|
Die Vorrede, mit der Bettina von Arnim den »Briefwechsel Goethes mit einem Kinde« einleitet, beginnt mit den Worten: »Dies Buch ist für die Guten und nicht für die Bösen.«
Es liegt eine merkwürdige Verwahrung in diesem Satz, mit dem ein Mensch sich gegen die Mit- und Nachwelt zu sichern sucht. Es liegt die ganze Entschiedenheit eines glücklichen Temperamentes darin, das die Bettina trug, gleichzeitig aber auch Unsicherheit, die eines Fragwürdigen, eines Anfechtbaren sich durchaus bewußt ist. Es liegt eine Spur von schlechtem Gewissen in dieser Ablehnung der »Bösen«, Verzicht auf die Gerechtigkeit, das Maß, das diesem leidenschaftlichen Menschen bis zu seinem Ende fremd blieb. Vielleicht aber hat auch Bettina geahnt, wie schwer es sein würde, dieses Maß an sie zu legen. Sie war vielleicht im Tiefsten aufrichtig genug, sich für die Zukunft den Scharen jener einzuordnen, die allein in ihrer Beziehung zu einem Größeren gewogen werden, die, in das Werk bezogen, allein gewogen werden nach Hemmnis oder Verdienst an diesem Werk. Sie wußte im Innersten vielleicht, daß sie durch Goethe weiterleben würde, nicht durch sich selbst, und daß, weil niemand ihr Leben zu seinem eignen Ursprung verfolgen, niemand dem Gesetz seines Ablaufs würde nachgehen wollen, die Liebe der »Guten« ihr unentbehrlicher sein würde, als die Gerechtigkeit der »Bösen«.[145]
Warum aber sollte man nickt, um dieser Gerechtigkeit willen, in der Neigung und leichten Trauer einer nachdenklichen Stunde versuchen, diesen Beziehungen in umgewandter Folge nachzugehen; nicht auf dem gebotenen Weg Goethe-Bettina, sondern dem unwichtigen anderen: dem zu keiner Vollendung führenden, im Irdischen an kein Ziel gelangenden Weg Bettinas zu Goethe?
Dies ist die Folge ihrer Begegnungen: das junge Mädchen, dreizehnjährig aus klösterlicher Obhut entlassen, wird von dem Bruder Clemens der Dichtung Goethes zugeführt. Es liest; ohne Verständnis zunächst, aber mit einer starken Ergriffenheit der Seele, an der allmählich Fähigkeit zur Aufnahme auch des Kunstwerks reift. Mit zwanzig Jahren liest Bettina zum zweiten Male »Wilhelm Meisters Lehrjahre« – Mignons Gestalt ergreift sie wesensverwandt. Mignons Selbstverzehrung wird ihr das Maß; noch ehe ihr Gefühl an einen Menschen gebunden ist, trägt sie schon in sich die große Weite der Leidenschaft, hat sie schon Grenzen und Bewahrung überwunden. In dieser Zeit einer Hingabe, die doch noch Freiheit ist, wächst sie an allem, was das Leben ihr zubringt, saugt sie in sich, was sie berührt; im gleichen Maße, in dem ihr Geist sich bildet, wendet er sich immer von neuem den Büchern Goethes als unerschöpflicher Quelle zu.
So trifft sie das Schicksal: sie findet bei einem Besuch im Hause der Großmutter Laroche Briefe Goethes, aus denen klar die Innigkeit seiner Beziehung zu Maximiliane, der Mutter Bettinas, sich enthüllt: süßes und heißes Erschrecken, in dem das junge Geschöpf zum ersten Male[146] den Menschen erkennt, den fühlenden, an Menschlichem teilnehmenden, den liebenden Menschen Goethe, der plötzlich nun, wie grenzenlos geahntes Licht im Ausschnitt eines Fensterbogens, hinter der Dichtung sichtbar wird.
Dies ist der entscheidende Augenblick in Bettinas Leben; denn diese Menschwerdung eines bisher in unirdischer Ferne Verehrten vollzieht sich in ihrem Gefühl zugleich mit dem Entschluß, sich dieses Menschlichen zu bemächtigen, um damit des Göttlichen teilhaftig zu werden.
