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[335] Crammon kam am festgesetzten Tag zur festgesetzten Stunde. Er hatte sich vorbereitet, zu weilen und Feste zu feiern. Damit war es nichts. Eva war mit den Ihren schon im Aufbruch begriffen. Maidanoff war nach Paris gereist, um dort auf Eva zu warten.

Man hatte Crammon von der neuen Beziehung seines Abgotts unterrichtet. Er war alsbald auf dem laufenden über alles, was vorgefallen war; auch daß zwischen Christian und Eva ein Zerwürfnis stattgefunden haben mußte. Um so mehr wunderte es ihn, als er Christian entschlossen sah, Eva nach Hamburg zu folgen.

Nach wenigen Worten schon, die er mit Christian gewechselt, fiel ihm die Veränderung des Freundes auf. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte teilnehmend: »Hast du mir nichts anzuvertrauen?«

Er verbrachte einen Abend mit Wiguniewski. »Es ist nicht möglich, ihr müßt euch irren,« sagte er, »oder die Welt ist auf den Kopf gestellt, und ich weiß nicht mehr, was ein Mann und was ein Weib ist.«

»Ich hatte von Anfang an keine besondere Vorliebe für Wahnschaffe,« bekannte Wiguniewski. »Er war und ist mir zu undurchsichtig, zu versteckt, zu verwöhnt, zu kühl, zu kalt, zu deutsch, wenn Sie wollen. Trotzdem habe ich von Anfang an gewußt: der ist für Eva Sorel wie geschaffen. Wenn man die beiden Menschen beieinander sah, empfand man eine spirituelle Freude; dasselbe Vergnügen, das eine schöne[335] Komposition erregt, überhaupt alles Sinnvolle und Harmonische.«

Crammon nickte. »Er hat ja eine merkwürdige Gewalt über die Weiber,« sagte er; »ich habe jetzt wieder ein Beispiel davon erlebt, das um so verblüffender ist, als es sich bloß um sein Bild handelt. Ich lernte da bei Ashburnhams in Yorkshire, wo ich zu Gast war, eine junge Wienerin kennen, Bankierstöchterchen, recht häßlich, wenn ich aufrichtig sein soll, aber mit einem besondern Tick, einem besondern Charme, einem besondern Witz; auch das Gestaltchen nicht übel, obschon dürftig, ausnehmend dürftig. Sie heißt Johanna Schöntag, aber der Name tut ja nichts zur Sache; ich nannte sie bloß Rumpelstilzchen, das paßte zu ihr. Der Teufel mag wissen, wie sie in die Gesellschaft dort geraten war; ich glaube, ihre Schwester, ein rothaariges Frauenzimmer, wie aus einem Rubens entsprungen, hat einen kleinen Attache bei einer kleinen Gesandtschaft geheiratet, Rumänien oder Bulgarien oder so was. Das Großkapital sucht Mäntelchen für seine Töchter. Na, gleichviel, dieses Rumpelstilzchen und ich, wir verbündeten uns in der nebligen Langeweile von Lord und Lady Ashburnhams Heim zu gegenseitiger Aufheiterung. Eines Tages zeig ich dem Mädel Christians Bild. Ich besitze eine Miniature von ihm, die ich in Paris von Maitre Gaston Villiers habe machen lassen. Sie sieht das Bild an; ihr lustiges Gesicht wird ernst; sie versinkt, sie schweigt, sie gibt es mir stumm zurück. Ein paar Tage später verlangt sie es noch einmal zu sehen; derselbe Effekt. Sie befragt mich über den Menschen, ich, nicht faul, erzähle das Blaue vom Himmel herunter, unter anderm auch, daß ich Christian hier treffen würde, und da erklärt sie, sie wolle ihn kennenlernen, ich müsse ihr dazu verhelfen. Es ist sonst ein sprödes Geschöpf, schwer einzufädeln, schlau und argwöhnisch, was Hunderten gefällt, darüber rümpft sie die Nase, die übrigens das Häßlichste an ihr ist. Die Bitte[336] war mir unerwartet und, offen gestanden, auch nicht ganz bequem. Man muß aufpassen, daß man nicht die falschen Menschen zueinander bringt, das gibt bloß Scherereien. Ich spreche: davor schütze mich der Allgütige und Allweise; ich ermahne sie sanft, sich eines Bessern zu besinnen; ich male ihr die Gefahr in den schwärzesten Farben, aber sie will nicht hören, sie lacht mich aus, sie heißt mich einen Quäker und entwickelt mir sofort einen listigen Feldzugsplan. Um Zeit sei sie nicht verlegen, zu Hause müsse sie erst im November sein, sie habe also sieben Wochen vor sich und werde sich auf die niederländischen Galerien ausreden, was ja eine gebildete Sache sei; über eine Gardedame oder Reisebegleiterin verfüge sie ohnehin, die Schwester werde sie nötigenfalls ins Komplott ziehen, die sei in solchen Dingen großherzig. Das alles legte sie mir mit einer Pfiffigkeit dar, daß ich schwach wurde und mich zu ihrem Mitverschworenen machte. Nun, seit gestern ist sie hier, sitzt im Hotel de la Plage, ein bißchen ängstlich wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, ist unzufrieden mit sich, hat moralische Anwandlungen, und ich meinerseits weiß nicht, was ich mit ihr beginnen soll. Auf derlei Scherze geht mir der Christian jetzt nicht ein, das hab ich mir zu spät überlegt, und ich muß es dem Mädel klarmachen. Aber alles das nur nebenbei, Fürst. Eine Randglosse. Ich will Sie nicht aus dem Konzept gebracht haben.«

