Phaethon an Theodor

[159] Nun, lieber Theodor, ist alles anders. Katon hat sich uns entdeckt. Atalanta ist mein. Aber nur Dir darf ich das Geheimnis anvertrauen.

Gestern Abend trat Katon zu uns herein und hatte die geliebte Tochter an der Hand. Er gab mir seine andere. Ich folgte schweigend. Ich ahnte, was er wollte. Er ging mit uns auf sein Mausoleum zu. Wir schlüpften durch die Rosenhecken und standen vor der Sphinx. Er schloß die Tür auf. Atalanta bebte und schmiegte sich furchtsam an den Vater. Nacht umgab uns. Wir stiegen eine enge Wendeltreppe hinab und gelangten auf den ebenen Boden. Lichter brannten wieder auf den drei Kandelabern. Der schwarze Sarkophag war mit weißen Rosen umkränzt. Mir schlug das Herz; doch wagt' ich nicht es zu gestehen, daß ich schon einmal hier war.

Mein Schicksal will ich Euch enthüllen, Kinder! sagte Katon freundlichernst und setzte sich oben an das Haupt des Sarkophages. Zu beiden Seiten saßen wir auf schwarzen blumenüberhangenen Stühlen. Hört, sprach er endlich, aber unterbrecht mich nie![160]

Darauf begann er:

Ich bin ein Nachkomme der alten Spartaner und ward geboren in einem der Täler des Taygetos. Mein Vater war ein wilder Maniate. Die Freiheit liebt' er wie die andern rauhen Männer in den Schluchten des Gebirges und verteidigte sie kühn im Kampfe mit dem Pascha.

Von Jugend auf ward ich gewöhnt, die Waffen zu führen. Schon als Knabe kniet' ich mit den großen Hunden an den lohen Feuern, wenn sie brannten durch die schwarze Nacht, den Muselmann von unserm Dorf zu schrecken. Meine Mutter war mir früh gestorben, und bald fiel auch mein Vater im Gefecht. So war ich allein auf der Welt.

Ich kam nach Misitra. Hier ward mein Geist genährt mit den Riesenbildern des alten Sparta. Die Vorwelt stieg wie ein Schatten aus den Gräbern. Ich ward mit ihr befreundet und fühlte meinen Busen anschwellen von großen erhabenen Entwürfen.

Mein Mausoleum ist ein Bild des Hauses, worin ich wohnte. Es hob sich dunkel aus Platanen und Orangen wie ein alter schauriger Geist aus der jungen blumenvollen Erde. Doch mir war es immer zu eng im Hause. Hinaus trieb's mich mit ungestümer Kraft, wo ich die große Natur in ihrer Fülle sah und die mütterliche Erde, und weinend dankt' ich oft meinem Gotte, daß er mich werden ließ in Griechenland.

Die Spiele meiner Kindheit waren die Spiele der alten griechischen Jugend. Um die Zeit, als der erste Flaum noch um mein Kinn blühte, war ich[161] immer Sieger im Wettlauf und beneidete die Älteren, die schon den Diskos werfen oder den Gegner im Ringen zu Boden werfen konnten. Auf meinen wilden Sinn wirkte bei den Tänzen wenig die Hymne, wenn die Leier erklang am Fest und die baskische Trommel; aber da glühte meine Brust, wenn im pyrrichischen Tanz die Männer wie starke Löwen mit den Waffen einander entgegenschritten.

Oft saß ich bei Nacht, wann der Mond am Himmel schwebte, allein unter den Trümmern der persischen Säule oder am dunkeln Gemäuer des alten Tempels der Venus Armata oder auf den steinernen Sitzen des Dromos und dachte an die Zeit, wo die Väter noch wandelten in diesen Räumen und der ernste eiserne Sinn sich bildete, der mich in düstern Schauern anwehte aus den finstern nächtlichen Gestalten.

Die Gegenwart verschwand vorm Heldenglanze der Vergangenheit. Ich wiegte mich in Träumen wie die Biene in Blumenkelchen und war gesund an Geist und Körper.

Da sprach aus meinem Innern eine Stimme. Sie hieß mich mein Vaterland durchwandeln. Allein mußt' ich gehen. Meine Geliebten waren ja tot. Ich nahm Abschied von meinen angebeteten Trümmern, von den Lorbeerufern des Basilipotamo und wandelte von Misitra. Damals war ich siebzehn Jahre alt.

