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[289] Das Souper war zu Ende, die Tischgesellschaft begab sich in den Salon.

Die Unterhaltung wurde zuerst französisch geführt, dann, Mr. Bradshaw zuliebe, der diese Sprache nicht beherrschte, deutsch.

Der Amerikaner lenkte das Gespräch auf die aussterbenden Völkerschaften der neuen Welt und die Tragik ihres Untergangs. Von Eva aufgefordert, erzählte er ein Erlebnis, das er bei den Navajosindianern gehabt.

Der Stamm der Navajos hatte sich dem Christentum und den damit verbundenen Zivilisationsbestrebungen am längsten widersetzt. Um sie gefügig zu machen, verbot ihnen die Bundesregierung den Jahrtausende alten Yabe-Chi-Tanz, die feierlichste Übung ihres Kultus. Der Kommissär, der den Befehl auszuführen hatte und in dessen Begleitung sich Mr. Bradshaw befand, erteilte auf die flehentliche Bitte der Häuptlinge die Erlaubnis zur Abhaltung eines letzten Tanzes. Um Mitternacht, beim Schein der Lagerfeuer und Holzfackeln, traten die grellgeputzten und -bemalten Sänger und Tänzer auf. Die Sänger sangen ihre Lieder, die die Schicksale dreier Helden schilderten, welche in die Gewalt eines feindlichen Stammes geraten und durch den Gott Ya befreit worden sind. Der Gott lehrt sie, auf dem Blitz zu reiten; sie flüchten in die Höhle der Grizzlybären und von dort in das Reich der Schmetterlingskönigin. Die Tänze stellten die sagenhafte Begebenheit sinnlich dar. Während nun die Felsengebirge von den Gesängen widerhallten und die fratzenhaften[289] Tänze in der Purpurglut sich zum Ausdruck der Verzweiflung steigerten, brach ein gewaltiges Unwetter los. Wolkenbrüche stürzten herab, die binnen einer Viertelstunde die ausgetrockneten Flußläufe mit brüllenden Fluten füllten; die Feuer verloschen, die Medizinmänner beteten mit erhobenen Armen, und die Sänger und Tänzer, im Glauben, der Gott sei ergrimmt, weil sie bereit gewesen waren, auf den heiligen Tanz zu verzichten, suchten in schmerzlicher Wildheit freiwillig den Tod in den rasenden Gewässern, die ihre Leichname hinunter in die Ebene trugen.

Als Mr. Bradshaw schwieg, sagte Eva: »Götter sind rachsüchtig; die friedlichsten noch verteidigen ihren Sitz.«

»Eine heidnische Anschauung das,« ließ sich scharf und herausfordernd die Stimme Amadeus Voß' vernehmen; »es gibt keine Götter. Götzen gibt es, allerdings, und Götzen soll man zerschlagen.« Er schaute sich trotzig um und fügte schleppend hinzu: »Denn der Herr sprach: es kann mich der Mensch nicht ansehen und dann noch leben.«

Man lächelte. Der Marques Tavera hatte nicht verstanden und wandte sich an Wiguniewski; dieser flüsterte ihm ein paar französische Worte zu, und nun lächelte auch der Marques, mitleidig und boshaft.

Voß erhob sich mit zerquältem Gesicht. Die Heiterkeit in allen Mienen war eine Züchtigung für ihn. Aus den glitzernden Brillengläsern schoß ein giftiger Blick in die Richtung, wo Eva saß, und verstört sagte er: »An der gleichen Stelle der Schrift heißt es auch: Lege deinen Schmuck ab, Volk Israel, und ich will sehen, was ich aus dir mache. Da ist kein Platz für Deutung.«

Er kann die Augen nicht entsühnen, dachte Christian und wich dem auf ihn gerichteten Blick Evas aus.

Amadeus Voß verließ die Gesellschaft. Auf der Straße rannte er mit den Händen an den Schläfen wie gehetzt. Der steife englische Hut war in den Nacken zurückgeschoben. In[290] seinem Zimmer angelangt, öffnete er den Reisekoffer und nahm ein Paket Briefe heraus. Es waren die gestohlenen Briefe der unbekannten F. Er setzte sich zur Lampe und las mit gespannter Aufmerksamkeit und brennender Stirn. Es war nicht die erste Nacht, die er dieser Beschäftigung widmete.

Als Eva mit Christian allein war, fragte sie: »Warum bist du mit diesem Mann gekommen?«

Er hob sie lachend auf seine Arme und trug sie durch viele Räume, erst durch erhellte, dann durch dunkle.

