Vierzehntes Kapitel.
Der Aviso ›Santa-Fé‹.

[179] Wie die Aufregung schildern, deren Schauplatz jetzt der Hintergrund der Bucht wurde! Der Ruf »der Aviso... der Aviso!« hatte wie ein Blitzstrahl eingeschlagen, wie ein Todesurteil über die Rotte von elenden Schurken. Die ›Santa-Fé‹, das war die unbestechliche Gerechtigkeit, die nach der Insel kam,[179] die drohende Bestrafung für so viele Verbrechen, der die Buben nun nicht mehr entgehen konnten.

Aber hatte sich Carcante nicht schließlich doch getäuscht? War das Schiff, das da herandampfte, wirklich der Aviso von der argentinischen Flotte? Sollte es wirklich in die Elgorbucht einfahren oder nicht vielmehr nach der Le Mairestraße oder nach der Severalspitze steuern, um einem Kurse südlich um die Insel zu folgen?

Sobald Kongre den Alarmruf Carcantes gehört hatte, erstieg er eiligst die kleine Erhöhung nach dem Standplatze des Leuchtturmes, stürmte dessen Treppe hinauf und befand sich nach weniger als fünf Minuten auf der Galerie.

»Wo ist das Schiff? fragte er.

– Dort... dort im Nordnordosten.

– Wie weit entfernt?

– Etwa noch zehn Seemeilen von hier.

– Es kann also vor dem Dunkelwerden wohl kaum am Eingange der Bucht sein?

– Nein... schwerlich!«

Kongre hatte ein Fernrohr ergriffen. Ohne ein Wort zu äußern, beobachtete er das Schiff mit gespannter Aufmerksamkeit.

Eins war unzweifelhaft, daß man es hier mit einem Dampfer zu tun hatte, denn man sah deutlich den in dichten Wirbeln hervorquellenden Rauch, ein Zeichen, daß das Kesselfeuer kräftig unterhalten wurde.

Daß dieser Dampfer aber wirklich der Aviso wäre, darüber konnten sich Kongre und Carcante kaum einen Augenblick unklar sein. Hatten sie dieses Schiff doch während der Bauarbeiten oft genug gesehen, wenn es bei der Stateninsel eintraf oder von ihr wegfuhr. Überdies steuerte der Dampfer gerades Wegs auf die Bucht zu. Hätte sein Kapitän beabsichtigt, in die Le Mairestraße einzulaufen, so hätte er einen mehr westlichen Kurs einschlagen müssen, oder einen mehr südlichen für den Fall, daß er die Severalspitze umschiffen wollte.

»Ja, sagte Kongre endlich, das ist bestimmt der Aviso!

– Verdammtes Pech, das uns bis heute hier zurückgehalten hat! wetterte Carcante wütend. Ohne die unsichtbaren Schurken, die unsre Abfahrt zweimal verhindert haben, schwämmen wir jetzt schon weit draußen auf dem Großen Ozean![180]

– Da nützt nun freilich alles Reden nicht mehr, erwiderte Kongre. Hier heißt es, zu einem Entschlusse kommen.

– Recht schön... doch zu welchem?

– Abzufahren.

– Wann denn?

– Auf der Stelle.

– Doch bevor wir nur einigermaßen weit weg sind, wird der Aviso vor der Bucht liegen.

– Mag sein; doch er wird auch davor liegen bleiben.

– Warum denn?

