Sechzehntes Kapitel.
Das leere Haus.

[224] In fünf Minuten hatten Serge Ladko und Karl Dragoch die Häuser erreicht.

Rustschuk hatte trotz seines umfänglichen Handels und starken Verkehrs noch keine öffentliche Beleuchtung, und es wäre den beiden, wenn sie es geplant hätten, schwer geworden, sich von der unregelmäßig um einen sehr großen Landungs- und Ladeplatz gruppierten Stadt, mit den vielen schmutzigen, als Schankstätten oder Niederlagen benützten Lokalen an diesem Platze, eine Vorstellung zu machen... Daran dachten die beiden Nachtwandler auch nicht. Der erste ging mit vor sich hinstarrenden Augen schnell dahin, als würde er von einem in der Finsternis aufglänzenden Ziele angezogen. Der zweite widmete dem Piloten eine so ungeteilte Aufmerksamkeit, daß er gar nicht zwei Männer bemerkte, die gerade aus einer Seitengasse herauskamen, als er diese kreuzte.

Auf dem am Strom hinführenden Wege angekommen, trennten sich die beiden, von denen der eine nach rechts, stromabwärts hin weiterging.

»Gute Nacht, sagte er bulgarisch.

– Gute Nacht«, antwortete der andre, der, sich links wendend, in Karl Dragochs Fußtapfen trat.

Beim Klange dieser Stimme erzitterte der Polizist ein wenig. Eine Sekunde zauderte er, hielt unwillkürlich den Atem an, gab aber dann seine Verfolgung auf und blieb, sich umwendend, plötzlich stehen.


Er sah weder das Eiserne Tor... (S. 220.)
Er sah weder das Eiserne Tor... (S. 220.)

Ein Polizist, der das Streben hat, nicht auf den untern Stufen der Amtsleiter stehen zu bleiben, braucht eine ganze Menge natürlicher oderangelernter besondrer Eigenschaften. Die allerwertvollste darunter ist ein untrügliches Erinnerungsvermögen des Auges und des Ohres.

Dessen konnte sich Karl Dragoch im höchsten Maße rühmen. Seine Seh- und Hörnerven bildeten richtige Registrierapparate, und ihre Licht- oder Toneindrücke vergaß er nie, wie viel Zeit auch darüber vergehen mochte.

Nach Monaten, nach Jahren erkannte er ein nur flüchtig gesehenes Gesicht wieder, und ebenso die Stimme, die einmal sein Trommelfell hatte erzittern lassen.

Das war gerade der Fall mit den Lauten, die er eben vernommen hatte, und augenblicklich bedurfte es keiner langen Zeit, bis er deren Besitzer gegenüberstand, um sich gegen jeden möglichen Irrtum zu sichern. Diese Stimme, die in der Waldblöße am Fuße des Pilis sein Ohr getroffen hatte, wurde für ihn jetzt zum lange vergeblich gesuchten Leitfaden. So scharfsinnig seine Vermutung bezüglich seines Reisegenossen auch sein mochte, waren es im Grunde doch nur Hypothesen. Die Stimme dagegen gab ihm Gewißheit. Zwischen dem Wahrscheinlichen und Gewissen konnte kein langer Zweifel bestehen, und so gab denn der Detektiv seine erste Verfolgung auf und ging einer andern Spur nach.

»Guten Abend, Titscha«, sagte er deutsch, als der Mann in seine Nähe gekommen war.

Der blieb stehen und bemühte sich, in der dunkeln Nacht etwas zu erkennen.

»Wer grüßt mich da? fragte er.

– Ich, antwortete Dragoch.

– Wer ist der Ich?

– Max Raynold.

– Kenne ich nicht.

– Doch ich kenne euch, sonst hätt' ich euch doch nicht beim Namen rufen können.

– Das ist ja richtig, mußte Titscha einräumen. Da müßt ihr aber auch verdammt gute Augen haben.

– Ja, die sind vortrefflich.«

Das Gespräch wurde einen Augenblick unterbrochen.

»Was wollt ihr denn von mir? nahm Titscha wieder das Wort.[227]

– Euch sprechen, erwiderte Dragoch, euch noch und einen andern. Ich bin nur deshalb in Rustschuk.

– Ihr seid also nicht von hier?

– Nein; ich bin heute erst eingetroffen.

– Da habt ihr euch ja einen sehr netten Augenblick ausgewählt«, erwiderte Titscha höhnisch, der damit offenbar auf die jetzt in Bulgarien herrschende Anarchie anspielte.

