Phaethon an Theodor

[56] Ach, das fühl' ich wohl: ich gedeihe nicht unter diesem Himmel. Hinüber möcht' ich, wo der schöne Lorbeer wie eine heilige Priesterbinde die besonnten Hügel deckt, hinüber, wo der Mandelbaum die Silberblüten wie Flocken Schnees zum blauen Äther sendet, wo sich die Tränenweide traurig an den Ufern in spiegelklare Wasser senkt wie das nasse Aug' in die Tiefen der Vergangenheit, hinüber, wo die volle Frucht der Trauben so schwellend an der Sonne Liebesfülle glüht, wo die Natur in ihrem stillen Geist aus tausend Blumen, tausend Quellen hold wie der Säugling aus der Wiege lächelt, hinüber, wo die Menschen um die warme Erde sich wie Pflanzen schlingen, wo die Natur gleich schön ist, wenn sie durch die sanften Gründe den Bach wie holde Silberstreifen zieht, wie wenn sie aus den hohen Riesenfelsen, wo nur des Adlers kühner Fittich rauscht, die dunkeln Schauer ihres Geistes weht, wie wenn sie hohe schneeumhüllte Gipfel der alten Berge mit dem Rot der Abendsonne wie eines Greisen Haupt mit Rosen überwebt, O hinüber, hinüber! All mein Sehnen, all mein Schmerz würde enden.

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Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 56-57.
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