– Weil er kein Leuchtturmfeuer sehen und sich danach richten kann; er wird es aber nicht wagen, im Finstern dem Landeinschnitte zuzudampfen.«

Die Vermutung, die Kongre hier aussprach, war ja ganz richtig; auch John Davis und Vasquez waren derselben Ansicht. Sie wollten aber von der Stelle, wo sie sich befanden, nicht weggehen, so lange sie von der Galerie aus noch gesehen werden konnten. In ihrem engen Schlupfwinkel sprachen sie jedoch dieselben Gedanken aus, wie der Anführer der Räuberbande. Das Leuchtfeuer des Turmes hätte jetzt, wo die Sonne eben untergegangen war, schon angezündet sein müssen. Ohne daß er diesen Lichtschein sah, würde es der Kommandant Lafayate, obwohl er die Formation der Insel gewiß hinlänglich kannte, kaum gewagt haben, seine Fahrt vorläufig fortzusetzen. Und da er sich das Ausbleiben des Lichtes doch nicht würde erklären können, kreuzte er voraussichtlich die ganze Nacht auf freiem Wasser. Freilich war er schon zehnmal in die Elgorbucht eingefahren, doch immer nur am Tage, und da ihm jetzt der Leuchtturm als leitendes Seezeichen fehlte, wagte er sich jedenfalls nicht in die finstre Bucht hinein. Außerdem mußte ihm doch wohl der Gedanke kommen, daß die Insel der Schauplatz ernster Vorfälle gewesen sein müsse, da die Turmwärter nicht auf ihrem Posten waren.

»Wenn der Kommandant nun aber, sagte Vasquez, das Land vor sich überhaupt noch nicht gesehen hat, und in der Erwartung, das Leuchtfeuer in Sicht zu bekommen, weiter fährt, kann ihm da nicht dasselbe geschehen, was der ›Century‹ widerfahren ist? Läuft er nicht Gefahr, an den Klippen des Kaps Sankt-Johann zugrunde zu gehen?«

John Davis antwortete nur durch eine ausweichende Handbewegung. Es war nur zu richtig, daß alles so kommen könnte, wie Vasquez es ausgesprochen[181] hatte. Gewiß herrschte jetzt kein Sturm, und die ›Santa Fé‹ befand sich deshalb nicht ganz in derselben Lage, wie seinerzeit die ›Century‹. Wenn es das Unglück wollte, war eine Katastrophe aber immerhin nicht ausgeschlossen.

»Wir wollen schnell nach dem Ufer hinuntergehen. Binnen zwei Stunden können wir schon am Kap sein. Vielleicht ist es da noch Zeit genug, ein Feuer zu entzünden, um die Nähe des Landes erkennbar zu machen.

– Nein, entgegnete John Davis, dazu ist es zu spät. Vor Verlauf einer Stunde liegt der Aviso vielleicht schon an der Einfahrt zur Bucht.

– Was sollen wir dann aber beginnen?

– Warten... ruhig warten!« antwortete John Davis.

Es war jetzt weit über sechs Uhr, und die Insel verschwand schon allmählich in der Dämmerung.

Die Vorbereitungen zur Abfahrt waren auf der ›Carcante‹ inzwischen mit größtem Eifer betrieben worden. Kongre wollte um jeden Preis von hier wegzukommen versuchen. Von quälender Unruhe verzehrt, war er entschlossen, den Ankerplatz unverzüglich zu verlassen. Geschah das erst mit dem Gezeitenwechsel am Morgen, so setzte er sich der Gefahr aus, dem Aviso in den Weg zu kommen. Wenn der Kommandant das Schiff aber aus der Bucht herauskommen sah, würde er es jedenfalls nicht weiterfahren lassen, sondern ihm befehlen, gegenzubrassen, und dann würde er dessen Kapitän ausfragen. Ohne Zweifel suchte er dabei zu erfahren, warum das Leuchtfeuer in der Laterne des Turmes nicht angezündet wäre. Die Anwesenheit der ›Carcante‹ mußte ihm ja mit Recht verdächtig erscheinen. Hatte er die Goelette dann zum Halten veranlaßt, so würde er zu ihr an Bord gehen, hier Kongre kommen lassen und auch dessen Mannschaft besichtigen. Da mußte ihm aber schon das wilde Aussehen der Leute den begründetsten Verdacht erwecken. Daraufhin zwang er das Schiff voraussichtlich. umzukehren und ihm zu folgen, und dann würde er es gewiß bis zur weitern Klärung der Sachlage in dem kleinen Landeinschnitte zurückgehalten haben.