Ich kannte den Menschen noch nicht. Ich liebte bloß den Griechen und haßte den Türken.

Meinen Weg wandt' ich auf Arkadien zu. Bald umfingen mich die Täler des schönen Hirtenlandes.[162] Ich streifte tagelang durch die rauhen waldbewachsenen Gebirge, wo ungeheure Felsenklüfte wechseln mit wild emporstarrendem Geklipp, und um die kahlen Riesenstirnen nur einsam Moos und Farnkraut sich rankt. Dann stieg ich wieder hinab in die grünen lachenden Tale.

Da setzt' ich mich dann auf ein altes Säulenstück am Abend, wenn zarte volle Wölkchen sich im glühendreinen Gold des Himmels badeten, und sah, wie die Bienen um duftende Blumen, um Lorbeer und Myrte schwebten, und die raschen mutigen Rosse an den lachenden Ufern des klaren Flusses sprangen. Dann flog mein trunkener Blick hinweg über die fetten Gründe mit ihren Platanen und Maulbeerbäumen und irrte um dunkelgrüne Hügel, wo die weißen Schafe hüpften und ihren Quendel und Thymian suchten. Und weiter hinaus schweifte mein Auge, wo auf den breiten Höhen Tannen, Fichten und Therebinthen ihre unermeßlichen Wälder bildeten, und überhundertjährige Eichenstämme die Felsen ihre grauen Häupter türmten, und blieb endlich stehn auf dem hohen Pholoë, der über den grünen Tälern mit seinem ehrwürdigen, in den schneegewobenen Schleier gehüllten Haupte dastand wie auf der jungen beblümten Wiese der Priester des Sonnengottes.

Dann dacht' ich an die schönen Zeiten, wo der fromme dankbare Mensch alles, was um ihn war, Wälder und Fluren, Quellen und Flüsse, Täler und Berge mit dem Geist einer Gottheit belebte, wo die Nymphen, die heitern Töchter der Natur, durch[163] Blumen und Fluren irrten, in jedem Baume eine Dryas webte, über dem klaren spiegelnden Wasser der volle Busen einer Göttin schwoll, und der muntere Pan Gebirg und Wald mit seinem Flötenklang erfüllte. Da schwebte das ganze Gewimmel der alten Götter an mir vorüber, und ich sah sie um mich wirken und lächeln als die Kräfte der heiligen wirkenden Natur.

Ich wandelte durch die Ebene Mantineias und suchte das Grab des Epameinondas. Nie vergeß' ich diesen Morgen. Die Sonne war eben aufgestiegen und schien in ihrem wandellosen Licht herab auf die Erde. Das ewige Spiel der Zerstörung und Umwandlung! Ich wand mich durch das Rosmaringesträuch, das um die Gräber meiner Väter sich wob wie der Blumenkranz um das Haupt eines abgeschiedenen Greisen, und irrte trauernd durch die Ruinen und las die Inschriften auf dem alten Gestein. Dann setzt' ich mich nieder. Frisch blinkte der Tau auf den Blättern im Glanze der Sonne, die durch Lorbeer und Oliven ihre zitternden Strahlen auf mich warf und mit warmem Kusse mir um die Wangen spielte. Über den Rebenhügeln lag vor mir der Mänale mit seinen Fichten, der Artemisios und der waldige Parthenios standen zur Seite, und in weiter Ferne dämmerten wie ein Traum, im rötlichen Morgenduft verschwimmend, die weißen schneeumwobenen Riesenstirnen des Taygetos. Da kniet' ich nieder auf die geweihte Erde und betete die Sonne an und schwur in Tränen bei den Geistern meiner Ahnen, würdig[164] zu werden ihrer erhabenen Heldengröße und zu sterben, wenn die Zeit kommt, für mein unterdrücktes Vaterland.

Nun ging ich durch die Haide von Tegea, wo traurig um die ungeheuren Trümmer der gelbe Grashalm wankt, und bald lag das verarmte Korinth vor mir, dem hohen, von zwei Meeren bespülten Geranion die Füße küssend.