Mit der ihr eigenen Entschlossenheit ebnet Bettina sich den Weg nach Weimar, der über die Mutter Goethes führt. Enge Freundschaft entsteht; für Bettina ist die alte Frau Rat eine einzigartige Quelle der Mitteilung über den Geliebten; für die Mutter wird das Gespräch ein unentbehrliches Labsal, das sie speist mit Stolz und Erinnerung. Sie ist Vermittlerin zwischen dem Sohn und Bettina, Fürsprecherin bis zuletzt, wo allein Bettinas Sorge um sie noch mit Billigung und Dank von Goethe gewogen wird. Es ist nicht ihre Schuld, daß schon der erste an sie gerichtete Brief Bettinas, den sie in herzlichster Absicht nach Weimar schickt, eine klar geäußerte Mißbilligung Goethes zur Folge hat...
Bettina ist nach ihrem ersten Besuch bei Goethe ganz ein-gegangen in das Gefühl ihrer Liebe. »Ein Menschenkind, allein auf einem Fels, von allen Winden umbraust, so war ich, da ich meinen Herrn noch nicht erkannt hatte, nun wend ich mich wie die Sonnenblume nach meinem Gott« – schreibt sie in ihrem ersten Brief. Und weiter spricht sie zu sich mit den zärtlichen Worten des Liebenden: »Mein Kind, mein Herz«... und doch steht schon die[147] große Angst im Hintergrund: »Weh mir, wenn dieses alles nie zur Wahrheit wird –!«
Es ist niemals zur Wahrheit geworden, wenngleich sie zuweilen an ihre Seligkeit glauben darf in Augenblicken, da sie Gedichte von Goethe erhält, darin sie sich, die schweifenden und verwirrten Gedanken ihrer Briefe »in göttlichem Glanze wiedergeboren« findet. »Übersetzungen« nennt Goethe vorsichtig und scherzhaft die beiden Sonette.
Der Briefwechsel geht, von Besuchen Bettinas in Weimar unterbrochen, durch Jahre weiter. Bettinas Briefe werden immer länger, werbender und hingerissener, Goethes Briefe seltener, kürzer und kühler. »Er schreibt so kalt und steif, als ob er sich scheute, eine Leidenschaft in mir zu reizen,« klagt sie Arnim. Erschütternd, dem Kampf, den sie führt, in ihren Briefen beizuwohnen: sie ist kindlich und weise, verliebt und verzichtend, übermütig und voll Demut, geistreich und töricht; sie entwickelt alle Fähigkeiten, die sie in sich findet, sie breitet sich aus und steigert sich, sie rührt in Augenblicken an das Genie, sie reißt sich das Herz aus, um seinen Brand glauben zu machen – freundschaftliche Teilnahme ist das Höchste, das sie erreicht. So verliert sie allmählich Besinnung und Überblick. Sie gleicht einem Menschen, der seit langem ahnt, daß seine Mühe vergeblich ist, und der in einem letzten wohltätigen Taumel den Rest seines seelischen und irdischen Vermögens um ein Unerreichbares verschleudert. Bettina verschleudert so die Freundschaft Goethes im Kampf um seine Liebe. Sie wird aufdringlich, taktlos und muß sich Zurückweisung ihrer Zärtlichkeiten[148] gefallen lassen, mit denen sie vor Dritten ihn überhäuft. Als es dann noch zwischen ihr und Christiane in einer Ausstellung, die sie besuchen, zum öffentlichen Skandal kommt, wendet sich Goethe ab und er tut es nicht ungern. »Ich bin froh, daß ich die Tollhäusler los bin,« schreibt er Christiane. Bettina aber muß, o härtestes Los der Liebe, »ohne Fluch und ohne Segen« von ihm gehen. Übrigens ist sie seit einem Jahr mit Achim von Arnim vermählt. Aber dieses Ereignis bleibt ungespiegelt von ihren Briefen; sie teilt es Goethe geflissentlich auf eine Weise mit, die ihn zu einem Glückwunsch nicht kommen läßt. Und es wird auch diese Ehe keine Erlösung für ihr ungebärdiges Herz.
Nach fünf Jahren versucht sie, zum ersten Male wieder, Goethe zu rufen und sie verstärkt ihre Stimme durch die abgeschiedene seiner Mutter, die ihr Haar, letztes Vermächtnis, Bettinen überließ. Dieser Brief, dem keine Antwort wird, ist ergreifend in seiner bittern Einsicht: »Ich fühl es jetzt wohl, daß es nicht leicht war, mich in meiner Leidenschaftlichkeit zu ertragen.« Beschwörung unendlicher Qual, wenn sie der Stunden gedenkt, wo sie »mit Geistern zu kämpfen hatte, die sie zu ihm hin mahnten,« und denen sie so lange widerstand.
