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[293] Karen lebte noch am Morgen. Der Tod hatte einen schweren Kampf mit ihr zu bestehen. In später Nacht hatte sie sich noch einmal verzweifelt aus seiner Umklammerung gerissen. Jetzt lag sie in keuchender Erschöpfung da.

Arme, Hände und Brust waren von eiternden Geschwüren bedeckt, die zum Teil aufgebrochen waren.

Drei Weiber huschten durch die Stube: Isolde Schirmacher, die Witwe Spindler und die Frau des Buchbinders vom hinteren Flur. Sie raunten, trugen dies und das herbei, warteten auf den Arzt, warteten auf das Ende.[293]

Karen vernahm Tritte und Tuscheln mit Haß. Sie konnte nicht sprechen, kaum sich verständlich machen; hassen konnte sie noch. Sie vernahm Gekreisch und Gepolter aus der ehemals Hofmannschen, jetzt Stübbeschen Wohnung; das Aufstehen des Trunkenbolds in der Frühe war so unheilvoll für Weib und Kinder wie seine Heimkunft des Nachts. Der ganze Jammer, den er verbreitete, drang durch die Wand, und Karen wurde an ähnlich Greuelhaftes erinnert, aus verdämmerten Jahren.

Doch es gab nur noch eine einzige Beschwer und Qual: die, daß Christian nicht kam. Seit Tagen war er immer nur für kurze Zeit dagewesen, den letzten Tag und die letzte Nacht gar nicht. Dumpf wußte sie von dem Mord an der Jüdin; dumpf hatte sie gespürt, daß Christian ein andrer war seitdem; aber sie fühlte sich so schauerlich verlassen ohne ihn, daß sie genauer nicht hindenken wollte. Seine Abwesenheit war wie ein Feuer, an dem sie lebendigen Leibes verkohlte. Es schrie in ihr. Mitten im Röcheln der Agonie wieder mahnte sie sich zur Geduld, hob den Kopf und spähte, ließ ihn aufs Kissen fallen und würgte vor Gram die Zunge in den Gaumen.

Die Tür ging auf; sie erschrak. Es war der Doktor Voltolini; ihr Gesicht verzerrte sich.

Der Arzt konnte nicht mehr viel tun. Die Komplikation, die hinzugetreten war und die Lunge in Mitleidenschaft gezogen hatte, vernichtete jede Hoffnung. Für Erleichterungen sorgen, die Morphiumdosen vergrößern, andres blieb nicht übrig. Wozu auch ein solches Leben retten, mochte Doktor Voltolini denken, als er auf das schrecklich aussehende, mit dem Tod erbittert ringende Weib niedersah, ein so fertiges Leben, ein so überflüssiges und unreines?

Zum drittenmal traf er Christian nicht. Er empfand das Bedürfnis, mit ihm vertraulich zu sprechen. Er war ein verschlossener Mann; einen Fremden in sein Schicksal einzuweihen, war eine Versuchung, die er bisher nicht gekannt;[294] Christian gegenüber und im Gedanken an ihn war sie so heftig, daß er darunter litt. Besonders seit einer an sich bedeutungslosen Szene, deren Zeuge er geworden war.

Isolde Schirmacher hatte von einem Gesellen ihres Vaters, an den sie sich gehängt, einen Ring mit einem Rubin bekommen. In ihrer Freude hatte sie Christian den Ring gezeigt; unter der Küchentür war es. Doktor Voltolini trat eben aus der Stube. Sie streifte den Ring vom Finger, ließ den Stein, der ohne Wert war, im Lichte funkeln und fragte, ob das nicht ein prachtvolles Geschenk sei. Da hatte Christian in seiner eigentümlichen Weise gelächelt und hatte gesagt: »Ja, es ist sehr schön.« Die Witwe Spindler, die in der Küche stand, hatte laut aufgelacht, aber im Gesicht des Mädchens malte sich solche Dankbarkeit, daß es dadurch einen Augenblick lang selber schön wurde.

Auf der Stiege begegnete der Doktor Voltolini der Witwe Engelschall. Sie hielt ihn an und fragte um seine Meinung über Karen. Achselzuckend antwortete er, es sei keine Hoffnung, es handle sich nur noch um Stunden.

Die Witwe Engelschall hegte schon lange Verdacht gegen Karen. Sooft sie in die Stube trat, wurde Karen unruhig, hielt den Blick nicht aus, zog das Deckbett bis ans Kinn. Die Witwe Engelschall wußte, was schlechtes Gewissen war. Sie witterte ein Geheimnis und nahm sich vor, es zu ergründen. Eile tat not; zögerte man, so war es vielleicht zu spät, und man hatte sich ewige Vorwürfe zu machen. Die Sache war ohne Zweifel die, daß ihr Wahnschaffe Geld gegeben hatte, das nach alter Gewohnheit an ihrem Leibe verborgen war, im Strumpf, im Hemd, oder auch eingenäht in der Matratze. Das viele Geld, das der Mensch gehabt, konnte nicht spurlos verschwunden sein; gewiß hatte er noch ein oder zwei Dutzend braune Lappen oder ein paar Obligationen beiseite gebracht, und wer anders sollte die haben als Karen? Reimte man die Umstände richtig zusammen, seine Tollheit und nun[295] ihr Benehmen, so gewann das Ding ein Gesicht, und man mußte zusehen, daß kein Unfug geschah, denn war man nicht gerade dabei, um ihr die Augen zuzudrücken, so kamen dann allerhand Leute, der Schatz verschwand in Gott weiß welche Tasche, und vom Gesicht ablesen konnte mans keinem mehr. Auf dem Weg in die Stolpische Straße war der Witwe Engelschall alles dies erst völlig klar geworden.

