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[360] Jedesmal, wenn Christian Johanna Schöntag sah, war sie abgezehrter und verhärmter. Unter seinem beobachtenden Blick lächelte sie, und das Lächeln sollte täuschen. Sie glaubte sich genügend geborgen hinter ihrem Witz und den kleinen Harlekingrimassen.[360]

Sie kam meist gegen Abend, um eine Stunde oder länger bei Michael zu sitzen. Es war ihr zur Pflicht geworden. So leichtsinnig sie sich gab, so pedantisch war sie in der Erfüllung der Aufgaben, denen sie sich unterzogen hatte. An dem Tag, wo sie merkte, der Zustand des Knaben wende sich zum Bessern und erfordere daher ihre Betreuung nicht mehr, malte sich das Gefühl, nutzlos zu sein, so lebhaft in ihren Zügen, daß Michael sie prüfend anschaute und einen Begriff ihres Wesens in sich bildete. In seinen Augen schimmerte, durch Trotz und die alte Menschenangst noch zurückgedämmt, Dankbarkeit für ihre Opfer. Sie fing an, ihn zu beschäftigen; ihre Art war so fremd und so verwandt; Vertrauen bis zum offenen Wort konnte er nicht fassen, aber wenn sie fortgehen wollte, bat er sie, noch zu bleiben; wenn das übliche Schweigen zwischen ihnen war und Johanna das Buch aufschlug, das sie mitgebracht hatte, einen französischen oder englischen Roman, und, ohne recht zu lesen, den innen gequälten Blick über die Zeilen gleiten ließ, stellte er eine Frage, nach einer Weile wieder eine und wieder eine, und so entstanden Gespräche, in denen sie einander suchten und erforschten. Johanna war überlegen oder spöttisch oder mütterlich oder abweisend, je nachdem, sie hatte Waffen und Hüllen die Menge, und er war lehrhaft oder scheu oder zufahrend hitzig. Was sie sagte, klang vieldeutig; es verwirrte ihn; brach sie darüber in ihr spitzes Lachen aus, so war er ernüchtert und verletzt.

Sie sollte erzählen, wo sie herkam, wer sie war, was sie trieb; und sie erzählte von ihrer Jugend und von ihrem Elternhaus. Für ihn, der nur die Armut kannte, war es ein Märchen. Er sagte: »Sie sind schön,« und er fand sie wirklich schön, es war eine naive Huldigung, die sie erröten machte, fast verlieh sie ihr ein wenig Lebensfreude; nur ihre Hände, fügte er hinzu, seien nicht die Hände einer Reichen. Sie schien überrascht und antwortete mit dem Ausdruck des Selbsthasses, ihre Hände seien, was der Buckel beim Buckligen[361] und der Bocksfuß beim Teufel sei, ein Wahrzeichen, woraus man ihre eigentliche Beschaffenheit ersehen könne.

Michael schüttelte den Kopf. Aber er verstand nun ihre frierende Seele, die unendliche Sehnsucht darin und die unendliche Enttäuschung. Auf seine Frage nach ihrem Ziel und Tun schaute sie trüb-verwundert; gab es das, für ein Geschöpf wie sie, Ziel? Betätigung? Zu andrer Stunde dann offenbarte sie flagellantisch die vollkommene Inhaltslosigkeit ihres Lebens; alles war nur ein übler Spaß, den sich das Schicksal mit ihr erlaubte, eine Medizin, die man schlucken mußte, um geheilt zu werden. Die Heilung war dort, wo das Leben nicht mehr war.

Sie plauderte dergleichen so hin; es sollte nicht bitter sein; nicht einmal der Mühe, bitter zu sein, lohnte es, dies Nichtige, Graue, Erbärmliche. »Wenn nur wenigstens nicht so viele Menschen auf der Welt wären,« seufzte sie und verzog die Stirn in ihrer komischen Weise. Doch schämte sie sich auch vor dem Knaben, ward sich bewußt, daß sie in Worten frevelte, denn ihr Gefühl war ja Qual für sie, und sie konnte nicht spüren, was es an Wärme spendete. Furchtsam maß sie das Verständnis des kaum Fünfzehnjährigen an seinem düsteren Erlebnis, von dem sie keine Kunde besaß, an seinem düsteren Geist, der ihn reifer erscheinen ließ, und sank noch mehr in ihrer eignen Achtung, als sie ihn nachdenklich und bewegt sah.

Aber gerade ihre hingeworfene, heimlich blutende Schwäche, der zerfleischende Kampf, den sie fast wie eine Wahnsinnige gegen sich selbst führte, brachte ihn zum Erwachen und entzündete den Willen zur Welt in ihm. Er sagte: »Sie hätten Ruth kennen müssen.« Seltsamer Schatten Ruths trat aus Johanna her vor, Widerspiel Ruths. »Sie hätten Ruth kennen müssen,« sagte er immer wieder, und ihrem Warum antwortete nur sein aufleuchtendes Auge, in dem Ruths Bild bis jetzt geschlummert zu haben schien, um nun, in eine Flamme verwandelt, ihn zu führen.[362]

Johanna sagte zu Christian: »Ich glaube, dein Schützling braucht mich nicht mehr. Du brauchst mich erst recht nicht; also bin ich hier überflüssig und drücke mich einstweilen.«

»Ich möchte gern mit dir sprechen,« sagte Christian; »schon längst wollte ich dich darum bitten. Willst du morgen um dieselbe Stunde kommen? Oder soll ich zu dir kommen? Mach einen Vorschlag, ich füge mich dir.«

Sie erblaßte und erwiderte, sie wolle kommen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 360-363.
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