Vier Jahre hält sie noch aus, dann erzwingt sie sich Eintritt bei Goethe, den sie während einer Abendgesellschaft unangemeldet überrascht. Goethe ist alt geworden in diesen neun Jahren, er hat Zähne verloren, seine Lippen sind eingefallen, seine Augen erloschener: er sieht sie nur noch so obenhin, ohne besondere Freude, ohne besondere Abneigung. Aber die unselige Liebe dieser unseligen[149] Bettina saugt aus jeder Berührung mit dem Geliebten neue Kraft; in ihrem Brief, den sie auf diesen Besuch hin schreibt, den sie ein Jahr mit sich herumträgt und endlich doch noch abschickt, in diesem Briefe beschwört sie in einem unendlichen Aufschrei noch einmal die Schönheit dieser Hände, die sie bilden, der Lippen, die Leben in sie hauchen, all die Verheißung, die ihr das Schicksal hätte erfüllen sollen: »Sauge mich auf, verzehr mich, wenn Du mich nicht dulden magst!« –
Ein Denkmal, das die Frankfurter ihrem größten Bürger setzen wollen, gibt ihr eine neue Möglichkeit der Beziehung. Sie entwirft eine Skizze und beginnt zu modellieren: mächtige sitzende Gestalt Goethes mit der Leier, in die eine Psyche (mit Bettinas Zügen) greift. Man könne dem wunderlichen Ding eine Art von Beifall nicht versagen, ein gewisses Lächeln nicht unterdrücken, äußert sich Goethe darüber. Das Denkmal gelangt niemals zur Ausführung. Aber es hat doch wieder die äußere Möglichkeit einer Anknüpfung gegeben. Ein kurzer Aufenthalt in Weimar 1824 auf der Durchreise ergibt ein abendliches Beisammensein, über dem die Stille und Wehmut des Alters ruht und das ohne Mißklang verläuft. Goethe äußert sich später einmal über ihr beruhigteres Wesen: »Du hast gelernt Menschen zu schonen, denn vorher hast Du das niemals gekonnt. Nun mach, daß, wenn ich Dich nach einiger Zeit wiederum sehe, Du abermals was gelernt hast, so kann am Ende noch was draus werden.«
Aber schon diese arme Hoffnung treibt Bettina wieder über die eng gezogene Grenze; noch einmal ruft sie der Weg, auf dem allein sie sich erfüllen könnte. »Küssen,[150] Beten, Versinken, alles hast Du mich gelehrt, und nur in Dir hab ichs begriffen.«
Doch ist im Grund nun auch ihr unüberwindlicher Glaube dahin, weiß sie unwiderlegbar um die Vergeblichkeit ihres Kampfes, ist sie sich selbst zerstört durch die Verneinung des am tiefsten Geliebten. Und Frau, die sie so völlig ist, sucht sie nun die Bejahung, soviel sie möglich ist, und bei allen: sie verstreut ihr Gefühl, sie drängt ihre Gedanken auf, schreibt Briefe an Monarchen; sie übersteigert Talente, sie entfaltet eine Betriebsamkeit, die sie peinlich und unerträglich macht. Mit einem bösen Wort von der leidigen Bremse wendet Goethe sich entschuldigend an Carl August. Vier Jahre später noch eine Notiz in seinem Tagebuch: »Frau von Arnims Zudringlichkeit abgewiesen.« Künftig spricht sie nur noch allein. Keine Antwort kommt mehr auf ihre Briefe, in denen sie ihr Geschick als tragisches und erhabenes preist. Doch ihre Liebe, die so viel phantastische Wege einschlagen mußte, die im Rauschen des Wassers die Stimme des Geliebten betörend vernahm, die seinen Gestalten und seiner Gestalt begegnete im Reif der Winternächte und den Felsen des Spessarts, diese Liebe weiß noch eine letzte Berührung im Geiste zu finden: Bettina schickt ihren ältesten Sohn, der Deutschland nicht verlassen soll, ohne von Goethes Anblick gesegnet zu sein. Und es ist ein gütiges Nachgeben des Schicksals, das so viel verweigerte, daß dieser junge Arnim der letzte Fremde ist, den Goethe bei sich sieht, daß die Zeilen in seinem Stammbuch die letzten sind, die seine Hand geschrieben hat.[151]
Der Brief, den Bettina auf die Nachricht von Goethes Tod schreibt, ist erschreckend. Er ist ein Triumphgesang, ein Geschrei der Erlösung. Es ist ein »glorreicher« Eindruck, den sie empfangen hat. Nichts steht ihr künftig im Weg, niemand wird größeres Anrecht auf ihn haben als sie, ihre Gespräche sind reichlich mit Gegenrede belohnt, keiner Zärtlichkeit kann er die Aufnahme verweigern, die Wirklichkeit bricht nicht mehr in ihre Träume.
