Dritte Szene

[22] Klara. Die Aufseherin. Josef.


JOSEF. Gnädiges Fräulein! Ich möchte um alles in der Welt nicht, daß mein Erscheinen Erwartungen in Ihnen wachruft, die im nächsten Moment zur schmerzlichsten Enttäuschung werden können. Glauben Sie bitte nicht, in mir Ihren Befreier vor sich zu sehen. Mit voller Bestimmtheit läßt sich in diesem Augenblick noch wenig sagen. Aber die Tatsache, daß mich der Herr Gefängnisdirektor Ihre Zelle betreten läßt, ist mir ein untrügliches[22] Zeichen dafür, daß Ihrem Geschick jedenfalls eine günstige Wendung nahe bevorsteht.

KLARA. Herr – Herr Professor! – Ich – ich – die Sprache – ich kann nämlich nicht sprechen! – in der Kehle – hier – seit vier Monaten – ich habe seit vier Monaten – keinen bekannten Menschen habe ich mehr gesehen! – Herr Professor – Plötzlich angstvoll auffahrend. Herr – Herr – Nein! – Gehen Sie fort, Herr! Lassen Sie mich allein! Sie bringen nichts Schönes, Herr! Mit Ihnen, Herr – kommt nichts Gutes über diese Schwelle! Nein! Niemals! Ich habe geschworen. Herr! Ich will mich auf das, was Sie mir sagen – ob Sie es mit Bestimmtheit sagen oder nicht mit Bestimmtheit sagen! – nie, nie mehr einlassen!

JOSEF räuspert sich laut, dann mit starker Stimme. Gnädiges Fräulein! In einer Viertelstunde von jetzt ab gerechnet – Es kann höchstens zwanzig Minuten dauern! – wird meine Frau hier bei Ihnen sein. Sie werden sich meiner Frau noch erinnern! – Gnädiges Fräulein, meine Frau hat ohne Ihr Wissen ein Immediatgesuch an den Landesherrn gerichtet ...

KLARA vor sich hinmurmelnd. Gnädiges Fräulein ...?

JOSEF. Meine Frau, gnädiges Fräulein, hat ein Immediatgesuch, indem sie unter allerhand Begründungen um Ihre Begnadigung nachsucht, durch ich weiß nicht welche Vermittelungen an seine königliche Hoheit zu bringen verstanden. Und seine königliche Hoheit – soviel steht augenblicklich unumstößlich fest – haben das Gnadengesuch selber in Händen gehabt ...

KLARA betrachtet lächelnd ihre Kleidung von oben bis unten. Das gnädige Fräulein, das soll wohl ich sein?

JOSEF. Ich konnte mit dem besten Willen nicht darauf gefaßt sein, gnädiges Fräulein, daß Ihnen der Anblick Ihres Lehrers, dem nur die Wahrscheinlichkeit einer baldigen günstigen Wendung in Ihrem Schicksal Zutritt zu Ihnen verschafft, daß Ihnen dieser Anblick so unerträglich sein werde! – Meine Frau hat sich an eine Dame gewandt, deren Verbindungen und Beziehungen gar keinen Zweifel an dem besten Erfolg ihrer Bemühungen aufkommen lassen![23]

KLARA bricht plötzlich in die Kniee und windet sich in Krämpfen auf der Erde. O womit habe ich das verdient! Womit habe ich das verdient! Nein, ich bin kein hysterisches Weibsbild! Ich bin nicht hysterisch! Ich bin es nicht! Aber ich kann nicht anders! Ich kann mir nicht anders helfen! O Gott, womit habe ich das verdient! O Gott, o Gott! ich bin nun einmal so! Die ganze vergangene Nacht habe ich an den fürchterlichsten Herzkrämpfen gelitten! Was Wunder, daß jetzt alles zum Ausbruch kommt. – O Gott, o Gott, o Gott, wenn mich doch jemand durchpeitschte! Wenn mich nur jemand peitschen wollte. Peitschenhiebe, bis ich kein Gefühl mehr in den Gliedern habe. Nur kein Gefühl mehr im Körper. Peitschenhiebe brauche ich. Nur kein menschliches Gefühl mehr! Um Gottes Barmherzigkeit willen die Peitsche. – Die Peitsche!

JOSEF kniet neben ihr nieder und streichelt ihr geschäftig Stirn und Wangen. Beruhigen Sie sich, mein Fräulein! Beruhigen Sie sich, mein Kind! Beruhigen Sie sich doch in des drei Teufels Namen! Habe ich als Ihr Lehrer denn nicht die Pflicht, mich darum zu kümmern, was aus Ihnen wird? Ich versichere Ihnen, daß ich Ihr Geschick während der ganzen Zeit Ihrer Gefängnishaft nicht eine Minute aus dem Kopfe verloren habe! Er richtet sie langsam empor. Und Gott sei's gedankt, hat sich Ihr Los doch seit dem Beginn Ihres Prozesses stetig zum Besseren gewandt. Vergessen Sie das doch bitte nicht! Sie sind jetzt auf dem allerbesten Wege, sich Ihr künstlerisches Leben neu zu gestalten. Denken Sie doch nur zurück! Unendlich viel schlimmer als der Aufenthalt hier im Gefängnis war doch für Sie die Zeit, die Sie in Antwerpen verlebt haben! Ihre Existenz war damals vollständig aussichtslos! War es denn da ein so unverantwortungsvolles Verbrechen von mir, daß ich Ihnen als Ihr Lehrer den Rat gab, nach Deutschland zurückzukommen, sich kurzerhand verurteilen zu lassen und in aller Stille Ihre Strafe zu verbüßen? Jetzt können Sie doch endlich Ihre ganze Lebenskraft wieder frei und ohne Hindernisse für Ihre Kunst einsetzen! Bedenken Sie doch, was Sie durch die Quälereien,[24] die Sie hier erdulden mußten, gewonnen haben! Die Hälfte der über Sie verhängten Strafen haben Sie ja nun schon glücklich überstanden! Und wie ich eben andeutete, findet das Rätsel Ihres Geschickes ja in diesem Augenblick vielleicht schon eine ganz unerwartete günstige Lösung!

KLARA unter seinen Liebkosungen wollüstig er schauernd. Wie wohl das tut! – O Gott, wie wohl das tut!

JOSEF. In Antwerpen kannten Sie keine menschliche Seele! Deutschland war Ihnen verschlossen! Zu Ihrer Mutter in die Schweiz zurückzukehren war Ihnen, solange Ihre künstlerische Zukunft nicht wieder frei und offen vor Ihnen lag, gleichfalls unmöglich!

KLARA. Sie hatten recht, Herr Professor! Gottes Gnade behüte mich davor, die Tage noch einmal erleben zu müssen, die ich in Antwerpen verbrachte! Das war schrecklicher als alles, was ich hier in den vier Monaten ausgestanden! Vor meinem Fenster der schwarze Kanal, in den ich hinunterstarrte, während ich Woche um Woche kein Wort über die Lippen brachte! Kein Klavier! Keine Noten! Tat ich einmal den Mund zum Singen auf, dann war mir meine Stimme das gellende Verdammungsurteil, vor dem ich mich in den dunkelsten Winkel verkroch! Ein zermalmender Donnerschlag war mir der leiseste Laut, den ich sang! Und in der Schweiz meine Mutter, deren Briefe mir gewissenhaft nachgeschickt wurden! Die nicht ahnen durfte, wo ihr Kind war, geschweige denn, weshalb es dort war! Ich las und las und sah keine Möglichkeit, ihr ein Lebenszeichen von mir zu geben!

JOSEF. Ja, was ich noch sagen wollte ...

KLARA. Als du dann schriebst, es wäre wohl das beste, zurückzukommen, weil ich ja doch voraussichtlich freigesprochen würde ...

JOSEF. Mein gnädiges Fräulein ...!

KLARA. Ja, ja! Gewiß! – Meine Richter dachten im Traum nicht daran, mich freizusprechen. Sie verurteilten mich zu acht Monaten Gefängnis und ließen mich aus dem Sitzungssaal in diese Zelle bringen! Aber trotzdem ist mir doch die Fahrt von Antwerpen hierher als das reinste,[25] schönste Glück im Gedächtnis, das mir seit den Erlebnissen meiner frühesten Kindheit zuteil geworden ist.

JOSEF. Sie spannen mich absichtlich auf die Folter!

KLARA. Wie es freilich jetzt um meine künstlerische Zukunft aussieht, das liegt einstweilen für mich noch im dunkeln. Legen Sie hier doch einmal Ihre rechte Hand auf Ihr Herz, Herr Professor, und sehen Sie mir in die Augen! Glauben Sie immer noch daran, daß ich in einem Jahr eine der gefeiertsten Wagnersängerinnen bin?!

JOSEF ihr ruhig in die Augen blickend. Wenn Sie bei mir Privatunterricht nehmen!

KLARA. Wenn ich bei Ihnen Privatunterricht nehme?!

JOSEF. Was kann ich Ihnen als Gesangspädagoge anderes antworten. – Gott sei Dank, da kommt meine Frau!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 22-26.
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