Wiguniewski hatte die Erzählung mit geringer Teilnahme angehört. Er begann wieder: »Die verflossenen Monate gaben uns allen, wie gesagt, ein unvergeßliches Erlebnis. Wir sahen ein freies Paar, das eine höhere Legitimität schuf als jede vorhandene. Auf einmal wird das schöne Schauspiel zur abgegriffenen Boulevardkomödie. Durch seine Schuld. Ein solches Verhältnis hat seinen organischen und natürlichen Abschluß; ein Mensch von Witterung weiß es und handelt danach. Statt dessen läßt er es zu peinlichen Szenen kommen; er sucht Begegnungen, die ihn demütigen und[337] lächerlich machen. Er wartet, wenn sie nicht zu Hause ist, in ihren Zimmern, bis sie zurückkehrt und erträgt es, daß sie mit einem Kopfnicken an ihm vorübergeht, ohne sich um ihn zu kümmern. So saß er einmal die ganze Nacht und starrte in ein Buch. Er läßt es sich gefallen, daß die Rappard von oben herab mit ihm redet; er setzt sich darüber hinweg, daß man die Blumen und Früchte, die er täglich schickt, täglich refüsiert. Was ist das? Was bedeutet das?«

»Kummer bedeutet es, großen Kummer für mich,« seufzte Crammon, »unbegreiflich ist es.«

»Vorgestern hatte sie Gäste,« fuhr Wiguniewski fort; »wie zum Hohn wurde ihm ein Platz am untersten Ende der Tafel angewiesen; ich kannte seine Tischnachbarn nicht einmal. Es scheint sie bis zur Grausamkeit zu erbittern, daß er sich diesen Demütigungen nicht entzieht; und ihn seinerseits scheint etwas Unerklärliches daran zu reizen. Er nahm den Platz ein und saß die ganze Zeit schweigend. Nachher kam es dann zu einem eigentümlichen Auftritt. Man stand oder saß in Gruppen beisammen; er hielt sich wenige Schritte von Eva entfernt und ließ kein Auge von ihr. Sein Gesicht hatte einen grüblerischen Ausdruck, wie er sie so unablässig beobachtete. Sie trug an dem Abend den Ignifer, sein Geschenk, und sah aus wie Diana mit einem brennenden Stern auf dem Haupt.«

