Die tiefe Richtung

[517] Endlich ist der große Tag gekommen,

Schon ist das Vergangne schrecklich nah,

Doch die Zukunft ist bereits verschwommen;

Auch die Gegenwart ist nicht mehr da.


Gott und Mensch und Weltall sind verschwunden,

Was einst sein wird, glüht im Morgenrot;

Stille stehn die sonst so raschen Stunden,

Und gestorben ist nun auch der Tod.


Aus dem Nichts entwickelt sich ein Grausen,

Eine Donnerstimme ruft: »Ich bin!« ...

Plötzlich jagt es mit Gewittersausen

Durch den weiten öden Raum dahin.


Alles starrt beklommen rings im Kreise,

Niemand blickt dem andern ins Gesicht;

Aus den Tiefen stöhnet sterbend leise

Eine Geisterstimme: »Ich bin nicht!« ...


Einem Mädchen nur aus hohem Norden

Ist die Lösung wunderbar geglückt:

Der Poet war Philosoph geworden

Und der Philosoph verrückt.[517]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 517-518.
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Die vier Jahreszeiten
Die vier Jahreszeiten: Gedichte (insel taschenbuch)