Dragoch gab zu erkennen, daß das ihn nichts an gehe.

»Ich bin aus Gran«, sagte er dann.

Titscha schwieg still.

»Ihr kennt Gran wohl nicht? begann Dragoch wieder.

– Nein.

– Das ist merkwürdig, da ihr doch so nahe dabei wart.

– So nahe? wiederholte Titscha. Woher wollt ihr wissen, daß ich so nahe bei Gran gewesen wäre?

– Nun... Sapperment! sagte Karl Dragoch lachend, das liegt doch nicht weit von der Hagenauschen Villa.«

Jetzt war die Reihe zu erzittern an Titscha; er versuchte jedoch, sich durch Frechheit zu helfen.

»Die Hagenausche Villa? stammelte er mit einem Ton, der heiter und ruhig klingen sollte. Euch mag das bekannt sein, Kamerad; mir nicht.

– Wirklich nicht? fragte Karl Dragoch ironisch, und die Waldblöße beim Pilis, die kennt ihr wohl auch nicht?«

Titscha trat schnell noch näher und ergriff sein Gegenüber am Arme.

»Nicht so laut!« flüsterte er, ohne diesmal seine Erregung zu verbergen. Ihr seid wohl toll, so zu schreien.

– Es ist ja kein Mensch hier, wendete Dragoch ein.

– Das kann man niemals wissen, meinte Titscha und setzte noch fragend hinzu: Na, heraus mit der Sprache! Was wollt ihr eigentlich von mir?

– Ich?... Mit Ladko sprechen«, antwortete Dragoch, ohne die Stimme zu schwächen.

Titscha versuchte nochmals, ihn zum leisern Sprechen zu veranlassen.

»Still, still! rief er gedämpften Tones, während er einen ängstlichen Blick umherwarf. Ihr habt wohl drauf geschworen, uns hier abfassen zu lassen?«[228]

Karl Dragoch lachte.

»Ach was, sagte er, wie sollen wir uns denn miteinander verständigen wenn wir stumm bleiben sollen!

– Übrigens, knurrte Titscha ärgerlich, schickt sich's gar nicht, die Leute mitten in der Nacht zu überfallen ohne, Achtung!. zu rufen. Es gibt Dinge, die man auf offner Straße lieber nicht erwähnt.

– Ich bestehe nicht darauf, mit euch auf der Straße zu verhandeln, erwiderte Dragoch. Wir wollen also weitergehen.

– Ja... wohin denn?

– Das ist ja gleichgültig. Gibt's hier denn keine Schenke in der Nähe?

– O doch, nur ein paar Schritte von hier.

– Dann wollen wir dahin gehen.

– Meinetwegen, stimmte Titscha zu. Also folgt mir.«

Fünfzig Meter weiterhin kamen die beiden Männer nach einem kleinen Platze. Vor ihnen schimmerte noch ein schwach erleuchtetes Fenster durch die Nacht.

»Da sind wir zur Stelle«, sagte Titscha.

Durch die offne Tür gingen sie in demselben Flur nach dem leeren Gastzimmer eines Cafés, worin wohl ein Dutzend Tische standen.

»Hier werden wir la ungestört sein,« sagte Dragoch.

Eben trat der Schenkwirt an die unerwarteten, späten Gäste heran.

»Was trinken wir denn?... Die Zeche bezahle ich, begann der Detektiv, indem er auf seine Hosentasche klopfte.

– Ein Glas Raki? schlug Titscha vor.

– Gut, also Raki. Und etwas Genever dazu. Ihr habt doch nichts dagegen?

– Auch gut, der Genever«, stimmte Titscha ein.

Karl Dragoch wandte sich dem der Bestellung gewärtigen Wirte zu.

»Sie haben's ja wohl gehört, Freundchen? Nun her damit, doch etwas schnell!«

Während der Wirt eiligst davonging, maß Dragoch den andern prüfend mit den Augen. Da sah er dessen breite Schultern, seinen Stiernacken und eine schmale, von dichten grauen Haaren eingerahmte Stirn, kurz, einen richtigen Jahrmarktsathleten, ein wirkliches Tier, das ihm da gegenübersaß.[229]

Sobald die Flaschen und die Gläser aufgetragen waren, knüpfte Titscha seine Worte wieder an das draußen abgebrochene Gespräch an.

»Ihr saget, ich wäre euch bekannt?

– Zweifelt ihr etwa daran?

– Und ihr kennt auch die Geschichte von Gran?