»Das haben Sie gut gesagt, Fürst,« warf Crammon ein, »exzellent.«

»Das Gespräch berührte in zehn Wendungen zwanzig Gegenstände, ohne flach zu werden; Sie wissen ja, wie meisterhaft sie es versteht, die Konversation in Zucht zu halten. Zuletzt spricht man von flämischer Literatur, jemand nennt den Namen Verhaeren, und sie zitiert einige Zeilen aus einem Gedicht, das ›Die Freude‹ heißt. Die Worte lauten ungefähr: ›Mein Dasein ist in allem, was ringsum lebt; Wiesen, Wege und Bäume, Quellen und Schatten, ihr werdet ich, seit ich[338] euch ganz gefühlt.‹ Man murmelt beifällig, sie geht zu einem Büchergestell und nimmt ein Buch heraus; es waren eben die Gedichte Verhaerens. Sie blättert, schlägt die Seite mit den betreffenden Versen auf, wendet sich plötzlich zu Wahnschaffe, reicht ihm das Buch und bittet oder befiehlt, er solle das Gedicht vorlesen. Er zögert einen Augenblick, dann gehorcht er. Dieses Lesen wirkte auf alle zugleich lächerlich und quälend. Er las wie ein Schüler, mit halblauter Stimme, stotternd, eintönig und als sei der Inhalt über seinen Begriff. Es war für ihn selbst lächerlich und quälend, denn während die verzückten Strophen in seinem Mund den Charakter einer langweiligen Zeitungsnotiz annahmen, wurde er abwechselnd blaß und rot, und als er fertig war, legte er das Buch hin und verließ, ohne einen von uns anzuschauen, das Zimmer. Eva aber sagte, zu uns gewendet, wie wenn nichts geschehen wäre: es sind wundervolle Verse, nicht wahr? Dabei zitterten ihre Lippen vor Zorn. Was wollte sie mit alldem? Wollte sie uns beweisen, daß er unfähig ist, so schön und zart Empfundenes mitzuempfinden? Wollte sie ihn beschämen, ihn für einen Mangel seiner Natur strafen und öffentlich bloßstellen, oder war es nur eine ungeduldige Laune, der Ärger über sein stummes Dasein, seine stummen, forschenden Blicke? Fräulein Vanleer sagte mir später: er hätte lesen müssen wie ein Gott, dann hätte sie ihm verziehen. Was verziehen? fragte ich. Sie lächelte und gab mir zur Antwort: ihre eigne Treulosigkeit. Darin ist vielleicht etwas Richtiges. Sie sollten ihn aus diesem schlimmen Zirkel reißen, Herr von Crammon.«

»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,« sagte Crammon mit einer gramvollen Mundfalte. Er wischte sich die Stirn. »Ich weiß freilich nicht, wie weit mein Einfluß noch reicht. Es wäre Prahlerei, wollte ich mich verbürgen. Es ist mir auch Unterbracht worden, er verkehre in allerlei verrufenen Lokalen, gehe mit gemeinem Volk um, wahrhaftig,[339] ich könnte heulen, wenn ich daran denke. Diese Blüte der Gentlemanschaft, dieser Stolz meiner fortgeschrittenen Jahre, dieser aus Tausenden Gesiebte! Leider Gottes hatte er bereits damals, als ich ihn verließ, gewisse konfuse Anwandlungen, aber ich schrieb sie auf das Schuldkonto jenes verdächtigen Subjekts, jenes Iwan Becker.«

»Sprechen Sie nicht von ihm, sprechen Sie nicht von Becker,« unterbrach Wiguniewski scharf, »jedenfalls nicht in dieser Weise, ich bitte ausdrücklich: nicht in dieser Weise.«

Crammon riß die Augen auf, und seine Zungenspitze wurde sichtbar wie eine rote Schnecke, die aus ihrem Gehäuse lugt. Er würgte sein Mißbehagen hinunter und zuckte die Achseln.

Wiguniewski sagte: »Sie geben mir immerhin einen Fingerzeig. Ich habe das nie in Betracht gezogen. Ich sehe nun manches in anderm Licht. Im übrigen ist es wahr, daß Wahnschaffe mit bedenklichen Leuten zu tun hat. Der bedenklichste von allen ist dieser Amadeus Voß, dieser Spieler und Heuchler. Wie darf man da an Iwan Becker denken; das hat gar keinen Sinn. Becker mag einen Weg gewiesen haben; es läßt sich annehmen, gewisse Vorgänge werden dadurch verständlich. Wenn etwas Unheilvolles vor sich geht, so kommt es von jenem Voß; vor ihm retten Sie Ihren Freund.«

»Ich habe den Burschen noch nicht zu Gesicht gekriegt,« murmelte Crammon; »was Sie mir da sagen, Fürst, trifft mich nicht ganz unvorbereitet, aber ich danke Ihnen trotzdem. Wehe dem Halunken; ich will nie wieder einen anständigen Tropfen aus einem Glase trinken, wenn er mir straflos entwischt. Ich will nie wieder nach einem verführerischen Busen blinzeln, wenn ich diesen Hundesohn nicht zu einem übelriechenden Brei zermalme. Das walte Gott.«

Wiguniewski brach auf und überließ Crammon seinen rachsüchtigen Plänen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 335-340.
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