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[354] Im Oktober begann es heiß zu werden am Rio de la Plata. Man konnte tagsüber das Zimmer nicht verlassen; wenn die Fenster geöffnet wurden, wälzte sich Feuer herein. Einmal wurde Lätizia ohnmächtig, als sie der gepreßten Luft Zufuhr verschaffen wollte und einen der Holzläden aufstieß.

Der einzige Ort, wo gegen Abend Schattenkühle herrschte, war die Palmenallee am Strom. Während der kurzdauernden Dämmerung stahl sich Lätizia bisweilen mit ihrer jungen Schwägerin Esmeralda heimlich hinüber. Der Weg führte[354] an den Ranchos vorbei, den armseligen Erdlöchern, in denen die eingeborenen Arbeiter hausten.

Einst sah Lätizia, daß die Rancholeute in Festtagsgewändern lustig zechten. Auf ihre Frage nach dem Grund erfuhr sie, ein Kind sei gestorben. »Sie feiern immer ein Freudenfest, wenn jemand stirbt,« sagte Esmeralda. Lätizia antwortete: »Wie traurig muß ihr Leben sein, wenn sie den Tod so lieben.«

Die Palmenallee war verbotenes Gebiet; lichtscheues Volk trieb sich dort herum, und mit der Dunkelheit wurden die Büsche lebendig. Vor kurzem hatte die berittene Polizei einen spanischen Matrosen dingfest gemacht, der in Galveston gemordet hatte. Lätizia träumte von ihm. In ihrem Traum war er ein Verbrecher aus Eifersucht und von schöner Tragik umwittert.

Eines Abends war sie in der Allee einem jungen Marineoffizier begegnet, der auf einer Nachbarestanzia zu Gast war. Lätizia tauschte Blicke mit ihm, und er suchte von da an Wege zu ihr. Aber man war eine Gefangene, bewacht wie eine Türkin im Harem. Lätizia faßte den Vorsatz, ihre Wächter zu betrügen; sie verliebte sich in den jungen Offizier, machte ihn zu einer Heldengestalt und begann sich nach ihm zu sehnen.

Die Hitze nahm zu. Lätizia konnte nachts nicht schlafen. Moskitos schwirrten süßlich, und sie wimmerte vor sich hin wie ein kleines Kind. Bei Tag schloß sie sich in ihrem Zimmer ein, warf alle Kleider von sich und legte sich auf die steinernen Fliesen.

Einst lag sie so, bäuchlings und mit wagrecht ausgestreckten Armen. Ich bin verwunschen, dachte sie, ich bin eine verwunschene Prinzessin in einem verwunschenen Schloß.

Da pochte es an der Tür, und Stephans Stimme rief sie an. Sie erhob faul den Kopf und spähte zwischen den schwergewordenen Lidern an ihrem nackten Körper herab. Wie langweilig[355] er ist, dachte sie; es ist so langweilig, immer nur mit einem zu sein, ich will auch andre haben. Sie antwortete nicht, ließ den Kopf wieder sinken und rieb die glühende Wange an der heißen Haut des Oberarms.

Es gefiel dem Haremswächter draußen, um Einlaß zu betteln. Aber Lätizia machte nicht auf.

Nach einiger Zeit hörte sie Lärm im Hof, Gelächter, Peitschenknallen, Detonation von Geschossen und gellendes Geschrei von Tieren. Erschrocken sprang sie auf, schlüpfte in den Seidenschlafrock, öffnete die Altantür und spähte hinunter.

Stephan hatte mittels einer Zündschnur zwei Katzen an den Schwänzen zusammengebunden. Leicht explodierende Feuerwerkskörper hingen an der Fessel. Als die aufzischenden Raketen ihr Fell versengten und die weiterglimmende Schnur ihnen Wunden ins Fleisch brannte, überschlugen sich die Tiere vor Schmerz und quiekten kläglich. Stephan hetzte und verfolgte sie, die Brüder, über das Altangelände gebeugt, wieherten vor Wonne, und als stumme und ernste Zuschauer standen zwei Indianer am Tor.

Daß die neugierige Lätizia ihre Tür öffnen würde, hatte Stephan berechnet und erwartet; ein halb Dutzend Sätze und er war oben. Esmeralda, mit ihm im Verständnis, stellte sich der flüchtenden Lätizia tückisch entgegen und hinderte sie am Schließen der Tür. Weiß vor Zorn stürmte er mit erhobener Faust über die Schwelle. Sie brach in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Warum schlägst du mich?« wimmerte sie entsetzt staunend. Er hatte sie gar nicht geschlagen.

Der Wüterich knirschte: »Damit du gehorchen lernst.«

Sie schluchzte. »Hüte dich; du tust zweien was zuleide.«

»Gift und Verdammnis, was sprichst du?« Er stierte bestürzt auf die kauernd Weinende.

»Du tust zweien was zuleide.« Lätizia freute sich, daß sie ihn foppen konnte und weinte, nur noch aus Mitleid mit sich.[356]

»Weib, ist das wahr?« fragte er. Lätizia lugte verstohlen zwischen ihren Fingern durch und dachte spöttisch: große Oper, letzter Akt, gleich wird der Gouverneur erscheinen. Sie nickte schmerzlich und beschloß, ihn mit dem Schiffsoffizier zu betrügen.

Stephan stieß ein Triumphgebrüll aus, tanzte um sie herum, warf sich zu ihr nieder, küßte ihre Arme, ihre Schultern, ihren Nacken. An den Fenstern und Türen erschienen Donna Barbara, Esmeralda, die Brüder, das Gesinde. Er hob Lätizia auf seine starken Schultern und trug sie über den Rundaltan. Man solle ein Festmal richten, schrie er, einen Ochsen schlachten und Sekt aufs Eis stellen.

Lätizia hatte keine Gewissensbisse. Sie freute sich, daß sie ihn gefoppt hatte.

Als der alte Gunderam die Ursache des häuslichen Jubels erfuhr, kicherte er und sprach zu sich selbst: »Angeschmiert, mein schlauer Rechtsgelehrter; den Escurial kriegst du doch nicht, trotz deinem Schwarzaufweiß, noch lange nicht, und wenn sie Drillinge wirst.« Er striegelte seinen eisengrauen Bart mit einem unappetitlichen Kämmchen, dem die Hälfte der Zähne ausgebrochen war, und goß zur Kühlung Kölnisches Wasser auf seinen Kopf, bis die Haare trieften, die ihm noch reichlich wuchsen.

Es erwies sich aber, daß die Notlüge, deren sich Lätizia bedient hatte, ohne ihr Wissen eine Wahrheit war. Einige Tage später wußte sie es. Sie wunderte sich still und heimlich. Jeden Morgen trat sie vor den Spiegel und betrachtete sich respektvoll und mit einem leisen Grauen. Sie fand sich unverändert, grübelte eine Weile elegisch und warf sich eine Kußhand zu.

Da man sich scheute, ihr einen Wunsch zu versagen, durfte sie einen Ball besuchen, den Sennor und Sennora Küchelbäcker veranstalteten. Dort lernte sie den Schiffsleutnant Friedrich Pestel kennen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 354-357.
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