– Natürlich. Dabei sind wir ja zusammen tätig gewesen

– Das ist nicht möglich!

– Es ist aber doch so.

– Na, das versteh' ich nicht, murmelte Titscha, der sich zu erinnern suchte. Wir waren doch nur unser acht!

– O nein, unterbrach ihn Dragoch; nicht acht, sondern mit mir neun.

– Ihr hättet damals mit Hand angelegt? fragte Titscha, der noch nicht recht überzeugt war, nochmals.

– Das will ich meinen! In der Villa, wie auf der Waldblöße. Ich war es ja, der den Wagen fortgebracht hat.

– Mit Vogel?

– Ja freilich, mit Vogel!«

Titscha sann einen Augenblick nach.

»Das kann nicht zutreffen, wandte er gegen diese Angabe ein. Damals ist Kaiserlick mit Vogel zusammen weggefahren.

– Nein, ich, wiederholte Dragoch, ohne sich beirren zu lassen. Kaiserlick war mit euch andern zurückgeblieben.

– Das wißt ihr sicher?

– Gewiß sicher«, erklärte Dragoch.

Titscha wußte nicht recht, woran er war; durch Intelligenz zeichnete sich der Bandit überhaupt nicht aus. Ohne zu merken, daß er dem angeblichen Max Raynold die beiden Genossen Kaiserlick und Vogel selbst verriet, betrachtete er es als einen Beweis, daß dieser deren Namen kannte.

»Ein Gläschen Genever? schlug Dragoch vor.

– Das wäre nicht zu verachten«, meinte Titscha.

Er leerte das kleine Glas auf einen Zug aus.

»Hm, merkwürdig, murmelte er halb bekehrt. Das ist doch zum ersten Male, daß wir bei unsern Geschäften einen Fremden zu Hilfe gezogen haben.[230]

– Ja, das ist wohl möglich. Alles muß doch auch einen Anfang haben. Nun werd' ich, da ich in die Bande aufgenommen worden bin, schon kein Fremder mehr sein.

– In welche Bande denn?

– Na, na, Kamerad, Finten sind hier überflüssig. Ich sage euch, die Sache ist abgemacht.

– Was ist abgemacht?

– Daß ich mich euch anschließe.

– Und abgemacht mit wem?

– Nun, doch mit Ladko.

– Den Mund halten! unterbrach ihn Titscha streng. Ich hab' euch doch gesagt, daß ihr diesen Namen nicht nennen sollt.

– Nicht auf der Straße, wendete Dragoch ein. Doch hier?

– Hier wie anderswo! Natürlich in der ganzen Stadt nicht.

– Warum denn?« fragte Dragoch, begierig, noch mehr zu erfahren.

Titscha hegte jedoch noch immer etwas Mißtrauen.

»Wenn man euch nach diesem Namen fragt, antwortete er, so sagt ihr einfach, ihr kenntet ihn nicht. Ihr wißt ja schon so manches, doch lange noch nicht alles, das merke ich, und einen alten Fuchs wie mich werdet ihr nicht an der Nase herumführen können!«

Titscha täuschte sich; er war nicht der Mann dazu, mit einem Gegner wie Dragoch zu streiten. Der alte Fuchs hatte seinen Meister gefunden. Nüchternheit war nicht Titschas Haupteigenschaft, und sobald der Detektiv das bemerkt hatte, sagte er sich, daß er aus diesem Fehler am Panzer seines Gegners Nutzen ziehen müsse... Seine wiederholten Angebote von Getränken begegneten bei dem Banditen nur einer schwächlichen Ablehnung. Auf Gläser mit Genever folgten solche mit Raki, und umgekehrt. Schon machte sich die Wirkung des Alkohols bemerkbar.

Titschas Augen wurden gläsern, seine Zunge schwer, sein bißchen Klugheit noch vermindert. Jedermann weiß aber, daß man in der Trunkenheit auf schiefer Ebene wandelt: je mehr man seinen Durst stillt, desto mehr muß man trinken.

»Ihr sagtet doch, fuhr Titscha mit etwas lallender Stimme fort, daß die Sache mit dem Chef abgemacht wäre?

– Natürlich... abgemacht, erklärte Dragoch.[231]

– Das hat er gut gemacht, der Chef, versicherte Titscha, der sein Gegenüber in der Trunkenheit zu dutzen anfing. Wahrlich, du siehst wie ein richtiger guter Kamerad aus!

– Das wirst du schon noch sehen, antwortete Dragoch, auf das vertrauliche Du eingehend.