»Das Meer schreit,« stammelte ihr Mund an seinem Ohr.

Er wünschte, alle andern Laute möchten sterben außer dem Donnern des Meeres und der sinnlich jungen Stimme an seinem Ohr. Er wünschte, er hätte damit die Unruhe ersticken können, die ihn mitten in Umarmungen überfiel und ihn, wenn das Bewußtsein wiederkehrte, nach neuen Umarmungen durstig machte.

Der heiße, schlanke Leib loderte an ihm empor, und er vernahm die Klage einer fremden Stimme: Was sollen wir tun?

»Warum bist du mit diesem Mann gekommen?« fragte Eva in tiefer Nacht, zwischen Schlaf und Schlaf, zwischen Umarmung und Umarmung, glühend und ermattet. »Ich ertrag ihn nicht. Seine Stirn ist immer naß von Schweiß. Er ist aus einer finstern Welt.«

Im Zimmer herrschte bläuliche Dämmerung, hervorgebracht von einem blauen Licht in blauer Schale, und vor den Fenstern war bläuliche Dunkelheit.

»Weshalb antwortest du nicht?« drängte sie und richtete sich auf, das bleiche Gesicht in einer braunen Wildnis von Haaren.

Er wußte keine Antwort. Er fürchtete das Ungenügende einer jeden wie auch den Widerspruch, den sie finden würde.

»Was ists mit diesem Voß, was ists mit dir, Lieber?« rief Eva, zog ihn an sich, klammerte sich an ihn und küßte seine Augen, als wolle sie sie austrinken.

»Ich will ihn bitten, deine Nähe zu meiden,« sagte Christian,[291] und er sah auf einmal sich und Voß auf dem Bauernhof in Nettersheim, sah die knienden Knechte und Mägde, die alte, rostige Laterne, die tote Magd und den Schreiner, der das Maß zum Sarg nahm.

»Sag mir, was du an ihm hast,« flüsterte Eva; »plötzlich ist mir: ich spür dich nicht. Wo bist du, Lieber? Sprich mit mir, mein Freund.«

»Du hättest mich damals in Paris nehmen sollen,« sagte Christian leise und legte die Wange auf ihre Brust; »damals, als ich mit Crammon zu dir kam.«

»Sprich nur,« versetzte Eva hauchend, sehr bemüht, ihren Schrecken zu verbergen, »sprich nur.«

Ihre Augen glänzten feucht, ihre Haut glich weißleuchtendem Atlas; ihr Gesicht hatte im Zwielicht eine vergeistigte Magerkeit; die beherrschte Anmut der Gebärde unterwarf die Stunde; das Lächeln war tiefsinnig täuschendes Spiel; alles war Spiel, Spiegelung, Entrückung, unerwartete Zauberei. Christian schaute sie an.

»Erinnerst du dich an ein Wort, das du mir einmal sagtest?« sprach er. »Du sagtest, Liebe ist eine Kunst wie die Musik und die Poesie, und wer sie anders versteht, der findet keine Gnade. Hab ichs richtig behalten?«

»Sprich nur, sprich, mein Liebling.«

Er hielt sie in den Armen, und das Leben ihres Körpers, die Wärme, das Blutwissen und die ihm begegnende Bewegung erleichterten ihm die Rede. »Nun sieh,« fuhr er bedächtig fort und liebkoste ihre Hand, »ich habe Frauen nur genossen. Nur genossen, nichts weiter. Ich wußte nichts von Liebe, die Kunst ist. Ich habe es leicht gehabt mit ihnen. Sie beteten mich an, da war keine Mühe. Sie legten mir keine Hindernisse in den Weg, und ich bin über sie hinweggegangen. Man hat mir keine Aufgaben gestellt, sie waren froh, wenn ich nur mit ihnen zufrieden war. Aber du, Eva, du bist mit mir nicht zufrieden. Du siehst mich an und prüfst und läßt mich[292] nicht aus den Augen. Du bleibst wachsam, ob wir auch noch so tief hinuntersinken, dorthin, wo man nicht mehr weiß und denkt; du bleibst wachsam, weil du mit mir nicht zufrieden bist. Ist das nun ein Irrtum, ein falsches Gefühl?«

»Es ist so spät in der Nacht,« sagte Eva, beugte den Kopf aufs Kissen zurück und schloß die Augen. Sie lauschte dem verlorenen Nachhall seiner Stimme und war vor Beklommenheit fast ohne Atem.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 289-293.
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