[275] Nun schlief er, in der Kammer hinten, seit vierzehn Stunden. Die Witwe Engelschall beschloß, hinüberzugehen.
Sie schritt durch einen halbfinstern Gang, in welchem Vorräte aufgestapelt waren. Von der Decke hingen Schinkenkeulen und geräucherte Würste; auf der Erde standen Fässer mit Sardinen, Heringen und Gurken; auf Regalen Gläser mit eingemachten Früchten. Es roch wie in einem Kramladen.
Sie blieb stehen, fischte eine kleine Gurke aus einem offenen Fäßchen und schlang sie hinunter, ohne zu kauen.
Im Vordertrakt läutete es. Eine verschlampte Person, mit dem Besen in der Hand, wurde am Ende des Ganges sichtbar und rief der Witwe Engelschall zu, die Isolde Schirmacher aus der Stolpischen Straße sei da und habe was auszurichten. »Soll warten,« brummte die Witwe Engelschall. Sie trat leise in die Kammer, in der Niels Heinrich schlief.
Er lag auf einer Matratze, mit einem blaugemusterten Flanelltuch über sich. Die behaarte Brust war nackt, unten sahen die nackten Füße hervor. Die Kammer war nicht so geräumig, daß ein Schrank darin hätte Platz finden können. Wäschehaufen türmten sich in den Ecken, übelduftend. Handwerkszeug war auf dem Boden verstreut, ein Hobel, ein Hammer, eine Säge; alte Zeitungen lagen herum; an Nägeln hingen schmutzige Gewänder, Schlipse, ein paar Mäntel. Die Mauern zeigten Blutspritzer, die von getöteten Wanzen herrührten. Auf dem Tisch stand ein Leuchter mit einer herabgebrannten Kerze, eine leere Bierflasche und eine halbleere Schnapsflasche.
Er lag auf dem Rücken. Die Muskeln im Gesicht waren zerbogen, zerspannt. Zwischen den rötlichen Brauen vibrierten drei tiefgegrabene Falten. Die Haut war käsig. Auf der Stirn und am Hals glänzten feuchte Schweißflecken. Die Lider sahen wie schwarze Löcher aus. Das schmale rote Bärtchen[276] am Kinn bewegte sich mit dem Atem; es war etwas Lebendiges für sich, ein haariges Insekt, das aufpaßt.
Er schnarchte laut; eine Speichelblase stieg bisweilen aus den ekel voneinander weichenden Lippen, hinter denen die kariösen Zähne starrten.
Die Witwe Engelschall wagte nicht zu unternehmen, was ihr draußen als leicht ausführbar geschienen hatte. Schon gestern abend war sie so dagestanden, aber als er im Schlaf angefangen hatte, zu murmeln, war sie erschrocken hinausgerannt.
Es wollte ihr nicht aus dem Kopf, wo er die zweitausend Mark hingebracht, die er im Baubureau beiseite geschafft hatte. Seiner Behauptung, daß er alles an die Kassiererin vom Metropolkino gehängt, mißtraute sie. Um den Schaden zum Teil zu ersetzen und die Anzeige zu verhüten, hatte sie ihre sämtliche Leinenwäsche, zwei Kommoden und die Einrichtung des Sprechzimmers ins Leihhaus transportieren und eine Lebensversicherungspolice verpfänden müssen. Der Brief an den Geheimrat Wahnschaffe war nicht einmal beantwortet worden.
Sie glaubte es nicht, daß er all das schöne Geld für ein lausiges Weibsbild verquast hatte. Sicherlich hatte er noch etwelche blaue Lappen auf die hohe Kante gelegt. Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Ihn den Argwohn merken zu lassen, war gefährlich; aber in die Kammer schleichen, den klotzhaften Schlaf benutzen und die Kleider durchwühlen, die Hand unters Kopfkissen schieben, das konnte man riskieren.
Doch blieb sie unbeweglich stehen. In seiner Nähe war sie auf Unerwartetes vorbereitet. Man zitterte inwendig, sobald er den Mund auftat. Es wurde einem schon kalt, wenn Leute kamen, um von ihm zu erzählen. So war es stets gewesen; man mußte sich nur erinnern.
Als der Lehrer im Dorf den Zehnjährigen erwischt, wie er mit einer achtjährigen Göre Schweinereien getrieben, hatte er geunkt: der wird am Galgen enden. Als er, Lehrling noch,[277] bei einem Streit wegen des Lohns seinem Brotherrn die Faust unter die Nase gehalten, hatte jener geäußert: der wird am Galgen enden. Als er der Pastorin in Friesoyte das silberne Kettchen aus dem Sekretär stibitzt und die Witwe Engelschall das entwendete Gut zurückgebracht, hatte es geheißen: der wird am Galgen enden.