Fand der Kommandant der ›Santa-Fé‹ nun die drei Turmwärter hier nicht wieder, so konnte er sich deren Verschwinden jedenfalls nicht anders als durch einen unvermuteten Angriff erklären, dem sie zum Opfer gefallen sein mußten. Und führte ihn das dann nicht auf den Gedanken, daß die Angreifer die Leute des Schiffes gewesen sein möchten, das hier allem Anscheine nach zu entfliehen sachte? Endlich kam hierzu noch eine weitre Erschwerung der Sachlage.[182]

So gut wie Kongre und seine Bande die ›Santa-Fé‹ draußen vor der Insel gesehen hatten, mußte man als wahrscheinlich, ja als gewiß annehmen, daß auch die sie bemerkt hätten, die die ›Carcante‹ zweimal angegriffen hatten, als sie schon im Begriff war abzusegeln. Jene unbekannten Feinde waren sicherlich allen Bewegungen des Avisos gefolgt, sie würden bei dessen Einlaufen in den Landeinschnitt zur Stelle sein, und wenn sich darunter, wie doch anzunehmen war, der dritte Turmwärter befand, so konnten sich Kongre und die Seinigen der Strafe für ihre Verbrechen auf keine Weise mehr entziehen.

Kongre hatte alle diese Möglichkeiten und deren unausweichliche Folgen ins Auge gefaßt. Das hatte ihn auch zu dem einzigen, vielleicht noch Rettung versprechenden Entschlusse gebracht, ohne Säumen abzufahren, und da der von Norden kommende Wind günstig war, die Nacht zu benutzen, um mit vollen Segeln womöglich noch das offne Meer zu erreichen. Dann konnte die Goelette, wenn sie den Ozean vor sich hatte, noch vor dem Tagesgrauen mehr in Sicherheit sein. Bei der Unmöglichkeit, den Leuchtturm zu sichten, befand sich der Aviso, der sich in der Dunkelheit dem Lande voraussichtlich nicht zu sehr nähern wollte, von der Stateninsel auch ziemlich weit entfernt. Wenn nötig, wollte dann Kongre zu noch größrer Sicherheit statt nach der Le Mairestraße zu steuern, einen Kurs nach Süden einschlagen, die Severalspitze umschiffen lassen und sich dann hinter der Südküste verborgen zu halten suchen. Er drängte also zum schleunigsten Aufbruch.

John Davis und Vasquez, die die Absicht der Räuber errieten, beratschlagten, wie sie diese zum Scheitern bringen könnten, erkannten aber bald voller Verzweiflung, daß sie das gar nicht vermöchten.

Gegen halb acht Uhr ließ Carcante die wenigen noch auf dem Lande weilenden Leute heranrufen. Sobald die Mannschaft vollzählig an Bord war, wurde das Boot aufgehißt, und Kongre gab den Befehl, den Anker emporzuwinden.

John Davis und Vasquez hörten den regelmäßigen Aufschlag des Sperrkegels, während sich die Kette durch die Drehung des Spills einrollte.

Nach fünf Minuten lag der Anker auf seinem Kranbalken. Sofort setzte sich die Goelette langsam in Bewegung. Sie trug jetzt alle Leinwand, die obern und die untern Segel, um die allmählich abflauende Brise so gut wie möglich auszunutzen. Sanft wiegend glitt sie aus dem Landeinschnitte heraus und hielt sich, um mehr Wind abzufangen, möglichst in der Mitte der Bucht. Bald boten sich ihrer Fahrt jedoch gewisse Schwierigkeiten. Da es schon bald Niedrigwasser[183] war, wurde die Goelette von keiner Strömung mehr unterstützt, und bei dem dreiviertel Backstagswind kam sie kaum noch vorwärts. Ja sie gewann an Weg jedenfalls gar nichts mehr, oder glitt vielleicht gar wieder etwas rückwärts, wenn – nach zwei Stunden – die Flut einsetzte. Selbst unter sonst noch so günstigen Umständen, konnte sie vor Mitternacht nicht dem Kap Sankt-Johann gegenüber angelangt sein.

