Das Pantheon

[91] Oft in der Mitternächte Schweigen

Pfleg' ich mit leisem Geistertritt

Das Kapitol herabzusteigen,

Und schnell beflügelt sich mein Schritt,

Die dunkeln Wege wandl' ich schnelle,

Die nur die tiefste Sehnsucht kennt,

Wo selten noch ein Lichtchen helle

Vorm Bild der Mutter Gottes brennt.


Da hör' ich durch die düstre Stille,

In der so gern die Trauer sinnt,

Wie schon des Brunnens kühle Fülle

Ins Marmorbecken niederrinnt,

Und plötzlich – als erstünd' es eben,

Ein hoher Geist, vom Grab empor –

O Götter Roms, ihr habt mein Leben!

Taucht's herrlich aus der Nacht hervor.


O wie mit namenlosem Schauer

Hängt Herz und Auge da an dir,

Und wie voll schwermuthsvoller Trauer,

Voll heil'gem Ernst erscheinst du mir,

Du Stolz der Vorwelt und der Ahnen,

Du Riesenkind voll Majestät,

Von Völkerstürmen und Orkanen

Fast zwei Jahrtausende umweht,
[91]

Das sich, der dunkeln Macht der Horen,

Dem Schicksal seines Roms zum Spott,

Zum großen Liebling auserkoren

Dein alter heil'ger Donnergott,

Mein Tempel, und mein höchstes Sehnen

Der zarten Kindersehnsucht schon,

Du Opferschaale meiner Thränen,

Nun meine Braut, o Pantheon!


Mir ist, es sei dir zugeschworen,

Als wärest du mein größ'res Herz

Zur kühnen Schöpfung ausgeboren,

All mein Gesang mit seinem Schmerz,

Zum hohen Marmorbild geründet,

Der Götter Herrlichstem geweiht,

Auf ew'gen Säulen fest gegründet,

Und sein Altar Unsterblichkeit.


Der Wand'rer sieht mit sel'gen Blicken

Roms Forum in der Abendgluth,

Wo unter mächt'gen Tempelstücken

Der breitgehörnte Stier nun ruht,

Und sanft umblüht von frischem Grüne,

Durchstrahlt von Gold und Himmelblau,

Der Vorwelt furchtbarste Ruine,

Des Colosseums Riesenbau.


Doch flücht ich stets aus diesem Grause

Erinnrungsvoller Einsamkeit

Mich wieder zu dem Götterhause,

Wo eingehüllt in Dunkelheit,

Von tiefem Schatten nur gehoben,

Die stolze Säulenhalle blickt,

Und über seiner Wölbung oben

Mich nur ein einz'ger Stern entzückt.
[92]

Von Tasso's Eiche seh' ich gerne1

Hinab, wo sich, gewaltig Rom,

Vom Tempel der Minerva ferne

Hinan bis zu Sankt Petri Dom

Dein ungeheures Bild entfaltet,

Und über grüner Pinien Pracht,

So unaussprechlich schön gestaltet,

Sabina's Duftgebirge lacht!


Doch stillt mein Sehnen all und Hoffen,

Agrippa, nur dein Tempelrund,

Denn gastfrei allen Göttern offen,

Mit allen Himmlischen im Bund,

Ist ihm das ernste Herz willkommen,

Das für die alten Götter fühlt,

Und jetzt, ach nur zu oft beklommen

In deiner Nacht die Flamme kühlt.

Fußnoten

1 Eine große immergrüne Eiche am Abhange des Mons Janiculus gegen Norden nennt man die des Tasso; er soll unter ihr gestorben sein, und ist in der Kirche St. Onofrio begraben. Eines der erhabensten Panoramen lockt den Dichter oft hinauf.


Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien, Band 1: Lieder des Römischen Karnevals und andere Gedichte, Leipzig 1893/1895, S. 91-93.
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