausmündete. Die Sonne leuchtete hell. Auf der andern Seite der Waldblöße standen die Bäume wieder so dicht beieinander, als wollten sie jeden Durchgang verwehren.

»Wir müssen nun aufbrechen, sagte Summy Skim.

– Wohl nach dem Lager? antwortete Neluto, der sich recht zerschlagen fühlte.

– Natürlich! rief Summy. Was sollten wir anders tun?

– Dann also vorwärts!« sagte der Indianer, der sich mühsam erhob und sich anschickte, längs der Lichtung hinzugehen.

Kaum hatte er aber zehn Schritte gemacht, als er, den Blick auf den Boden geheftet, stehen blieb.

»Sehen Sie hier, Herr Skim, sagte er.

– Was denn? fragte Summy verwundert.

– Feuer, Herr Skim.

– Wie... Feuer?

– Es ist wenigstens welches hier gewesen.«

Näher tretend, sah Summy Skim wirklich ein Häuschen Asche, das der Indianer unbeweglich und nachdenklich anstarrte.

»Hier im Walde halten sich also Jäger auf? fragte Summy.

– Jäger?... Ja, oder andre,« antwortete Neluto.

Summy hatte sich niedergebeugt. Er betrachtete aufmerksam die verdächtige Asche.

»Von gestern rührt sie jedenfalls nicht her,« bemerkte er, sich aufrichtend.

Die weiße, von der Feuchtigkeit halb zusammengebackne Asche mußte offenbar schon seit längerer Zeit hier liegen.

»So scheint es, gab Neluto zu. Doch da ist etwas, was uns weitre Aufklärung geben wird.«

Wenige Schritte von dem verlassnen Feuerherde hatte das forschende Auge des Indianers zwischen dem Gras einen glänzenden Gegenstand hervorschimmern sehen. Er ging schnell dahin, bückte sich und hob das Fundstück mit einem Ausrufe der Verwunderung auf.[363]

Es war ein Dolch mit flacher, messerartiger Klinge und kupfernem Griffe.

Nachdem er ihn näher besichtigt hatte, äußerte Neluto:

»Kann man auch nicht sagen, wie lange es her ist, daß hier ein Feuer brannte, so läßt sich doch behaupten, daß der Dolch nicht länger als zehn Tage an dieser Stelle gelegen hat.

– Ja, stimmte Summy Skim dem zu. Die Klinge ist noch recht glänzend und hat nur einen ganz schwachen Anhauch von Rost. Die Waffe ist also erst in jüngster Zeit hier ins Gras gefallen.«

Der Dolch, den Neluto von allen Seiten betrachtete, war, wie er sicher erkannte, von spanischer Arbeit. Auf der Klinge war der Buchstabe M eingraviert und auf dem Griffe der Name Austin, der der Hauptstadt von Texas.

»Danach müssen also, erklärte Summy Skim, Fremde vor wenigen Tagen vielleicht vor wenigen Stunden, auf dieser Lichtung gelagert haben.

– Und Indianer sind das nicht gewesen, bemerkte Neluto, denn die besitzen Waffen dieser Art nicht.«

Summy blickte voller Unruhe umher.

»Wer weiß, sagte er, ob die Leute nicht auf dem Wege nach dem Golden Mount sind?«

Diese Vermutung hatte ja etwas für sich und wenn der Mann, dem die gefundne Navaja gehörte, Mitglied einer zahlreichern Gesellschaft war, so drohte Ben Raddle und seinen Gefährten eine nicht geringe Gefahr. Vielleicht streifte dieser Trupp schon jetzt in der Gegend der Mackensiemündungen umher.

»Wir wollen aufbrechen, sagte Summy Skim.

– Ja... augenblicklich, antwortete Neluto.

– Doch unser Hund!« bemerkte noch Summy.

Der Indianer rief diesen mit lauter Stimme nach allen Seiten. Sein Ruf wurde aber wohl nicht gehört, denn Stop blieb noch immer verschwunden.

Jetzt war von einer Jagd auf Orignale nicht mehr die Rede, es galt vielmehr, so schnell wie möglich zum Lager zurückzukehren, um die Karawane aufzufordern, daß sie sich zur Verteidigung bereit hielte.

»Vorwärts also, ohne eine Minute zu verlieren!« trieb Summy Skim.

In demselben Augenblick krachte ein Gewehrschuß höchstens dreihundert Schritt von der Waldblöße.[364]

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 352-365.
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