Das machte indes nicht viel aus. So lange die ›Santa-Fé‹ nicht in die Bucht hereindampfte, brauchte Kongre kein Zusammentreffen mit ihr zu befürchten. Ehe dann die nächste Ebbe bei Tagesanbruch eintrat, durfte er hoffen, schon ziemlich weit draußen zu sein.

Die Mannschaft tat ihr Möglichstes, die Fahrt der ›Carcante‹ zu beschleunigen, sie war aber wehrlos gegen die recht ernste Gefahr, aus dem Kurse verschlagen zu werden. Nach und nach trieb der Wind das Fahrzeug näher an das südliche Ufer. Kongre kannte das zwar nur unzulänglich, wußte aber, daß es mit dem langen Streifen von Felsblöcken, der sich davor hinzog, sehr gefährlicher Natur war. Eine Stunde nach der Abfahrt glaubte er auch, ihm so bedenklich nahe zu sein, daß er vor dem Winde wenden ließ, um sich davon fern zu halten.

Die Kursänderung war bei dem in der Nacht noch weiter abnehmenden Winde nicht ohne Mühe auszuführen.

Das Manöver gestattete jedoch keinen Aufschub. Das Steuer wurde umgelegt, die Schoten im Hinterdeck spannte man weiter an und ließ gleichzeitig die am Vorderdeck nachschießen Wegen Mangel an Fahrt luvte die Goelette aber trotzdem nicht an, sondern trieb langsam weiter auf das Ufer zu.

Kongre erkannte die vorliegende Gefahr, der gegenüber ihm nur noch ein einziges Mittel übrig blieb, das er denn auch zur Anwendung brachte. Das Boot wurde hinuntergelassen, sechs Mann, die eine Trosse mitnahmen, stiegen hinein, und mit Hilfe von Rudern gelang es ihnen, die Goelette zu drehen, die nun Steuerbordhalfen führte. Eine Viertelstunde später konnte sie ihren ersten Kurs wieder aufnehmen, ohne die Gefahr, auf die Klippen am Südufer geworfen zu werden.

Unglücklicherweise machte sich jetzt fast gar kein Wind mehr bemerkbar; die Segel klatschten unregelmäßig an die Masten. Es wäre ein vergeblicher Versuch gewesen, die ›Carcante‹ vom Boote bis zur Mündung der Bucht schleppen zu lassen. Da war nun nichts andres zu tun, als während der Flut, deren[184] Strömung schon fühlbar wurde, vor Anker liegen zu bleiben. An ein Aufkommen gegen diese war gar nicht zu denken. Sollte Kongre nun wirklich gezwungen sein, hier an der Stelle, nur zwei Seemeilen vom Landeinschnitte, still zu liegen?

Gleich nach der Abfahrt hatten John Davis und Vasquez sich erhoben; sie gingen zum Ufer hinunter und beobachteten von hier aus die Bewegungen der Goelette. Da der Wind jetzt gänzlich eingeschlafen war, sagten sie sich, daß Kongre genötigt wäre, an der Stelle, wo er lag, so lange auszuhalten, bis[185] wieder Ebbe eintrat. Dabei blieb ihm aber noch immer Zeit, den Eingang zur Bucht zu erreichen, ehe es Tag wurde, und er hatte dann die beste Aussicht, unbemerkt zu entkommen.


Sie wollten sich an deren Geländer emporziehen... (S. 189.)
Sie wollten sich an deren Geländer emporziehen... (S. 189.)

»Nein... wir halten ihn zurück! rief Vasquez plötzlich.