Umsonst suchte mein Auge die Tempel der Freude, wo einst die schöne Jugend der Macht der Aphrodite ihre Opfer brachte, und die Hetären, mild wie ihr sanfter Himmel, im Arm der Wollust in tausend schwelgenden Genüssen die Triebe freier Männer wiegten. Einst war's der Sitz der Schönheit, Kunst und Freude. Der Reichtum warf seine Fülle wie Apfelblüten über diese jugendliche Stadt. Jetzt hatte die Armut die gefallenen Brüder gebleicht wie zu Schatten und Gespenstern. Alles, was die Menschen gebaut und geordnet, ist verschwunden. Wie ein Fremdling klimmt der späte Nachkomme um die Trümmer seiner Väter; und doch lächelt der Himmel noch so rein wie vordem, und das Meer rauscht ewig in seinen Ufern, und die Berge schauen ewig jung über die verwandelte Erde.

Von Korinth schifft' ich nach Athen. Dort saß ich tagelang auf der Höhe der Akropolis und sah durch die grauen Säulen und die jungen Lorbeere hinüber zum bienenreichen Hymettos. Ich wandelt' an den verlassenen Ufern des Ilyssos und des getrockneten Kephissos – und durfte mir nicht sagen: Auch du bist ein Grieche![165]

Nun kam ich durch das alte Böotien, durchwandelte die Wälder und Haiden des dürren Ätoliens, weinte über die Raubhorden der Schluchten von Manina und goß meine Tränen in den alten weißen Acheloos. Wie eine Furie trieb mich der Geist des alten Hellas durch die Länder. Eine wilde Unruhe jagte mich über die Berge, und mein Volk stand in seiner ganzen Niedrigkeit vor meiner Seele. Ich schifft' ab von Öniadä, stieg zu Dyma ans Land und wandelt' ins schöne Elis. Kinder, da ward vollendet das Bild! Wildverwobenes Gesträuch, Säulenstümpfe, Mauerstücke, zerbrochne Basreliefs, Schilder, Trophäen bedeckten das Tal von Olympia. Der Alpheios wälzte sich wie eine blaue Schlange mit kühner Windung durch die Ebene, wo nur der Tod und die Zerstörung wehten, die Wölfe des Pholoe und des Erymanthos in der Wildnis hausen, und nur hie und da ein einsamer Mann in der schweigenden Gegend gräbt, dem Boden seine Schätze abzugewinnen.

Mein Leben war ein Schmerz geworden. Ich versank in Schwermut wie der Mond in Wolken, und die Freiheit war mir zu einem fernen verschwebenden Luftbild geworden.

Die Donner, die wilden Vorboten des Winters, erschollen am Himmel, und ich war wieder in Arkadien.

Die Blumen der Tale waren gestorben wie meine seligen Träume. Ich suchte sie vergebens. Der Schnee umhüllte die Erde wie die Silberlocken das Haupt eines Greises, und die hochstämmigen breitästigen Eichen standen da wie die Geister ihrer Frühlingsblüten. Das[166] Pentedaktylon glänzte mit seinen Schneehäuptern wie eine milchweiße Wolke im blauen Äther.

Da half ich nun den armen Brüdern die unbändigen Wölfe verscheuchen von den Dörfern, wenn sie herunterkamen in heulenden Scharen von den Waldgeklüften des Lykeios, und des Abends saß ich am Herde, wärmte mich an der Flamme und horchte träumend den Märchen von Sylphen zu, die der Aberglaube von Mund zu Mund geleitet.

Der Frühling kehrte wieder. Das Veilchen blickte wie der bescheidene Wunsch unsers Innern aus dem Schnee. Die Fluren wurden frei, und die Störche kamen wieder von Libyens Gestaden und bauten ihre Nester auf alte Mauern, auf hohe Säulenkapitäle. Es grünten und blühten Platanen, Feigen und Maulbeerbäume. In meine Seele kehrte kein Frühling.

Da wandelt' ich wieder am königlichen Eurotas und sah die Schwäne ziehen in seinem blauen Gewässer im Schatten des Lorbeers. Die Burg von Sparta lag vor meinem Auge. Von den weißen Höhen des Taygetos rollten donnernd die Schneelawinen in die Täler.

Ein alter Mann mit langem Barte saß am Ufer unter einer jähen Felswand. Er schien in tiefe Gedanken versunken.