Karen ahnte es.

Mit dem Fortschreiten der Krankheit war die Angst um die Perlen gestiegen. An ihrem Körper schienen sie ihr nicht sicher genug verwahrt; wenn sie das Bewußtsein verlor, und man hantierte an ihr herum, konnten sie entdeckt werden. Diese Furcht beeinflußte die Festigkeit des Schlafs; oft schreckte sie empor und starrte wild, mit unterdrücktem Aufschrei in der Kehle. Sie hatte sich angewöhnt, die Hände unter der Decke zu halten, und mechanisch wurde der Griff um die Perlenschnur krampfhafter, wenn die Sinne in Schlummer oder Ohnmacht versanken. Ein gräßlicher Alpdruck, den sie hatte, zeigte alle Möglichkeiten der Gefahr; es kamen Menschen; wer immer Lust hatte, spazierte in die Stube; sie konnte sich ihrer nicht erwehren; sie konnte nicht aufstehen und den Riegel vorschieben; am meisten war sie vor dem Doktor auf der Hut; sie zitterte vor seinem Auge, und von unter her saugte sie sich förmlich mit allen Poren an die Bettdecke, damit er sie nicht unversehens zurückschlagen konnte.

Die Perlen wanderten in ihrem Lager bald dahin, bald dorthin; bald unter das Kopfkissen, bald unter das Linnen; bald in den Überzug, den sie vorher aufknöpfte, bald an ihre nackte Brust, wo sie die eiternden Wunden berührten. Dessen innewerdend, rief sie sich dann mit grausam finsterem Schmerzenshohn zu: »Was bist du denn noch! Bist nur noch ein aussätziges Aas, du! Was bist du denn noch? Ein verhunztes Aas, vor dem dir selber ekelt.«

Allmählich war ihr an den Perlen der Begriff des Wertes[296] gleichgültig geworden; auch als ihr Christian in einer schlaflosen Nacht nach unablässigem Fragen eine Vorstellung davon gegeben, die diejenige, die sie bisher gehabt, um ein Vielfaches übertraf. Es waren Zahlen; sie schauderte ein wenig, staunte zweifelnd, schüttelte den Kopf und fand sich endlich ab. Es waren Zahlen. Eine ganz andre Wirkung ging von dem Gehänge aus, und die wurde stärker in dem Maß, wie jene ihr Wunderbares einbüßte. Anfangs war es Vorhalt, Klage um ein Schicksal; die Perlen schimmerten von einem jenseitigen Ufer herüber als Sinnbild eines Lebens, von dem man nie auch nur einen Hauch genossen, von dem einem keine Kunde geworden war. Es entfachte nicht Neid und Zorn, wie es früher der Fall gewesen wäre, bloß Kummer über das, was verspielt und vertan war. Darum verspielt und vertan, weil man nichts gewußt hatte von der Schönheit, von der Lieblichkeit, von der Freude, vom Schmuck, ja, man konnte sagen, von der Erde und vom Himmel nichts gewußt. Von vorn beginnen konnte man das zuschanden gelebte Leben nicht; es gab kein andres, und mit diesem wars nun aus.

Dann, im Liegen und Sinnen und Vergehen im Fleische, war es so, daß die verlorene Erde und der verlorene Himmel einem neugeschenkt waren, in jeder einzelnen Perle drin und in der ganzen Kette drin. Die Kinder, die gestorbenen, in Haß empfangen, in Haß hingeschwunden, die armseligen kaum zu einem Teil je erfüllten Träume, das Bangen, irgend einmal, nach irgendeinem Menschen, die spärliche Liebe, das kärgliche Licht, die kleinen Hoffnungen, die wenige Lust, alles war in den Perlen drinnen. Es versammelte sich und wurde zu einer Seele. Alles Versäumte, Verspielte, Weggeworfene, Nieerreichte, durch Not und Leid Verfinsterte und Verscheuchte wurde zu einer Seele, und dieser Seele war sie unermeßlich hingegeben im Liegen und Sinnen und Vergehen im Fleische, denn es war Christians Seele. Im Perlengehänge war[297] Christians Seele. Die faßte sie, die ließ sie nimmer los, die gehörte ihr, im Grabe noch.

Und ihre blauen Augen unter dem Haarhelm und der niedrigen Stirn hatten eine fetischistische Glut.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 293-298.
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