– Doch wie? fragte John Davis.

– Kommt... kommt nur mit mir!«

Vasquez zog seinen Gefährten schnell in der Richtung auf den Leuchtturm mit sich fort.

Seiner Ansicht nach mußte die ›Santa-Fé‹ vor der Insel kreuzen. Sie konnte dieser sogar ziemlich nahe sein, was bei dem ruhigen Meere ja keine besondere Gefahr bot. Ohne Zweifel hielt sich der Kommandant Lafayate, der über das Erloschensein des Leuchtturms gewiß erstaunt war, stets unter Dampf, um mit Tagesanbruch zum Einlaufen bereit zu sein.

Dieser Gedanke kam Kongre zwar auch, er sagte sich aber, daß er doch die besten Aussichten hätte, den Aviso noch rechtzeitig aufzuspüren. Sobald die Ebbe das Wasser der Bucht wieder dem Meere zuführte, sollte die ›Carcante‹ ihre Fahrt wieder aufnehmen, und dann genügte jedenfalls eine Stunde, aufs offne Meer zu kommen.

Hatte er die Bucht hinter sich, so wollte Kongre auf keinen Fall weit hinausfahren. Ihm würden die kurzen Windstöße genügen, die sich von Zeit zu Zeit, selbst in den stillsten Nächten, zu erheben pflegen, in Verbindung mit der nach Süden abziehenden Strömung, in der sehr dunkeln Nacht ungesehen – und unbestraft – längs der Küste hinzusegeln. Sobald die Goelette die höchstens sieben bis acht Seemeilen entfernte Severalspitze umschifft hätte, würde sie hinter dem Steilufer geschützt sein und nichts mehr zu fürchten haben. Die einzige Gefahr lag nur darin, von den Wachtposten der ›Santa-Fé‹ vorher bemerkt zu wer den, wenn das Kriegsschiff sich nahe bei der Insel und nicht auf der Höhe des Kaps Sankt-Johann befand. Ganz sicher würde der Kommandant Lafayate, wenn die Ausfahrt der ›Carcante‹ aus der Bucht gemeldet wurde, diese sich nicht weiter entfernen lassen, und wäre es auch nur, um ihren Kapitän wegen des Leuchtturms zu befragen. Mit Hilfe des Dampfes hätte er das etwa fliehende Fahrzeug leicht eher eingeholt, als das hinter den Höhen des Südens verschwinden konnte.

Es war jetzt neun Uhr vorüber. Kongre mußte sich darauf beschränken, dem Flutstrom gegenüber so lange vor Anker zu liegen, bis die Ebbe wieder[186] fühlbar wurde. Das dauerte aber gegen sechs Stunden; erst um drei Uhr des Morgens konnte wieder eine ihm günstige Strömung eintreten. Die Goelette schweite (d. h. drehte auf) vor der Flut, so daß ihr Vordersteven nach dem offnen Meere zu lag. Das Boot war wieder aufgehißt worden. Kongre wollte, wenn die Zeit dazu herankam, keinen Augenblick verlieren, weiter zu fahren.

Plötzlich stießen seine Leute einen so lauten Aufschrei aus, daß er an beiden Ufern hörbar sein mußte.

Ein langer Lichtstreifen brach glänzend durch die Finsternis, das Feuer des Leuchtturms brannte so hell wie je zuvor und beleuchtete auch noch das Wasser vor der Insel.

»O, die Schurken!... Sie sind da oben! rief Carcante.

– Schnell ans Land!« kommandierte Kongre.