Ich wünscht' ihm einen guten Abend. Er schaute auf. Ich sah aus langen grauen Locken ein altes ehrwürdiges Gesicht mit hoher freier Stirne, mit feurigem Auge, voll edler Würde blicken. Ein tiefer Gram schwebte wie der Schatten einer Wolke um seinen Mund.[167]

Er schaute mich lange unbeweglich an und schien sich zu erfreuen an meinem Wesen. Dann fragt' er mich: Wer bist Du?

Ich antwortete mit kühnem Stolz: Ein Grieche!

Der Alte stutzte. Woher kommst Du?

Von den Ruinen meiner Väter!

Was suchst Du hier?

Einen Spartaner!

Wo bist du geboren?

Zu Sparta!

Das Antlitz des Greises verklärte sich wie die grauen Bergesscheitel, wann die Wolken über sie hinwegwandeln und die Sonne sie heiter beleuchtet.

Dann sagt' er: Und wenn Du einen Spartaner findest, Jüngling mit dem Feuerauge?

O, dann will ich an die Brust ihn pressen und den Bruderkuß ihm auf die Lippen drücken und mit ihm beweinen mein Vaterland!

Das Antlitz des Alten trübte sich. Er sagte: Beweinen nur?

Nein! rief ich mit Leidenschaft. Leben und kämpfen für mein Vaterland, daß es emporsteigt aus den Trümmern wie die Morgensonne und noch einmal wie sie die Riesenbahn durchwandelt! Aber ach, ich werde keinen finden. Die Spartaner liegen im Grabe.

Jüngling, Du hast einen gefunden, rief der Greis mit Entzücken und sprang empor und schloß mich in die Arme.

Ehrwürdiger Vater, erwidert' ich, aus seinen Armen mich befreiend, Deine Haare sind grau. Bald wirst[168] Du ins Grab steigen wie Deine Väter. Es braucht Jugend und Kraft, die Ketten zu lösen von unsern Brüdern.

Fahre Du fort, wo ich begonnen, rief er aus, und pflege Du, was ich gepflanzt! Du wirst Dich um mich schlingen wie der junge Efeu um den alten Eichenstamm, und wir wollen Arm in Arm dahinschweben über die Lande wie Engel des Weltgerichts, daß die Völker sich emporheben wie frische Akazien über den Gräbern und die Heldenbrust schwellen fühlen vom Donnerworte: Freiheit!

Ich staunte ob der Begeisterung des Alten. Ich glaubte, es sei ein Geist, der wieder heraufgestiegen, die Nachwelt zu erwecken, zu befeuern.

Sein Auge blickte sinnend hinüber auf die Inseln und ihre Rosen und Myrten im Gewässer des Eurotas und wandelte dann über das Pentedaktylon und den waldigen Tornika.

Ich wußte nicht, was er wollte mit diesem Blick, als er sagte: Ist ja doch das Land noch schön wie vor drei Jahrtausenden, als an den lorbeerbeschatteten Ufern man die Blumen pflückte zum Brautkranz für die schöne Helena und auf dem Taygetos die Opferflammen brannten dem gefeierten Gotte!

Dann ward er wieder ein wenig still und sagte endlich: Folge mir in meine Wohnung! Ich folgte schweigend.

Unterwegs erzählt' ich mein früheres Leben. Der Alte ward immer heiterer, fiel mir wieder in die Arme und rief: Du mußt bei mir bleiben![169]

Wir wandelten so unsern Weg. Unvermerkt stand ich unter hohen Felswänden, die ein finstrer Geist in regellosem Wurf gestaltet zu haben schien. Aus verwobenem Myrtengesträuch sprudelt' ein frischer Quell und wandelte mit melodischem Murmeln durch die Felsen.

Im Schatten hoher Zypressen und Lorbeerbäume stand ein freundlich Häuschen, auf dem der beruhigte Blick sich erholte von den wilden Gestalten der Felsklippen.

Es ist mein Haus! sagte der Alte. Es ist auch das Deine.

Wir traten hinein. Ein gewölbtes Zimmer umgab mich. Ich mußte mich niedersetzen. Der Alte saß mir gegenüber.

Wir sprachen noch eine Zeitlang, als er rief: Theone!

Bald ging die Tür auf, und ein Mädchen trat herein, weiß wie die Schwäne des Eurotas, mit langen braunen Locken und einem Auge voll Unschuld und Frieden. Lächelnd und unbefangen grüßte sie mich und den Alten. Ihr Anblick machte einen wunderbaren Eindruck auf mein Herz. Ich fühlte etwas quillen in meinem Innern, das ich noch nie gefühlt.

Bring' uns das Abendbrot, Theone! rief freundlich der Greis, und das Mädchen flog wieder durch die Türe.

Es ist meine Tochter, sagt' er zu mir, wie sie draußen war.

Bald war sie wieder da und stellte einen Korb voll frischer Früchte und einen großen steinernen Krug voll Wein auf den Tisch. Dann entfernte sie sich wie der.[170]

Wir sprachen noch einige Stunden. Dann wies mir der Greis ein Zimmer an, drückte mir herzlich die Hand und schied. Ich setzte mich ans Fenster. Der Mond blickt' in seinem blassen Licht zwischen zwei Felsen, die ihre Riesenschatten weit über die Fläche warfen. Unerklärbare Schauer zogen durch meine Brust. Der wunderbare Greis mit seinem Feuer und das Gefühl meiner Bestimmung lag feierlich vor meiner Seele wie die schlummernde Natur. Das Bild des zarten Mädchens umschwebte mich wie eine stille lindernde Ahnung und spielte mir heiter wie das Mondlicht um die gekühlten Wangen. So schlummert' ich ein.

Kaum war die Sonne aufgegangen, da stand Hilarion – so hieß der Alte – an meinem Lager und sagte: Wir wollen nach Sparta wandeln!

Wir gingen. Unterwegs sagte Hilarion: Aus dem Kampfspiel holten unsre Väter ihre Stärke. Aus ihm entsprang jene Vollkraft, jene erhabene Gesinnung, jene Größe und Fülle des Lebens, jene Harmonie des Geistes und Körpers. Da galt kein Stand, kein Rang; die angeborene Stärke siegte. Da waren sie Menschen im vollen Sinne, Kinder der allbeseelten Natur, frei wie der Vogel in den Lüften und lebenskräftig wie die frischbetaute Blume. Da entstand jener Gemeingeist, der alle beseelte. Das ist der Fehler unserer Zeit, daß der Einzelne sich trennt vom Einzelnen und darum nie ein Ganzes waltet. Würde jeder sich selbst vergessen und alle zusammenwirken zu einem Zwecke, da würde ein Volk entstehen,[171] groß wie das untergegangene und stark genug, den Erbfeind zu vernichten. Darum sollen sich unsere Jünglinge üben in jenen Spielen, die Geist und Körper stärken; und das wird der Keim sein, aus dem der ewigkräftige Heldensinn entsproßt, jenes Zusammenweben aller für Eines.

Unterdessen waren wir nach Misitra gelangt. Laßt uns vorher zu meiner Tochter gehen! sagte Hilarion, indem er auf ein Haus deutete, das nahe vor uns stand. Sie lebt hier bei einem Verwandten. Es ist die Ältere.

Hier lernt' ich Cäcilien kennen, die Du für Deine Mutter hieltest, Atalanta!

Darauf gingen wir zu vielen wackern Männern und sprachen über unsern Plan.

In wenigen Tagen waren unsere Wiesen voll von Knaben, Jünglingen und Männern. Jetzt ist es Deine Sache, sprach Hilarion, zu ihnen zu reden!

Die Brust schwoll mir von Begeisterung. Auf einem Rasen redet' ich zu den Spartanern.

Meine Worte waren wie der Gießbach, der von Felsenhöhen in die Täler strudelt, die Eichen aus den Wurzeln reißt und alles faßt und wogend mit sich fortreißt. Die Ungestümen rissen Zweige von den Lorbeerbäumen und warfen sie mit lautem Ruf über mich. Hilarion drückte mir schweigend die Hand.

Von nun an kamen sie täglich zusammen zum Ringen, Laufen und Werfen. Und wenn ich schweißbedeckt am Abend nach Hause kam, trat mir Theone entgegen und gab mir mein Abendbrot. Da ruhte[172] die wilde Kampfeslust und der tobende Sinn. Aus ihrem milden Auge quoll ein sanfter Friede und wehte kühlend und besänftigend durch meine Seele.

Ich fühlte mir ein neues Leben entstehen. Meine Seele war gestillt, erweitert, angefüllt, war frisch wie das Tal, wann die Morgensonne überm Hügel schwebt.

Oft drückten wir uns die Hände, wenn wir allein waren und küßten uns die Lippen; und wenn der Vater kam, wand sie sich errötend von meiner Brust.

Der Vater lächelte.

Oft auch saßen wir am Ufer des Eurotas, wo über uns sich Lorbeer und Platanen wölbten und die Trauerweiden in die klare Flut sich tauchten.

Die Schwäne spielten um Myrten- und Rosengesträuch zu unsern Füßen, und der Seidenbaum würzte die Luft mit balsamischem Geruche.

Veilchen waren durch Theonens dunkle Locken geflochten, die herabwallten über den jugendlichen Busen. Sie war zart und mild wie das freundliche Schneeglöckchen.

Ewige Gesundheit sog ich aus ihrem keuschen Munde. Ich sah in ihr das Bild der ewigen Jugend. Das Leben fühlt' ich in seiner höchsten Fülle, im Vollgenuß meiner Kraft und Stärke.

Unser Gefühl war rein wie das weiße Licht der Sonne. Die ganze Schöne des griechischen Himmels hatte sich abgedrückt in Theonens Körper und Seele.

Und wenn dann der Mond hervortrat und die beschneiten Gipfel des Taygetos im blassen dämmernden Lichte glänzten wie zartgehauchte Wolkenbilder, da[173] schwiegen wir und lauschten der Nachtigall, die ihre Lieder in den Akazien aus der melodischen Kehle wogte, und wandelten Hand in Hand wieder unsern Felsen zu.

Einstmals nahm Hilarion mich an der Hand und führte mich zu Theone. Dann ging er schweigend mit uns aus dem Hause. Die Sonne stand am Mittagshimmel. Der Alte blickte die junge Tochter an und dann mich und sagte: Liebe Kinder, Ihr liebt Euch! Das Mädchen errötete; mein Auge glühte. Ich warf mich zu des Vaters Füßen; auch das Mädchen sank auf ihre Knie. Hilarion legte unsre Hände ineinander, gab uns seinen Segen und ging ins Haus. Dann sahen wir einander an auf den Knien, und unsere Lippen küßten sich zum ewigen Bunde.

Zu Sparta wurden wir getraut. Meine Brüder kamen zusammen auf der Wiese und feierten unser Fest. Die männliche Jugend strebte im Wettkampf nach den Preisen, die wir ausgesetzt; und nach dem Mahle begannen Tänze und Spiele, wo sich die frohen, von Wein und Gespräch trunkenen Jünglinge mit den blumengeschmückten Mädchen bis zum Morgen unterhielten. Theone sank mir weinend an die Brust. Sie war mein, ganz mein.

Selig verlebten wir den Sommer. Auch den Winter hindurch dauerten unsre Spiele. Ich war im Ringen und im Laufen der Erste. Die Greise sorgten für die Ordnung und bestimmten die Preise. Hilarion ward wieder jung.

So kehrte der Frühling wieder, und meine Theone fühlte sich Mutter. Von nun an ward sie mir heilig,[174] das Kind und Abbild der erzeugenden Natur. Da gebar sie, und Du, liebe Atalanta, betratest die Welt.

Überschwänglich war Deines Vaters Wonne. Die Worte starben ihm auf den Lippen. Er drückte mit stummem Entzücken die geschwächte blasse Mutter und dann Dich an seine Brust. Mein häuslich Glück war nun vollendet.

Da ward auf einmal Hilarion geheimnisvoll. Ich drängte mich an sein Herz und er sagte mir, vom Norden segle eine Macht herbei, den Muselmann auf seinem Boden anzugreifen. Ich staunte; ich ward entzückt. Gott! rief ich begeistert. Der Tag ist gekommen, auf den wir gewartet!

Ich stürzte auf die Wiese, verkündet' es den Brüdern. Alles eilte voneinander.

In einigen Tagen war Misitra unter den Waffen. Die Nachricht erscholl durch die Täler des Taygetos. Die Völker standen auf.

Vor meinen Sinnen war nichts als das Geschnaube, das morddrohende Gerassel anrennender Kriegsrosse; das Feld und Stadt durchhallende dröhnende Waffengetös der geharnischten Brüder; das einherwogende Gebrüll vom Atem des Ares geschwellter Männer; der furchtbar vom Widerhall zurückgetriebne Donner der Geschütze; die stöhnenden Seufzer und Gebete hülfeflehender, das Bild der Panagia umfassender Jungfrauen; himmelanwirbelndes Staubgewölke; die Flamme des allzerstörenden männerzermalmenden Schlachtgewühls; Mordende und Gemordete; Weinende; den furchtbaren Gesang des Hades und der Erinnyen Singende.[175]

Ich feuerte meine Genossen an. Sie rasten in Kampflust. Der Bey von Misitra ward gemordet.

Kinder, ich nahe nun dem unglücklichsten Teile meines Lebens. Laßt mich kurz sein in meiner Erzählung! O, sie schmerzt mich!

Achaia, Arkadien und Argos hatten die Fesseln abgeworfen. Orlow war mit sechs Schiffen erschienen. Wir Mainotten wollten nach dem Isthmos ziehen.

Noch wußte meine Theone nichts.

Den Tag vor dem Abzug trat ich vor sie hin. Die junge schöne Mutter saß auf einem Stuhl und säugte ihr Kind am weißen Busen und blickte so schmerzlichsüß auf das Kleine herab, als wenn sein Trinken sie verletzte. Dann drückte sie mir die Hand und lächelte.

Ich fiel ihr um den Hals. Theone, rief ich, wir müssen scheiden! Das Vaterland ruft. Bald werd' ich wieder in Deine Arme eilen und frei die Freie an den Busen drücken.

Sie war heftig erschrocken. Ihr Auge war überfüllt mit Tränen. Sie lag halb ohnmächtig an meiner Brust. Der Alte tröstete sie. Aber ihr schönes Auge blieb naß noch den ganzen Abend.

O, Katon! rief sie einmal, wie zerfließend, matt an meinen Lippen bebend. Ich verstand sie; weinte mit ihr.

Mein innerer Kampf war fürchterlich.

Aber der Geist der Freiheit stieg vor meinem trunkenen Auge wie ein Riese aus der Erde. Ich hatte überwunden, preßte die Geliebte noch einmal an meine[176] Brust, drückte den letzten Kuß auf ihre nassen Wangen und eilte durch die Felsen.

Hilarion konnte nicht folgen. Die Nacht hindurch versammelten wir uns. Mit Anbruch des Tages nahm ich Abschied von Hilarion und eilte mit meinen Scharen gegen den Isthmos.

Überall hatten die Griechen sich erhoben und ergriffen wütend die Waffen.

Am Isthmos standen wir den Türken gegenüber.

Ich lag auf meinen Knien, wie die Sonne emporstieg, und flehte zum allbarmherzigen Gott, Richter zu sein des entscheidungsvollen Kampfes.

Wir stürzten in die Schlacht und wurden geschlagen.

Ich weinte blutige Tränen; aber noch verzweifelt' ich nicht. Der Seraskier war bis nach Messenien gedrungen. Ich eilte durch den Peloponnes. Neue Scharen kampflustiger Mainotten strömten zusammen.

Wir kämpften wie Rasende.

Umsonst. Die geschlagenen Brüder flohen auseinander und verloren sich in den Gebirgen des Pentedaktylon.

Da stand ich allein wieder auf der Erde, allein in meinem Vaterlande wie einst, als ich den Peloponnes durchwandelte!

Überall hört' ich vom Rauben und Morden der zügellosen Griechen. Ich eilt' auf ein Schiff; landete am Vorgebirge Tänaros. Mit Grauen sah ich die schwarzen schaurigen Felsen, auf deren jähen Gipfeln wie Adlernester die Dörfer der Kakovouniotten schweben. Die Ungeheuer, sagten die Schiffer, haben fürchterlich gehaust. Die Albanier haben in Misitra gewütet.[177]

Mich faßte Schrecken. Ich eilte der Heimat zu; er reichte die Ufer des Basilipotamo, und der Alte saß auf derselben Stelle unter dem Lorbeer an der Felswand, wie ich ihn einst getroffen. Ich flog auf ihn zu. Er starrte mich an. Sein Angesicht war blaß; das Feuer seiner Augen erloschen.

Er fragte dumpf: Jüngling, was suchst Du hier?

Trost! rief ich. Trost am Busen meines Weibes!

Er stand auf und führte mich zu den Felsen. Kein Wort kam über seine Lippen. Eine schreckliche Ahnung fuhr mir eiskalt durch die Seele.

Ein Grabhügel war vor der Hütte. Rosen, Akazien und Myrten schlangen sich um ihn.

Wo ist Theone? fragt' ich zitternd.

Der Alte sah mich an und sagte dumpf: Ihr Leib liegt unter diesem Hügel; ihre Seele ist bei Gott.

Ich stürzte besinnungslos über den Hügel. Der Alte hob mich auf und sprach finster: Du kommst vom Grabe Deines Vaterlandes und verzweifelst am Grabe Deines Weibes?

Ich verstand ihn; aber umsonst. Vaterland und Weib war mir Eines geworden.

Wo ist mein Kind? rief ich jetzt von neuem schaudernd. Es lebt, erwiderte Hilarion. Cäcilie trat aus dem Hause; brachte mir mein Kind.

Ach, erlaßt mir, zu erzählen, wie meine Theone starb! Albanier mordeten sie. Ich darf, ich kann nichts weiter sagen.

Den andern Morgen fand ich den Alten nicht im Bett. Ich eilt' ans Fenster. Er saß auf Theonens[178] Grabhügel. Ich stürzt' auf ihn zu. Er hatte nur noch wenige Kräfte; sein Leben war wie die balderlöschende Lampe.

Ich sank zu seinen Füßen. Er sprach: Mein Leben ist zu Ende. Meiner Träume schönster war, frei zu sehen mein Vaterland. Aber wo nicht Einigkeit herrscht, wo sich nicht alle opfern für Eines, da wird nichts Großes werden. Die Acht verfolgt Dich, mein Sohn. Flieh' aus Griechenland. Lebe garnicht darin, wenn Du nicht frei darin leben kannst! Wandre nach Deutschland!

Cäcilie eilt' aus dem Haus. Er ergriff ihre Hand. Auch sie sank weinend zu seinen Füßen. Katon, sprach der Greis, sei Du meiner Tochter Schutz! Nimm sie mit Dir nach Deutschland! In einem Gewölb unter dem Hause findet Ihr Reichtümer genug, bis ans Ende des Lebens zu gelangen. Gebt Euch die Hand!

Dann brach er noch Rosen und Akazien von dem Grab und sagte, zum blauen Himmel hinaufblickend, mit einer Träne: Das Leben ist schön in Griechenland. Dank Dir, Gott, daß ich in ihm ward; in ihm sterbe! Dann blickt' er uns noch einmal liebend an und verschied.

Wir begruben ihn den andern Tag. Ich öffnete das Grab und den Sarg meiner Theone. Ich sah noch einmal ihren schönen Körper. Dann schloß ich ihn auf ewig. Des Nachts brachten wir unsere Schätze samt dem Sarg auf einen Wagen. Zu Kalamata schifften wir uns ein.

Mit heißen Tränen sah ich die schönen Ufer im Meere verschwimmen, tröstete Cäcilien und hatte für mich keinen Trost.[179]

Unsere Reise war glücklich. Wir wählten uns diesen Platz und bauten unsere Häuser.

O Kinder, ich konnte nicht leben ohne Begeisterung und hatte doch nichts mehr, das mich begeisterte.

Mein Schmerz war unermeßlich.

Cäciliens zarte Seele versteht ihn. Eine wundersame Freundschaft schließt unsere Herzen zusammen, seit wir unser Griechenland verließen. In diesem Gewölbe betrauert' ich mein Vaterland und meine Theone. Ihre Hülle ruht im Sarkophag.

Du wuchsest auf, liebe Atalanta, und wußtest nicht, daß ich Dein Vater bin und Griechenland Deine Heimat. Ich wollte Dir den Schmerz ersparen und lieber eine Mutter Dir geben als einen Vater. Du solltest, durftest es nicht wissen. Frage mich nicht!

Ich wollte Dir ein Abbild schaffen des schönen Landes in unserm Garten.

Nun weißt Du ja, Du Liebe: Du bist meine Tochter, bist eine Griechin!

Katon schwieg. Wir sahn uns an und sanken ihm zu Füßen. Er neigte sein Haupt zu uns herab; hob uns sanft auf, ergriff unsere Hände und legte sie auf den Sarkophag. Dann blickte sein Auge gerührt hinan, und er sagte: Ihr liebt Euch, Kinder. Nehmt meinen Segen!

Wir sanken einander in die Arme, weinten vor Entzücken.

Spät stiegen wir wieder aus dem Gewölbe.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 159-180.
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