– Ja, ja... doch eines: sehen wirst du ihn nicht... den Chef.

– Nicht sehen! Warum denn nicht?«

Statt zu antworten griff Titscha nach der Rakiflasche und schenkte sich gleich nacheinander zweimal ein. Als er ausgetrunken hatte, stammelte er dann mit heiserer Stimme:

»Fortgereist... der... Chef.

– Er ist nicht in Rustschuk? fragte Dragoch etwas enttäuscht weiter.

– Nein... nicht mehr.

– Nicht mehr?... Er war also hierhergekommen?

– Ja wohl... glaube... vor vier Tagen.

– Und jetzt?

– Jetzt schwimmt er... auf... der Schule... ja... hinunter... nach dem Meere.

– Wann könnte er wohl wieder hier sein?

– So... in vierzehn Tagen.

– Vierzehn Tage warten! Nun ja, das ist eben mein Glück! rief Dragoch.

– Du... du hast wohl... so große Eile... in die Gesellschaft... ein... zutreten? fragte Titscha mit rohem Lachen.

– Donnerwetter! stieß Dragoch hervor. Ich bin Bauer, und bei der Geschichte bei Gran hab ich in einer Nacht mehr eingeheimst, als wenn ich mich ein ganzes Jahr mit Feldarbeiten abquäle.

– Aha... das hat... dir geschmeckt!« meinte Titscha, laut auflachend.

Dragoch tat, als ob er erst jetzt bemerkte, daß das Glas des andern leer war, und beeilte sich, es wieder zu füllen.

»Du trinkst ja aber gar nicht, Kamerad, redete er ihm zu. Auf deine Gesundheit!

– Auf deine Gesundheit!« wiederholte Titscha und stürzte das volle Glas hinunter.[232]

Die Ernte an erhaltenen Mitteilungen war für den Detektiv recht reichlich ausgefallen.


 »Na, na, Kamerad, Finten sind hier überflüssig.« (S. 231.)
»Na, na, Kamerad, Finten sind hier überflüssig.« (S. 231.)

Er wußte jetzt, wie viel wirkliche Mitglieder die Donaubande zählte: nach Titschas Angabe, acht, er kannte ferner die Namen von drei andern, mit Einschluß des Anführers, dessen nächstes Ziel, das Meer, wo jedenfalls ein Schiff mit der Beute beladen werden sollte, und endlich den Ausgangspunkt seiner Hand streiche, nämlich Rustschuk. Wenn Ladko nach vierzehn Tagen hierher zurückkehrte, würden dann alle Maßregeln getroffen sein, ihn auf der Stelle zu verhaften, wenn es nicht[233] etwa gelang, ihn schon an der Donaumündung dingfest zu machen. So mancher Punkt war jedoch immer noch dunkel. Karl Dragoch glaubte, es würde ihm unter Benützung der Trunkenheit seines Gegenübers möglich sein, wenigstens einen davon aufzuhellen.

»Warum in aller Welt, fragte er mehr hingeworfen nach kurzem Schweigen, wolltest du vorhin nicht, daß ich den Namen Ladko ausspräche?«

Offenbar ganz benebelt, sah Titscha seinen Gefährten unsichern Blickes an und streckte ihm in einem Ausbruche plötzlicher Zärtlichkeit die Hand entgegen.

»Ich werde es dir sagen, stammelte er, denn du bist mein Freund... du...

– Gewiß, versicherte Dragoch, indem er die Hand des Trunknen ergriff.

– Bist... mein Bruderherz!

– Ja wohl.

– Ein Teufelskerl, mit dem sich ein Pferd stehlen läßt.

– Das versteht sich.«

Titscha suchte mit den Augen nach den Flaschen.

»Noch ein... ein Schlückchen... Genever? schlug er vor.

– Es ist leider keiner mehr da«, antwortete Dragoch.

Überzeugt, daß sein Gegner genug hatte, und befürchtend, daß er hier, zu schwer betrunken, noch niederstürzen könnte, goß der Detektiv noch aus mehreren Flaschen den Rest ihres Inhaltes einfach aus. Das paßte Titscha aber doch nicht, der, als er hörte, daß kein Genever mehr da sei, ein ganz verzweifeltes Gesicht schnitt.

»Dann wenigstens Raki? bettelte er.

– Hier, gab Dragoch nach und stellte eine Flasche, die noch einige Tropfen des Likörs enthielt, auf den Tisch. Aber Achtung, Kamerad, wir dürfen uns nicht betrinken.