Man mußte sich nur erinnern. Seine erste Geliebte, die dicke Lola aus der Köpenicker Straße, hatte er zuschanden geprügelt, weil sie bei der Quadrille in Halensee einem Postgehilfen zugewinkt; als sie sich wimmernd auf der Erde gewunden und in ihrer Verzweiflung geschrien hatte: »Solchen Teufel gibts auf der weiten Welt nicht mehr,« hatte die Witwe Engelschall dem Wüterich ins Gewissen geredet und zu ihm gesagt: »Mensch, werde doch 'n bißchen gemütlich.« Aber er wurde nicht gemütlich. Gleich bei seiner zweiten Flamme passierte es, als sie in Umständen war, daß er sie zwang, sich von einem schlechten Weib behandeln zu lassen, mit dem er in gewissen Beziehungen stand, und daß das Mädchen daran starb. Nachher höhnte er noch über die Dummheit der Frauenzimmer, die keine Sache anständig besorgen könnten, das Kinderkriegen nicht und das Kinderabmurksen nicht. Glücklicherweise hatte niemand als die Witwe Engelschall die Worte gehört, und wieder hatte sie ihn beschworen: »Mensch, so werde doch 'n bißchen gemütlich.«
Im Grund bewunderte die Witwe Engelschall diese Eigenschaften. Mit dem war nicht gut Kirschen essen; der stellte seinen Mann; der führte sie alle an der Nase herum. Wenn er nur nicht immer eine so kindische Wut gegen unschuldiges Material bezeigt hätte; was das bloß kostete! Wollte das Feuer nicht brennen, riß er die Ofentür aus den Angeln; ging die Uhr mal falsch, schmiß er sie auf den Boden, daß sie zerschellte; war das Fleisch nicht gar gekocht, hieb er mit dem Messer in der Faust den Teller in Stücke; saß der Schlips beim Maschenknüpfen nicht aufs erste, riß er ihn in Fetzen[278] und das Vorhemd oft dazu. Dann meckerte er wieder, und man mußte ein Gesicht machen, als freue es einen. Schlimm wurde es erst, wenn er merkte, daß es einen verdroß; da schonte er nichts; was ihm unter die Finger geriet, wurde hin.
Wovon er nur in normalen Zeiten lebte, wenn ihm kein außergewöhnlicher Fang gelungen war; ein Rätsel. Beständig in Saus und Braus, beständig die Taschen voll Zaster und die Spendierhose an. Er arbeitete ja, manchmal vier Tage in der Woche, manchmal fünf; sein Handwerk hatte er inne, sie nahmen ihn überall gern, und er brachte in einem Tag fertig, was andre in dreien nicht schafften. Aber meistens machte er vom Montag bis zum Sonnabend blau und trieb sich an gottverbotenen Orten herum, mit Lumpen und Menschern.
Vieles wußte die Witwe Engelschall von ihm; vie les wußte sie aber nicht. Seine Wege waren heimlich. Befragte man ihn und er gab Bescheid, so war man um nichts klüger. Er braute immer was, er plante immer was. All dies nötigte der Witwe Engelschall tiefen Respekt ab. Es war Blut von ihrem Blut und Geist von ihrem Geist. Die Sorge freilich war groß. In letzter Zeit weissagten die Karten mit Beharrlichkeit Übles.
Da zauderte sie nun voller Furcht. Der fahle gelbe Schädel auf dem zerdrückten Kissen von grobem Barchent wirkte lähmend. Die kugelige Fleischmasse ihres Halses schlotterte, als sie sich endlich bückte und nach Rock und Weste griff, die unter einem Stuhl lagen. Sie kehrte sich ein wenig ab, um ihre Hantierung zu verbergen; plötzlich fühlte sie sich an der Schulter gepackt und stieß einen Schrei aus.
Niels Heinrich hatte sich lautlos erhoben. Im Hemd stand er da, bohrte den gelblodernden Blick in ihr Gesicht. »Alte Kanallje, was treibst du?« fragte er mit ruhigem Ingrimm. Sie ließ die Kleidungsstücke fallen und wich bebend zurück. »Hinaus!« rief er und streckte den Arm gegen die Tür.[279]
Er sah schreckenerregend aus. Das Wort erstarb der Witwe Engelschall auf der Zunge. Mit wankenden Knien entfernte sie sich.
Im Vorplatz wartete Isolde Schirmacher noch. Sie fing an zu weinen, als sie sich ihres Auftrags entledigte, die Witwe Engelschall möge sofort in die Stolpische Straße kommen. Karen gehe es schlecht, sie liege im Sterben.
Die Witwe Engelschall zeigte sich ungläubig. »Im Sterben? Nanu, so geschwind stirbt man nicht. Schönen Gruß, und ich komme. In ner Stunde bin ich dort.«
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
90 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro