Selbstzersetzung

[467] Hochheil'ge Gebete, die fromm ich gelernt,

Ich stellte sie frech an den Pranger;

Mein kindlicher Himmel, so herrlich besternt,

Ward wüsten Gelagen zum Anger.


Ich schalt meinen Gott einen schläfrigen Wicht;

Ich schlug ihm begeistert den Stempel

Heillosen Betrugs ins vergrämte Gesicht

Und wies ihn hinaus aus dem Tempel.


Da stand ich allein im erleuchteten Haus

Und ließ mir die Seele zerwühlen

Von grausiger Wonne, von wonnigem Graus:

Als Tier und als Gott mich zu fühlen.


Auch hab ich, den mördrischen Kampf in der Brust,

Am Altar gelehnt, übernachtet,

Und hab mir, dem Gotte, zu Kurzweil und Lust,

Mich selber zum Opfer geschlachtet.[467]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 467-468.
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Die vier Jahreszeiten: Gedichte (insel taschenbuch)