– Ich? protestierte Titscha, während er sich, was noch in der Flasche war, zulegte, ich... ich möchte, ich, daß ich... das nicht... könnte.

– Wir sprachen vorhin von Ladko, ließ Dragoch fallen, indem er geduldig seinen gewundenen Weg zum Ziele wieder einschlug.

– Ladko? wiederholte Titscha, ohne zu wissen, um was es sich handelte.[234]

– Ja, warum soll man den nicht nennen?«

Titscha lachte trunken.

»Das geht... dir... wohl recht... im Kopfe herum, mein... Söhnchen! Weil Ladko... eigentlich... ja ja... Striga... auszusprechen ist.

– Striga? wiederholte Dragoch der die letzten Worte nicht recht verstand. Warum denn Striga?

– Nun, zum Teufel... weil er so heißt... das... liebe Kind. Und auch du... du heißt... ja, sapperment, wie heißest du gleich?

– Raynold.

– Richtig... Raynold. Na also: ich nenne dich Rain... hold, und... und er nennt sich Striga,... das... ist doch... klar.

– Doch bei Gran, wandte Dragoch noch ein.

– Ah... bei Gran... ja, bei Gran, da war er... Ladko. In... in... Rustschuk... aber... da heißt er... Striga.«

Dazu blinzelte er wie verschmitzt mit den Augen.

»Du... begreifst... wohl, so... so sieht... und hört keiner... etwas Richtiges... von ihm.«

Daß ein Verbrecher sich einen falschen Namen zulegt, wenn er seine Untaten begeht, kann einen Polizisten ja nicht wundernehmen. Warum hatte der Betreffende aber hier den Namen Ladko gewählt, denselben Namen, der unter dem in der Jolle gefundenen Bilde stand?

»Es existiert aber doch ein gewisser Ladko rief Dragoch dem allerlei Gedanken durch den Kopf schossen.

– Ja freilich, gab Titscha zu, das... das ist ja... das beste... bei der... Geschichte.

– Wer und was ist denn dieser Ladko?

– Ein richtiger Hundsfott! polterte Titscha hervor.

– So?... Was hat er dir denn getan?

– Mir?... Ach... mir... gar nichts... aber... unserm... Striga.

– Nun, was hat er denn Striga getan?

– Er hat ihm die Frau... die schöne Natscha... vor der... Nase wegstibietzt.«

Natscha! Das war derselbe Vorname, der auf dem Bilde stand. Dragoch wußte nun, daß er auf der richtigen Fährte war, und aufmerksam[235] hörte er dem stammelnden Titscha zu, der, ohne aufgefordert zu sein, weiter erzählte.

»Seitdem... kannst dir's... wohl denken... sind die beiden... nicht gut Freund... mit einander. Darum hat... Stri... ga auch seinen Namen... angenommen. Ja... das ist... ein... ein Hauptkerl, der... Striga!

– Aus dem allen, nahm Dragoch das Wort, sehe ich nur nicht ein, warum man den Namen Ladko nicht aussprechen soll.

– Weil... ja... weil sich das einfach... nicht gehört, stieß Titscha hervor. In Gran und... an andern Orten, da weißt... du... ja, wen er bezeichnet. Hier ist es... der... eines Piloten... der sich... gegen die Regierung... aufgelehnt hat. Da hat er sich auch in eine Verschwörung eingelassen... der Dummkopf. Und... ganz Rustschuk... steckt doch... voller Türken.

– Was ist denn aus ihm geworden?« fragte Dragoch.

Titscha zuckte mit den Achseln.

»Verschwunden ist er, antwortete er. Striga... sagt... er wäre... tot.

– Tot?

– Muß wohl... so sein, da... Striga jetzt... die Frau... hier hat.

– Welche Frau?

– Eben die... schöne Natscha... Erst den Namen... dann... die Frau. Zufrieden... ist das... das Täubchen... freilich nicht. Striga... na ja... der hält sie... aber auf seiner Schute... fest.«

Jetzt wurde Dragoch alles klar. Nicht mit einem gemeinen Verbrecher war er so viele Tage zusammengewesen, sondern mit einem verbannten Patrioten. Wie groß mußte jetzt der Schmerz des Unglücklichen sein, der, mit so vieler Beschwerde einmal heimlich zurückgekehrt, sein Haus leer fand!... Er mußte ihm helfen; die Donaubande, über die Dragoch jetzt ja genügend unterrichtet war, würde er schon in kürzester Zeit unschädlich zu machen wissen.

»Es ist warm hier, stöhnte er und stellte sich, als ob er ebenfalls zu viel getrunken hätte.

