[420] Sie gingen aber dann zusammen fort, ohne daß sie noch Worte gewechselt hatten.
Der Pfandverleiher Grünbusch hatte schon geschlossen. Niels Heinrich suchte einen andern auf, in der Dunkerstraße, der ihm als verläßlich bekannt war. Er ließ Christian auf der Straße stehen, während er in das schmutzige Gewölbe schlüpfte. Er hatte eine Perle aus der Schnur gerissen, eine nur, zur Probe vorläufig, und bekam, nachdem sie der alte Hehler genau geprüft und gewogen hatte, eintausendfünfhundert Mark. Die Summe wurde ihm in Gold und Scheinen hingezählt. Er zeigte eine finstere Gleichgültigkeit. Er zählte kaum nach. Das Geld stopfte er in die eine Tasche des Rocks, die Scheine, beim Greifen sie zerknitternd, in die andre.
Geben? Was meint er, daß ich ihm geben soll? grübelte er; hat er am Ende schon Lunte gerochen, daß ich ihm die Perlen gemaust? Meint er das? Meint er, die soll ich ihm geben?
Als er wieder auf die Straße trat und Christian ohne Ungeduld und Argwohn warten sah, verzog er bloß das Gesicht. Und er setzte den Weg an seiner Seite wortlos fort.
Betäubt ertrug er die Wucht der fortwährenden Nähe des Menschen. Was daraus werden sollte, faßte er nicht.
Das Weinen des Menschen lag ihm in den Ohren und in den Gliedern. Es herrschte eine klare, kalte Stille in der Luft. Dennoch brauste es überall von dem Weinen des Menschen. Die Straßen, durch die sie kamen, waren zumeist wie ausgestorben. Dennoch war das Weinen drin, in weißliche Nebelgeister zerteilt. In den Häusern links und rechts mit den angeklebten Betonnestern der Balkone brauste es heimtückisch, das Männerweinen.
Er wagte nicht zu denken. Nebenher ging der Mensch und wußte den Gedanken. Ein Strick umschlang ihn, und er[421] konnte sich nur insoweit bewegen, als es der Mensch gestattete. Wer ist er denn? fuhr es ihm durch den Kopf, und er besann sich auf den Namen. Der Name war ihm entfallen. Und alles was der Mensch ihm gesagt, dieser plötzlich namenlos gewordene Mensch, stob in feurigen Flocken durch sein Inneres.
Nach einer halben Stunde waren sie am Ziel.
Der »Flinke Gottlieb« war ein Animierlokal für Arbeiter und Kleinbürger. Es enthielt eine ziemlich große Zahl von Räumlichkeiten. Zuerst betrat man das Restaurant und Café, welches die ganze Nacht hindurch von Gästen besucht war und dessen Hauptattraktion in einem Dutzend hübscher Kellnerinnen bestand, sowie in zwanzig bis dreißig andern Damen, die lächelnd, rauchend und herausfordernd kostümiert auf den grünen Samtpolstern räkelten und auf Opfer lauerten. An das Restaurant stieß eine Reihe von zellenartigen Gemächern, die für einzelne Paare bestimmt waren, und dann kam noch ein länglicher, korridorartiger Saal, der gelegentlich an Gesellschaften und Vereine vermietet wurde oder den verbotenen Glücksspielen diente. Die Ausstattung der Räume entsprach dem Geschmack der Zeit: überall strahlte Vergoldung, überall brüsteten sich Genien aus Stuck; mächtige Säulen, die hohl waren und nichts zu stützen hatten, versperrten den Weg, und Malereien von imposanter Gestrigkeit schmückten die Wände. Alles war neu, und alles war schon Schmutz und Verfall.
Niels Heinrich schob sich durch die Drehtür, schaute sich geblendet um, schlurfte an den Tischen vorüber, trat in den Gang, aus welchen man in die zärtlichen Zellen gelangte, kehrte wieder zurück, stierte den Mädchen in die geschminkten Gesichter, rief den Oberkellner und sagte, er wolle in den Saal hinüber, er wolle den Saal für sich haben, was es koste, sei schnuppe; man möge mal gleich zwanzig Flaschen Kupferberg ins Eis legen. Er holte drei Hundertmarkscheine hervor und schleuderte sie dem Befrackten verächtlich hin. Damit war[422] die Situation geklärt; der Befrackte schmeichelte sich durch eine würdige Amtsmiene ein; zwei Minuten später war der Saal festlich erleuchtet.
Es erschienen die Dirnchen; es erschienen junge Männer, Schmarotzer von Beruf; die frühverdorbenen Burschen mit dem Aussehen lungensüchtiger Lakaien; die unterstandslosen Kommis in ihrer buntscheckigen Eleganz; die zweifelhaften Existenzen mit dunkler Vergangenheit und noch dunklerer Zukunft; der »Flinke Gottlieb« hatte reichlichen Vorrat an ihnen. Sie pochten kordial auf alte Freundschaft mit dem Veranstalter des Gelages; er erinnerte sich keines einzigen, wies aber keinen zurück.
Er saß in der Mitte der langen Tafel. Er hatte den Filzhut in den Nacken geschoben, die Beine übereinandergelegt, die Zähne aufeinandergebissen. Er war weiß im Gesicht wie das Linnen auf dem Tisch. Freche Lieder wurden gesungen; man plärrte, schrie, kreischte, kicherte, witzelte, soff, wälzte und beschmatzte sich; Zoten wurden gerissen, mit Erlebnissen wurde geprahlt, auf Stühle wurde gestiegen, Gläser wurden zerschmettert: das Bacchanal räumte im Verlauf einer halben Stunde mit aller Nüchternheit und Steifheit auf. So gut traf es sich nicht oft, daß einer hereingeschneit kam und Kapitalien ausschüttete.
