Sechster Auftritt

[265] KÖNIGIN alleine.

Wohl mir! daß ich vom neuen atmen kann! –

Was widerfuhr mir? was? ich weiß es nicht. –

Thyest! – Es bebt die kleinste Nerv' in mir

Bei seinem Namen! – Ah! sein Angesicht! –

Der Sprache Ton – ein ganzes Ebenbild

Von dem, den ich im Traum gesehn, zuvor

Niemals gesehn. – Ein jedes Wort von ihm

Ward eine Flamm' in meiner Brust und fuhr

Empor in mir, erstickte mir die Sprache! –

Mein Herz flucht still dem Atreus: jede Qual,

Die er ihm droht fühlt' ich durch jedes Glied.[265]

Ich fühlte jede Pein, die ich ersann,

Als ich den Faden ihm verlängerte,

An dem sein Leben hängt; und fühlte nicht,

Was Atreus Wut mir da zu fürchten gab! –

Ah! was ist das? – Ich glaube, schreckte mich

Nicht die Gefahr von meinem Sohn ... Tyrann!

Wär' er das, was du glaubst, mein Sohn von dir!

Megäre wär' nicht grausamer als ich? –

Thyest! Thyest! was spricht für den Thyest? –

Ein Bettler? ein Tyrann? ein Feind des Atreus?

Die traurigste Gestalt? – mir flucht er selbst? –

Ha! ist das Elend denn weit mächtiger

Als jener Glanz, der einen Thron umgibt?

Verschlingt er Tugend? Pflicht? – Ich träume noch! –

Umsonst hält die Vernunft mein Glück mir vor! –

Sog ich ein Gift aus seinen Augen ein?

Ist er ein Sohn des Erebus, der uns

Durch Zauberei ein anderes Auge gibt?

Ein andres Herz in unsern Busen senkt?

Er muß es sein! – Aerope – trank sie nicht

Auch dieses Zaubergift? nein, nein, er soll

Mich nicht berauschen; nein, ich will die Pflicht,

Den Ehrgeiz und den Ruhm erst hören, dann –

Dann sehn, was für das Mitleid übrigbleibt!

Quelle:
Das Drama des Gegeneinander in den sechziger Jahren, Trauerspiele von Christian Felix Weiße. Leipzig 1938, S. 265-266.
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