– Sehr warm, stimmte Titscha ein.

– Das macht der Raki«, stotterte jetzt Dragoch.

Titscha schlug mit der Faust auf den Tisch.[236]

»Du kannst auch nicht viel vertragen, Kind! scherzte er mit schwerer Zunge. Sieh... da... mich an, ich könnte... gleich... wieder von vorn... anfangen.

– Ich kann da nicht mittun, gestand Dragoch.

– Zartes Püppchen! spöttelte Titscha. Doch meinetwegen, wir wollen gehen, wenn du denn nicht anders kannst.«

Der Wirt wurde herbeigerufen und bezahlt, dann begaben sich die beiden Männer ins Freie hinaus. Der Luftwechsel schien auf Titscha nicht günstig zu wirken; der taumelte bedenklich. Dragoch fürchtete, etwas zu weit gegangen zu sein.

»Sag' einmal, begann er und zeigte stromabwärts, jener Ladko?...

– Welcher Ladko?

– Der Pilot. Der wohnte doch wohl da unten?

– Nein.«

Dragoch drehte sich nach der Stadtseite um.

»Aber da?

– Auch nicht.

– Dann aber dort? fragte Dragoch, indem er dabei stromauf wies.

– Ja, dort«, stammelte Titscha.

Der Detektiv zog seinen Gefährten mit sich fort, der sich schwankend führen ließ und im Gehen unzusammenhängende Worte murmelte, bis er nach fünf Minuten Weges plötzlich stehen blieb und sich straff aufzurichten versuchte.

»Oho, was sagte denn da Striga, daß Ladko tot wäre? stotterte er.

– Nun, was denn?

– Der ist nicht tot; er hat ja jemand bei sich.«

Titscha wies in der Entfernung von wenigen Schritten auf dünne Lichtstrahlen hin, die durch den Laden eines Fensters drangen und einen Schein auf den Weg warfen. Dragoch lief auf das Fenster zu und durch einen Sprung im Laden blickten Titscha und er in das Häuschen hinein. Da sahen sie zunächst einen mäßig großen, doch recht gut möblierten Raum. Eine auffallende Unordnung der Möbel und die dicke Staubschicht, die sie bedeckte, legten die Vermutung nahe, daß das jedenfalls schon lange verlassene Zimmer der Schauplatz eines heftigen Auftritts gewesen war. In der Mitte stand ein großer Tisch, auf den sich ein Mann aufstützte,[237] der scheinbar in tiefes Nachdenken versunken war. Die in seinen dicken, jetzt fast ungeordneten Haaren versteckten Finger verrieten deutlich die schmerzhafte Erregung seines Innern. Den Augen des Mannes entrannen große Tränen.

Wie von ihm erwartet, erkannte Karl Dragoch hier sofort seinen Reisegefährten wieder. Doch nicht er allein erkannte den verzweifelten Träumer.

»Das ist er!... murmelte Titscha, der sich nach Kräften bemühte, über seine Trunkenheit Herr zu werden.

– Wer?

– Ladko!«

Titscha strich sich mit der Hand übers Gesicht, und es gelang ihm, sich etwas zu fassen.

»Er ist doch nicht tot, der Bube, knirschte er zwischen den Zähnen. Doch, das ist vielleicht noch besser. Die Türken werden mir für seine Haut mehr bezahlen, als sie wert ist... Striga wird schon damit zufrieden sein. Geh' nicht vom Flecke, Kamerad, sagte er, an Karl Dragoch gewendet. Sobald er heraustritt, schlage ihn nieder. Kannst ja nötigenfalls um Hilfe rufen; ich werde unterdessen die Polizei benachrichtigen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Titscha eiligen Schrittes fort. Jetzt schwankte er kaum noch herüber und hinüber. Die Erregung hatte ihm das Gleichgewicht wieder verliehen.

Sobald er sich allein sah, betrat Dragoch das Haus.

Serge Ladko machte keine Bewegung. Karl Dragoch legte ihm die Hand auf die Schulter.

Der Unglückliche erhob den Kopf, doch seine Gedanken waren abwesend und sein irrer Blick zeigte, daß er seinen Passagier nicht erkannte. Dieser sprach nur ein einziges Wort aus:

»Natscha!«

Serge Ladko schnellte empor; seine flammenden Augen waren fragend auf die Karl Dragochs gerichtet.

»Folgt mir, sagte der Detektiv, aber schnell, schnell!«[238]

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 224-225,227-239.
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