So ist endlich ein Ziel erreicht, anders als es gedacht war, doch immerhin ein Ziel. Keine gefährliche Hoffnung zehrt mehr an den Kräften der Seele; Bettina sammelt sich und das Verbliebene. Sie wird, da keine Sehnsucht nach dem Unerreichbaren mehr geht, sich dessen bewußt, was an Erreichbarem ihr geworden ist. Es findet sich genug, um vor der Welt mit Ehre bestehen zu können. Es findet sich sogar so viel, daß es nur eines geringen Vergessens und Verwischens bedarf, um auch ihr selbst noch eine späte Genüge zu bringen. Und so entsteht, da sie inzwischen ihre Briefe aus Goethes Nachlaß zurückerhalten hat, jenes Buch, jener »Briefwechsel mit einem Kinde,« das nur den Guten gehören soll. Es entsteht ihr unter der schreibenden Hand eine Vergangenheit, verklärt und schrankenlos, mit der Erfüllung, die ihr im Leben versagt war. Diesen Briefwechsel mit dem echten (»Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe«, herausgegeben von Fritz Bergemann im Insel-Verlag) zu vergleichen, ist der ein wenig schmerzliche Einblick in eine Seele, die leidenschaftlich und feinhörig genug war, genau zu erkennen, was gesagt war und was hätte gesagt werden sollen. Und die mit einer großzügigen Retusche das Bild so umgestaltete,[152] wie sie es als ihr Recht und ihren Anspruch empfand. Und dieses Rechtes und dieses Anspruchs wegen hat sie im Eingang die Zweifler mit den Bösen identifiziert. Sie hätte, bei dem angestrengtesten Willen zur Selbsterkenntnis, für jene Umwandlung, die sie vornahm, kaum eine andere Bezeichnung finden können, als vielleicht jene pathetische des Riccaut de la Marlinière, des »corriger la fortune«.
Das Schicksal, das sie getroffen hatte, war ihr bis ins Letzte unbegreiflich. Es sind die peinlichsten und rührendsten Stellen ihrer Briefe, wo sie von Versuchen, sich Goethes Augen als jenen »magischen Eindruck« darzustellen, der sie niemals für ihn gewesen ist, wo sie von diesen Versuchen über Vergleiche mit den Gestalten seiner Romane schließlich zu der naiven Frage kommt, ob sie nicht besser und liebenswürdiger sei als diese alle? Sie war sich der Vorzüge ihrer Klugheit, ihrer geistigen Beweglichkeit, ihrer Eigenart durchaus bewußt. Sie machte das, was ihr von Goethes Dichtung begreiflich war, in einer Leidenschaft sich zu eigen, die sie zu der Überzeugung brachte, niemand könne ihn tiefer verstehen als sie. Und dieses Verstehen wieder erfüllte sie mit Ansprüchen: wenn Goethe lieben konnte, wenn die Urbilder jener rührenden Gestalten – von Lotte, die sie haßte, bis zu Ottilie, die sie tadelte – sein Gefühl erschüttert hatten, warum sah er nicht an ihr das, was von den anderen ihn so sehr ergriff! »Was sind die Reifröcke seiner Jugendliebschaften alle gegen mein dahinschwimmendes Gewand?« schreibt sie seiner Mutter einmal.
