[249] Ein Brief von Theodor, den er an einen seiner Freunde schrieb, meldet folgendes:


Theodor an Mör[ike]

Es ist entschieden mit unserm Freunde! Es ist fürchterlich entschieden!

Der Phaethon, der einst jene große Welt im Busen trug, der einst das geliebteste Kind der liebenden Natur war, der einst so kühn unter uns allen stand wie ein gewaltiger in die Wolken gestreckter Riesenberg unter niedern Hügeln, der Phaethon ist – wahnsinnig!

Weine mit mir! Beweine den Armen! O, was hab ich gelitten in diesen Tagen!

Noch bin ich wie betäubt, zittre, schaudre in allen Nerven.

Wir ritten Tag und Nacht. Am andern Morgen wechselten wir die Pferde.

Phaethon sprach kein Wort. Mit fliegenden, vom Wind gewirbelten Haaren rannte er besinnungslos die Straße dahin.

Zwei Nächte durch schliefen wir nicht.[249]

Am dritten Tag waren wir in der Nähe des Schlosses. Phaethon sprang vom Pferde, stürzte mir wütend um den Hals und preßte mich riesenmäßig an seine klopfende Brust.

Da stand ich einst! rief er fürchterlich weinend. Gott! Gott! Verlaß mich nicht! Seine Lippen schäumten. Es war das letzte vernünftige Wort, das ich von ihm hörte.

Wir stürmten durchs Schloßtor hinein. Es war ein heiterer schöner Abend. Der Westen brannte von wallendem Golde.

Ein Diener lief uns entgegen. Seid Ihr da? rief er schluchzend. Sie stirbt, sie stirbt!

Wir rannten die Treppen hinauf. Phaethon riß eine Tür auf. O Gott! Ich muß aufhören; die Worte schwimmen vor meinen Augen.

Freund, ich sah sie, die mir Phaethon einst mit solch trunkenen Worten geschildert! Ich sah sie in ihren letzten Augenblicken.

Höre und bete!

Ein hochgewölbtes Zimmer umfing uns, wo oben auf blauem Grunde die lieblichsten Engelsgestalten in tausendfachen Stellungen schwebten. Auf einem mit Purpur überwallten Bette lag sie:

Ein sterbender Engel!

Ihr blasses Haupt ruhte matt auf einem Kissen. Ihre dunkeln Locken lagen in langen Wallungen um sie her. Hellgrüne Akazien, glühende Rosen waren im Kranz um ihr Haupt geschlungen. Ein paar große dunkle Augen voll Himmel und Frieden blickten traurig[250] und doch selig die Umstehenden an. So lag die Blasse, die Schöne.

An ihrem Bette kniete seine Cäcilie, wie in einen unaussprechlichen Körper hingegossen, ohne Seufzer, ohne Sprache. Ein hoher Mann stand am Haupte der Sterbenden, der die Stirn mit seiner Hand verdeckte. Katon war's, ihr Vater.

Das Wort faßt dieses Bild nicht!

Phaethon lag vor ihr, bedeckte ihr bleiches Angesicht mit seinen wilden Locken, küßte sie wütend.

Er sprach kein verständliches Wort. Nur fürchterliche Seufzer stöhnte er aus.

Sie wand sich los mit schwachen Kräften und erhob sich etwas und neigte sich gegen den Knienden.

Gott, Du hast Menschen, die Dir gleichen!

Dieses Auge, ach dieses überschwängliche Auge, mit dem sie ihn ansah! So unendlichwunderbar schauernd! So voll Trauer; voll Milde! Halb verletzt und doch voll unaussprechlicher göttlicher Liebe.

Er aber glühte; sein Blick rollte wild. Aber er fühlte doch die Seele in dem Auge, die Fülle, die Liebe!

Der große Mann ging ans Fenster. Es war, als ob er's nicht mehr aushalten könnte.

Atalanta ergriff halb zitternd Phaethons Hand. Eine Träne glänzte in ihrem Auge. Der junge zarte Busen hob sich, voll Liebe anschwellend, unter den Tüchern. Sie sagte mit einem tiefen Seufzer: Ach, warum bist Du so gefallen?

O, das sagte sie so unendlich traurig, so zerflossen in Wehmut und doch so ganz voll Liebe![251]

Er aber raste. Mit einem gräßlichen Oh! stürzte er von neuem über sie. Seine Lippen brannten auf den ihren.

Wir hörten sie weinen. Sie konnte sich nicht losmachen. Wir richteten den Wahnsinnigen auf.

Wie sie sich wieder frei sah, weinte sie noch stärker. Dann lispelte sie wieder wie betend: Ach, warum muß ich ihn so wiedersehen!

Sie schien sich zu sammeln. Wieder ergriff sie seine Hand und sagte: Ach, so bist Du noch mein!

Dann verschwamm ihr Blick in den Wogen des Abendrots durch die hohen offenen Bogenfenster.

Sie ward verklärt.

Dahinein! sagte sie mit einer Engelsstimme. Dahinein werd' ich tauchen, ein unsterblicher Geist, mich baden im ewigen Licht! Auch Du ... – ihr Auge blickte schmerzlichliebend auf den Unglücklichen, – auch Du wirst einst wieder im Licht wallen, wenn Deine Seele zu Gott schwebt!

Sie sank in seine Arme, die Liebende! Blumen und Locken ruhten auf ihm.

Noch einmal blickte sie auf und sah den Vater an und die weinende Cäcilie! Dann sank sie wieder an Phaethons Brust, seufzte nur noch in einem namenlosen Tone: Rein!

Lange blieben sie aneinander.

Er hielt sie, küßte sie. Ihr Auge war geschlossen. Ihre Wangen fühlten seine Küsse nicht mehr. Ihren Busen füllte nicht mehr das warme jugendliche Leben.

Wir alle schluchzten laut. Phaethon hielt kniend die tote Braut an Mund und Brust.[252]

Wir wollten ihn losmachen. Er blickte uns rasend an, mit funkelndem Auge. Wir ließen ihn. Erstarrt blieben wir stehen.

Er legte sie wieder auf das Kissen, so sanft, so zärtlich, und kniete neben sie hin.

Ich trat der Abgeschiedenen nahe. Mich überwallte die unaussprechliche Schöne. Wie Milch war ihr ganzes Angesicht. Und diese Lippen! Wie noch warm von den Küssen, die Phaethon auf die weichen gedrückt hatte.

Katon schien gefaßt. Cäcilie war untröstlich. Atalantas Tod, Phaethons Wahnsinn hatten zu sehr auf sie gewirkt. Man mußte sie ohnmächtig wegtragen.

Phaethon wollte das Zimmer durchaus nicht verlassen. Er sprach kein vernünftiges Wort mehr.

Die ganze Nacht soll er im Zimmer auf und abgegangen sein, ohne ein Wort zu sprechen.

Am nächsten Morgen dankte mir Katon freundlich für meine Begleitung. Wir gingen in das Zimmer, wo die Tote lag. Phaethon war nicht da. Wir erschraken.

Aber bald tat sich die Tür auf, und Phaethon trat herein mit allerlei Blumen, Jasminen, Lavendel, Ringelblumen, Tulpen, Rosen, Lilien, Narzissen, Nelken, Tremsen, Akazienzweigen und roten und blauen Kornblumen. Er hatte ein langes rotes Tuch umgeworfen, in dem er die Blumen zum Teile trug. Uns schien er gar nicht zu bemerken.

Er trat auf das Bett zu, legte seine Hülle zurück, küßte die bleichen schönen Wangen der Geliebten und[253] bedeckte sie ganz mit Blumen. Dann kniete er wieder vor sie hin, schlang seine Arme um sie und regte sich nicht mehr.

Wir wagten ihn nicht zu stören. Heilung schien unmöglich. Die Diener, die die Nacht durch wachen mußten, sagten, er habe nur wenig geschlummert, viel im Schlafe gesprochen; sie hätten dem Bette durchaus nicht nahekommen dürfen.

Den ganzen Tag nahm er nichts zu sich. Mit uns sprach er kein Wort. Die Nacht hindurch blieb er wieder neben ihrem Bette sitzen.

Am andern Morgen sollte sie begraben werden. Man wollte ihn mit Gewalt aus dem Zimmer bringen. Er wehrte sich verzweifelt, schlug einen der Männer zu Boden. Dann verhielt er sich ruhiger.

Man brachte den Sarg herein. Da riß er sich wieder los. Kein Arm war nun stark genug, den Rasenden zu halten. Seine Kraft war riesenmäßig.

Er kniete vor dem Mädchen, weinte laut, küßte sie auf Mund und Stirne, löste ihre Locken auf, faßte sie dann um den Leib, legte ihr wankendes Haupt an seinen Busen und trug sie zum Sarg. Keine fremde Hand durfte sie anrühren. Er legte sie selbst hinein. Bei all dem sprach er nichts.

Katon führte Cäcilie herein. Sie war entkräftet und lehnte sich an Katons Brust. Sie zerfloß in Tränen, wie sie das junge geliebte Mädchen im Sarge sah und die vielen Blumen auf ihr und den wahnsinnigen Jüngling daneben kniend. Auch Katons männliches Auge war voll Tränen.[254]

Auf einmal schlug Phaethon den Sargdeckel zu. Cäcilie sank mit einem lauten Schrei zu Boden. Man brachte sie weg. Phaethon lächelte.

Der Sarg ward in ein Gewölbe des Mausoleums getragen. Phaethon folgte. Gegen Abend brachte ihn Katon wieder herauf. Nun erst nahm er wieder etwas zu sich.

Am vierten Morgen nahm ich Abschied. Phaethon wollte durchaus nicht mit mir. Er schien mich kaum zu kennen. Wie ich ihm um den Hals fiel, weinte er auch und sprach lauter seltsame Worte. Was ich denn von ihm wolle? Er sei ja unsichtbar. Er habe längst schon keinen Körper mehr. Ich solle nur ruhig sein. Er wolle mir schon auch blaue Tremsen bringen. Gott liebe ja seine Menschen. Ob ich's denn nicht gesehen, wie der Mond sein Auge zugedrückt habe. Er sei sehr gern im Himmel; werde sich nächstens auch einen Regenbogen machen, und für das Übrige werde er schon sorgen.

Mit blutendem Herzen empfahl ich Katon noch einmal die Sorge für den Armen, nahm Abschied von der kranken Cäcilie und schied.

Ach, Freund, das Viele, das mir begegnet, drängt sich so eng und mächtig vor meinen Sinnen zusammen, daß ich mich nicht mehr zu fassen weiß.

Du kanntest ihn ja, wie er war. Du würdest schaudern, wenn Du sähest, wie er ist.

Alles, alles hat er verloren, was er hatte, was ihn so groß machte, was ihn zu Gott hinanhob. Er hat alles verloren, sich selbst, die Welt und Gott.[255]

Mensch, was bist Du in Deinem Stolze?

Ich will nichts weiter sagen. Es ist fürchterlich. Meine Sinne verwirren sich schon ob dem Gedanken.

Lebe wohl![256]


Phaethons Raserei ging in einen stillen Wahnsinn über. Katon tat alles, was er konnte. Es half nichts.

Von allen seinen Freunden und Bekannten, von seinem ganzen vorigen Leben, selbst von Atalanta sprach er nie ein Wort. Alles, was er über die Lippen brachte, waren Worte, aus einer Menge fremder Sprachen untereinander gemischt, und tausend sonderbare Sätze voll Unsinn und Halbsinn.

Nur einmal lief er davon und ging in das Dorf, wo er einst gewohnt. Er wußte noch Johannes Haus; öffnete die Türe. Der Gute saß am Fenster, sah die schreckliche Gestalt zur Tür hereinkommen; kannte sie nicht, erschrak. Phaethon legte sich über einen Tisch herein, blickte ihm starr ins Gesicht, sagte mit fürchterlicher Stimme, durch den Bart murmelnd: Phaethon! und lief wieder zur Türe hinaus. Er ging dann wieder dem Schlosse zu. Von da an besuchte ihn Johannes fast alle Tage. Der Wahnsinnige schien sich aber an nichts zu erinnern.

Wenn er Katon oder Cäcilie beleidigt hatte, kam er immer wieder zu ihnen, bat sie in lauter Worten ohne Sinn um Vergebung.

Er spielte viel auf dem Klavier, aber lauter verwirrte Phantasien. Schrecklich war's, den Wahnsinnigen spielen zu hören!

Des Nachts stand er meistens auf und wandelte durch den Garten oder durch die Gänge des Schlosses. Wenn er ein Kind sah, winkte er ihm freundlich, wollte es zu sich locken; aber die Kinder flohen ihn.[257]

Alles, was er bekommen konnte von Papier, überschrieb er in dieser Zeit. Hier sind einige Blätter aus seinen Papieren, die zugleich einen tiefen Blick in den schrecklichen Zustand seines verwirrten Gemütes geben. In der Urschrift sind sie abgeteilt wie Verse nach pindarischer Weise.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 249-258.
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