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[389] Mehr als eine halbe Stunde war in völligem Schweigen verflossen, da erhob sich Christian und zündete die Lampe wieder an. Sturz und Zylinder klirrten unter seinen zitternden Händen. Er fürchtete sich vor den Funktionen seiner Sinne, Gesicht, Gehör, Geruch. Jede Wahrnehmung wurde eine[389] Wunde des Bewußtseins und sickerte wie Gift in den Lebenskern. Langsam formten sich die trüben Umrisse zum Bild einer Wirklichkeit.

In ihm und von außen her drängte alles zur Entscheidung.

Krampfig hintübergebeugt, lag auf dem Stuhl vor ihm ein Mensch, dessen Gesicht ohne bezeichenbare Farbe war. Die Augen waren geschlossen, der Mund halboffen. Die kariösen Zähne und der matt hängende Kinnbart verliehen ihm einen Ausdruck von Bestialität. Die spitzfingrigen Hände mit blaugeschwollenen Adern regten sich wie Reptilien.

Die Stirn aber war über und über von Schweiß bedeckt. Wie die Tropfen aus dem Deckel eines erhitzten Gefäßes voll Flüssigkeit brach der Schweiß hervor und stand in dicken Perlen auf der Haut.

Dieser Anblick war so beängstigend, daß Christian sein Taschentuch nahm und Stirn und Schläfen mit vorsichtiger Gebärde abwischte. Und indem er es tat, fühlte er auch seine eigne Stirne naß. Er zögerte, mit demselben Tuch seine Stirn abzuwischen, aber da öffnete Niels Heinrich die Augen und sah ihn an: finster, tief und kalt. Er überwand seinen Abscheu und trocknete seine Stirn mit demselben Tuch.

Es wurde an die Tür gepocht. Niels Heinrich fuhr auf wie von einem Faustschlag getroffen und stierte wild, mit bleichen, leeren Augen.

Christian ging, um zu öffnen. Die Zurückkehrenden waren es, Michael und Johanna.

Niels Heinrich, taumelnd, suchte mit Blicken seine Mütze. Christian reichte sie ihm, mit einer vollkommen undurchschaubaren Artigkeit immer noch, und schickte sich an, Niels Heinrich zu begleiten. Dieser hatte nur einen Blick dumpfentsetzten Nichtbegreifens. Dann zog er die Schultern hoch und wankte, mit allmählich sich festigendem Schritt, von Christian gefolgt, zur Schwelle.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 389-390.
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