Ein anderes Mal beschwört sie den Geliebten, er möge[153] sich nicht an ihr versündigen, indem er sich ein »geschnitzeltes Bild« zur Anbetung mache, »während die Möglichkeit ihm zu handen liege, ein wunderbares Band der Geisterwelt zwischen ihm und ihr zu weben.« Wenn sich auch hier der Irrtum äußert, der all ihren Forderungen zugrunde liegt, der Irrtum nämlich, daß Liebe sich begründen lasse, so scheint das »geschnitzelte Bild« doch ein Vergleich, der nicht ohne tiefere Ahnung ist. An Bettina zu »schnitzeln« war keine Möglichkeit. Man könnte von ihrer Seele sagen, daß sie körperlos gewesen sei, wollte man sie mit der Ottiliens aus den Wahlverwandtschaften vergleichen und der Süße ihrer irdischen Gebundenheit. Bettina lebte in der Erregung, der Emanation ihrer Gefühle; gleichzeitig genoß sie sich in diesen Gefühlen und ihren Sensationen. Sie war ohne Instinkt und übertrieb diese Betrachtung um Goethes willen zu einer beinahe narzissistischen Selbstbespiegelung; sie war ohne Geheimnis vor sich selbst. Goethe aber liebte mit dem Egoismus seines Genies.
Sie hatte außerdem nichts, das Goethe fremd gewesen wäre. Sie hatte viel, aber was sie besaß, war ein geringer Bruchteil des Übermaßes, das der junge Goethe verschwendet hatte, der alte verwarf, soweit es sich nicht in die reine Form fügte, in die er sein Leben gefaßt hielt. Sie suchte ihn auf einem Wege, den er längst verlassen hatte. Was hätte ihm so tief Gekanntes, so weise Überwundenes anderes entlocken können als ein vielleicht gerührtes Lächeln der Erinnerung an Zeiten, in denen, wie er ihr einmal schreibt, er genau so »närrisch« war wie sie? Für seine Gegenwart, die gesättigt war mit der Weisheit[154] der Entsagung und voll der Neigung für die geheimnisvollere Klarheit der Einfalt, für diese Gegenwart lag die Liebe außerhalb einer romantischen Seelenverschmelzung, wie Bettina sie erträumte.
Sie ist nach der Herausgabe des »Briefwechsels« auf dem früher eingeschlagenen Wege weiter gegangen: dem Wege, Menschen zu bezaubern mit der großen Biegsamkeit ihrer Talente. Sie machte weiter reden von sich durch Bilder, die sie zeichnete, Lieder, die sie komponierte, durch Briefe, Widmung und Fürsprache. Sie setzte die Täuschung der Welt fort durch die lange Reihe ihrer Freunde, die sich ablösten, Musiker, Bildhauer, Schriftsteller. Sie schenkte dem Fürsten Pückler Goethes Ring mit der blauen Gemme und widmete ihm den »Briefwechsel mit einem Kinde«. Sie tat alles, um dem einen Erlebnis, das sie gezeichnet hatte, andere anzufügen, bis es eingeglichen schien, in das wechselnde Auf und Ab ihres bewegten Lebens. Ihr Temperament, vom südlichen Blut ihres Vaters beschwingt, hat sich mit Bestimmtheit dazu gefunden, die Rolle (in der auch Goethe in den »Wahlverwandtschaften« als die wenig sympathische Luciane sie dargestellt hat), die Rolle eines Irrwischs also, eines ewig nach Neuem gierigen, unstäten Geschöpfes zu spielen, als sich dem Bewußtsein ihres Unglücks und des Bruches auszuliefern, der durch ihr Leben ging. In dieser Gestalt ist sie denn auch eingegangen in die Überlieferung der Literaturgeschichten, in diesem Sinn hat sie die Nachwelt sich verpflichtet für all die Anregung, die sie gab. In diesem Sinn hat sie aufgelöst, verleugnet, weggelebt, was[155] sie einmal als ihre tiefste Erfüllung ersehnt und Goethe geschrieben hatte: »Ich dürfte fort und fort im Hause herumwandern und keiner wüßte, wer ich wär, und Niemand wüßte, wo ich hingekommen wär, und so vergingen die Jahre und das Leben und in seinem Anblick spiegelte sich mir die ganze Welt, ich bräuchte nichts anderes mehr zu lernen.«
Ob sie am Ende dann geworden war, was sie so lange schien – wer könnte es entscheiden?! Sie starb zu Berlin in der Nacht des neunzehnten Januars, siebenundzwanzig Jahre nach Goethes Tod.[156]
Buchempfehlung
Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.
162 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro