Der Tantenmörder

[509] Ich hab meine Tante geschlachtet,

Meine Tante war alt und schwach;

Ich hatte bei ihr übernachtet

Und grub in den Kisten-Kasten nach.


Da fand ich goldene Haufen,

Fand auch an Papieren gar viel

Und hörte die alte Tante schnaufen

Ohn Mitleid und Zartgefühl.


Was nutzt es, daß sie sich noch härme –

Nacht war es rings um mich her –

Ich stieß ihr den Dolch in die Därme,

Die Tante schnaufte nicht mehr.


Das Geld war schwer zu tragen,

Viel schwerer die Tante noch.

Ich faßte sie bebend am Kragen

Und stieß sie ins tiefe Kellerloch. –


Ich hab meine Tante geschlachtet,

Meine Tante war alt und schwach;

Ihr aber, o Richter, ihr trachtet

Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.[509]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 509-510.
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