Niels Heinrich thronte kalt. Von Zeit zu Zeit rief er gebieterisch: »Sechs Flaschen Greno! ne Schokoladentorte! Neun Flaschen Witwe! ne Ladung Baisers!« Mehr sagte er nicht. Die Befehle wurden hurtig erfüllt und von der Versammlung mit Hoch und Hallo aufgenommen. Eine schwarzhaarige Person schlang den Arm um seine Schulter; er stieß sie brutal von sich. Sie muckste nicht. Eine feiste, übermäßig Geschminkte, bis an den Nabel Dekolletierte hielt ihm das Kelchglas an den Mund; er spuckte ingrimmig hinein. Beifall prasselte.
Er trank nicht. An der gegenüberliegenden Wand befand[423] sich ein riesiger Spiegel. Er erblickte im Spiegel den Tisch und die Zecher. Er erblickte auch die rote Draperie, die die Wand in seinem Rücken bedeckte; ferner einige kleine Tischchen vor dieser Draperie, an denen niemand saß außer Christian. Durch den Spiegel blickte Niels Heinrich hinüber und musterte scheu den Abgesonderten, dessen stumme Gegenwart der Gesellschaft anfangs aufgefallen war, um den sich aber längst niemand mehr kümmerte.
Zur Linken von Niels Heinrich spielten vier Kerle »Meine Tante, deine Tante«. Sie lockten Publikum und Teilnehmer an. Niels Heinrich warf bisweilen ein paar Goldstücke auf den Tisch. Er verlor jeden Einsatz. Gleichzeitig griff er immer wieder in die Tasche und warf Goldstücke hin.
Er sah in den Spiegel und erblickte sich selbst: fahl, dürr, verschrumpft.
Er warf einen Hundertmarkschein hin. »Kleen Vieh macht doch Mist,« renommierte er. Der Spiegel war verdeckt durch die Zuschauer. »Platz!« brüllte er sie an, »ick muß da durchgucken können.« Sie rückten gehorsam weg.
Er sah in den Spiegel und erblickte Christian, der schlank aufgerichtet vor der Draperie saß, horchend und unbeweglich.
Er warf zwei Scheine hin. »Die jehn Wasser holen,« brummte er.
Und wie er abermals in den Spiegel schaute, erblickte er einen nackten Rumpf, einen jungfräulichen Leib, strahlend in einer irdischen und in einer andern noch, einer überirdischen Reinheit. Die kaum geschwellten Brüste mit ihren rosigen Knospen hatten eine Süßigkeit der Form, die Bangen erzeugte, und ihr Enthülltsein war Schmerz. Nur der Rumpf war es, ohne Glieder, ohne Haupt. Wo der Hals endigte, war ein Ring aus geronnenem Blut; unten aber war das dunkle Dreieck der Scham als ein Mysterium.
Niels Heinrich stand auf. Der Stuhl hinter ihm stürzte zu Boden. Alle schwiegen. »Hinaus!« schrie er; »hinaus![424] hinaus! hinaus!« und deutete mit schwankendem Arm nach der Türe.
Die Tafelrunde erhob sich erschrocken. Einige zögerten, andre drängten bereits zum Ausgang. Außer Fassung griff Niels Heinrich nach dem Stuhl, schwang ihn über dem Kopf und schritt auf die Zögernden zu. Da stoben sie davon, die Dirnen kreischend, die Männer murrend. Nur die Kartenspieler waren sitzengeblieben, als ginge sie der Zwischenfall nicht an. Niels Heinrich strich mit der Hand über das Tischtuch, und die Karten flogen nach allen Richtungen. Die Spieler sprangen empor, entschlossen, sich zu wehren. Aber vor dem Anblick, den ihr Gegner bot, wichen sie zurück, und einer nach dem andern verließ den Saal. Gleich darauf kam der Befrackte, vornehm erstaunt, die Rechnung in der Hand. Niels Heinrich hatte sich, mit dem Rücken gegen den Spiegel, auf die Tischkante gesetzt. Dünner Schaum hing an seinen Lippen.
Er bezahlte. Die Höhe des Trinkgeldes milderte die abfällige Verwunderung des Befrackten. Ob der Herr noch Wünsche habe? Er wolle jetzt mal alleine saufen, antwortete Niels Heinrich; man möge ihm eine Flasche von der feinsten Marke bringen und Kaviar dazu. Eine der puppenhaften Kellnerinnen beeilte sich, brachte die Flasche, entkorkte sie. Niels Heinrich leerte gierig das Glas. Man solle die überzähligen Lichter auslöschen, gebot er, er brauche es nicht so helle. Man drehte die Lichter bis auf wenige Birnen ab, und es wurde düster im Saal. Kaviar wurde gebracht. Er verzog ekelnd den Mund. Man solle die Tür schließen und nur hereinkommen, wenn er am Knopf drücke, gebot er, und warf wieder Goldstücke hin. Es wurde ihm willfahrt.
Auf einmal war es still.
Niels Heinrich hockte noch auf der Tischkante.
Christian sagte: »Das hat lange gedauert.«
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