Der so nahe liegenden Gefahr, die ihn jetzt bedrohte, konnte er in der Tat nur auf eine Weise entgegentreten: ans Land gehen, hieß sie, nur eine kleine Anzahl der Männer an Bord zurücklassen, nach der Einfriedigung stürmen, in den Anbau eindringen, die Treppe des Turmes ersteigen, den Eingang in die Wachtstube erzwingen, sich auf den Wärter und auf seine Gefährten, wenn er solche hatte, stürzen, sich ihrer entledigen und die Lampen des Turms sofort löschen. War der Aviso dann auch schon auf dem Wege in die Bucht, so würde er jedenfalls stoppen. Befand er sich bereits darin, so würde er wahrscheinlich wieder hinauszugelangen suchen, da ihm dann das Licht gefehlt hätte, ihn nach dem Landeinschnitte zu leiten. Schlimmsten Falls würde er vor Anker gehen und so den Tag abwarten.

Kongre ließ das Boot klar machen. Carcante und zwölf von den Leuten nahmen mit ihm darin Platz. Alle hatten sich mit Gewehren, Revolvern und großen Messern versehen. Binnen einer Minute waren sie ans Ufer gestoßen und stürmten sofort auf die kaum anderthalb Seemeilen entfernte Einfriedigung zu.

Die Strecke bis dahin wurde in fünfzehn Minuten zurückgelegt, wobei sich alle dicht beieinander gehalten hatten. Die ganze Rotte befand sich – abgesehen von den an Bord zurückgebliebenen zwei Männern – vereint am Fuße des Erdhügels.

Ja... John Davis und Vasquez waren da. Im Laufschritt, und jede Vorsicht aus den Augen lassend, da ihnen ja niemand begegnen konnte, hatten sie die Erhöhung erstiegen und waren in die Einfriedigung eingedrungen. Vasquez beabsichtigte, das Leuchtturmfeuer wieder anzuzünden, damit der Aviso,[187] ohne den Tag abwarten zu müssen, in den Landeinschnitt einlaufen könnte. Er hegte nur die eine Furcht – eine Furcht, die nagend an ihm zehrte – daß Kongre die Linsen zertrümmert, die Lampen zerstört haben könnte, so daß der Leuchtapparat nicht mehr zu fungieren vermöchte. Dann würde die Goelette freilich aller Wahrscheinlichkeit nach noch entfliehen können, ohne auf der ›Santa-Fé‹ bemerkt worden zu sein.

Beide Männer stürzten in das Wohnhaus, drangen in den Verbindungsgang ein und stießen die Tür zur Treppe auf, die sie hinter sich schlossen und mit den schweren eisernen Riegeln sicherten. Dann eilten sie die vielen Stufen hinauf und erreichten das Wachtzimmer...

Die Laterne war im guten Zustande, die Lampen befanden sich an ihrem Platze und hatten auch noch die Dochte und reichlichen Ölvorrat seit dem Tage, wo sie ausgelöscht worden waren. Nein... Kongre hatte den dioptrischen Apparat der Laterne nicht zertrümmert, sondern offenbar nur beabsichtigt, den Leuchtturm so lange außer Tätigkeit zu setzen, wie er sich im Hintergrunde der Elgorbucht aufhielt. Wie hätte er auch die Verhältnisse voraussehen können, unter denen er genötigt sein würde, die Bucht zu verlassen?

Jetzt strahlte aber der Turm sein Licht von neuem hinaus! Der Aviso konnte ohne Mühe und Gefahr seinen alten Ankerplatz wieder aufsuchen.

Da donnerten gewaltsame Schläge am Fuße des Turmes. Die ganze Rotte drängte sich gegen die Tür, um nach der Galerie hinauszueilen und die Lampen zu löschen. Alle setzten unbesorgt ihr Leben aufs Spiel, um die Ankunft der ›Santa-Fé‹ wenigstens zu verzögern. Innerhalb der Einfriedigung und im Wohnhause hatten sie niemand gefunden. Die, die sich oben im Wachtzimmer befanden, konnten unmöglich zahlreich sein, mit ihnen würden sie leicht fertig werden. Sie wollten sie töten, und dann strahlte der Turm diese Nacht sein verderbenbringendes Licht nicht weiter aus.

Die Tür zwischen der Treppe und dem Verbindungsgange bestand, wie früher erwähnt, aus dicken Eisenplatten. Die Riegel an der Treppenseite mit Gewalt zu beseitigen, erwies sich von vornherein als unmöglich; ebenso unmöglich, die Tür mit Spaten oder Axtschlägen zu zertrümmern. Carcante versuchte das zwar, sah aber bald ein, daß es vergeblich war. Nach einigen nutzlosen Versuchen schloß er sich Kongre und den Übrigen im Leuchtturmhose wieder an. Was nun beginnen?... Gab es kein Mittel, von außen nach der Laterne des Leuchtturms zu gelangen?... Wenn sich kein solcher Ausweg fand,[188] blieb der Räuberrotte nichts übrig, als nach dem Innern der Insel zu entfliehen, um dem Kommandanten Lafayate und seiner Mannschaft nicht in die Hände zu fallen. An Bord der Goelette zurückzukehren, wäre ja augenblicklich ganz nutzlos gewesen, und dazu fehlte es obendrein an Zeit. Kein Zweifel, daß der Aviso jetzt bereits in der Bucht war und auf den Landeinschnitt zudampfte.

War der Leuchtturm im Gegenteil nach einigen Minuten wieder gelöscht, so würde die ›Santa-Fé‹ ihre Fahrt nicht allein nicht weiter fortsetzen können, sondern auch vielleicht gezwungen sein, wieder zurückzusteuern, und dann konnte es der Goelette wohl gelingen, an ihr vorbeizukommen.

Nun... ein Mittel gab es wirklich, nach der Galerie zu gelangen.

»Der Strang des Blitzableiters!« rief Kongre.

In der Tat verlief längs des Turmes ein metallischer Strang, der in Abständen von drei zu drei Fuß von eisernen Krampen gehalten wurde. Kletterte man von einer solchen zur andern hinauf, so mußte es jeden falls möglich sein, die Galerie zu erreichen und vielleicht die zu überraschen, die sich in der Wachtstube aufhielten.

Kongre wollte dieses letzte Rettungsmittel erproben; Carcante und Vargas kamen ihm aber dabei zuvor. Beide erstiegen den Anbau des Turmes, packten das Metallseil und klommen einer hinter dem andern in die Höhe, überzeugt, daß sie bei der herrschenden Finsternis nicht zu früh bemerkt werden würden.

Endlich erreichten sie die Brüstung der Galerie und wollten sich an deren Geländer emporziehen... sie brauchten sich fast nur noch darüber zu schwingen...

In diesem Augenblicke krachten zwei Revolverschüsse...

John Davis und Vasquez standen zur Verteidigung bereit.

In den Kopf getroffen, ließen die Banditen die Geländerstäbe los und lagen nach wenigen Sekunden zerschmettert auf dem Dache des Wohnhauses.

Da ertönten schrille Pfiffe in der Nähe des Leuchtturms. Der Aviso war im Landeinschnitte eingetroffen und weithin schallten die ohrzerreißenden Töne seiner Dampfpfeife.

Jetzt war es die höchste Zeit, zu entfliehen. In wenigen Minuten mußte die ›Santa-Fé‹ an ihrer gewohnten Ankerstelle liegen.

Kongre und seine Gefährten sprangen, als sie einsahen, daß hier nichts mehr zu tun sei, den Erdhügel hinunter und retteten sich ins Innere der Insel.[189]

Als der Kommandant eine Viertelstunde später seinen Anker in den Grund senken ließ, traf die wiedergefundene Wärterschaluppe nach wenigen Ruderschlägen an der Seite des Kriegsschiffs ein.

John Davis und Vasquez waren an Bord des Avisos.

Quelle:
Jules Verne: Der Leuchtturm am Ende der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1906, S. 179-190.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Leuchtturm am Ende der Welt
Der Leuchtturm am Ende der Welt
Der Leuchtturm am Ende der Welt

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon