Fünftes Kapitel

[337] Da war er nun in dem großen, schönen, weiten Berlin! wie in einem großen Walde verirrt! verloren in den unendlichen Straßen! fragte jeden Augenblick nach der Wohnung des Kaufmanns, an welchen er adressiert war, ließ sich nebst seinem Begleiter die Marschroute aufmerksam vorzeichnen, und wenn er fünf Minuten gegangen war, weg war die ganze Landkarte! So irrte er durch die Straßen, quer und längs hindurch, und sooft er fragte, war er falsch gegangen: ein Bursch erbot sich, ihn für eine Erkenntlichkeit zurechtzuweisen: zu seiner Herzensfreude entdeckte er noch einen verkrochnen Groschen im Winkel der Tasche, und nun war ihm geholfen. Bei einer Wendung um eine Ecke sah er sich nach dem Bauer um, der ihm bisher mit vielen Beschwerden über das harte Pflaster langsam nachtaumelte: aber er war verschwunden, blieb verschwunden, und er allein weiß, wie er wieder nach Hause gekommen ist.

Der Kaufmann hatte vor vielen Wochen schon auf den neuen Lehrburschen gehofft, verkündigte ihm, daß er Schwingern nur versprochen habe, ihn auf ein halbes Jahr zur Probe anzunehmen, und stellte ihm ein Paket Briefe zu, das lange schon seine Ankunft erwartet hatte.

Wie verändert war abermals die Szene! Ein enges Kämmerchen, keine Stube, nahm ihn ein: wie war der große Herrmann, der jüngst auf den Schwingen des Ruhms nach Berlin eilte und sich noch vor einigen Tagen von der Bauerfamilie wie einen Gott angebetet sah, wie war der große Mann abermals gesunken! So gütig sein neuer Herr sich gegen ihn bezeigte, so sprach er doch im Tone des Herrn mit ihm: traurig schlich der gedemütigte Jüngling auf gegebne Erlaubnis in die warme Stube des Dieners und las mit beklemmender Empfindung seine Briefe.

Schwinger, der das Paket besorgt hatte, meldete ihm, daß er dem Grafen und der Gräfin seinen Aufenthalt in Berlin habe verhehlen und sich stellen müssen, als ob er von ihm nichts wüßte, um sich nicht ihren Unwillen zuzuziehn. – ›Sie sind[337] so sehr wider Dich erbittert‹, sagte er, ›daß sie auch mich als Deinen Mitschuldigen hassen würden, wenn sie erführen, daß ich mich Deiner annehme. Ungerufen geh ich itzt niemals auf das Schloß, weil ich's doch nie ohne Betrübnis und Ärger wieder verlassen kann: sowenig ich mich also um die innern, immer fortwährenden Unruhen desselben bekümmere, so weiß ich doch für gewiß, daß dem Graf ein Brief von der Oberstin aus Dresden in die Hände gefallen ist, worinne die Flucht der Baronesse erwähnt wurde, und daß er die Gräfin gezwungen hat, ihm den ganzen Verlauf umständlich zu erzählen. Seinen Zorn und die Leiden der armen Gräfin kannst Du Dir leicht vorstellen – denn Dein letzter, reuvoller Brief läßt mich vermuten, daß Du wieder einer vernünftigen Vorstellung fähig bist. – Der Zorn, und ich möchte fast sagen, die Wut ging bei dem Grafen so weit, daß er Anstalt machte, Dich in Dresden in Verhaft nehmen zu lassen und eine exemplarische Strafe wider Dich auszuwirken: wenn Du also, meinem Rate gemäß, zu der von mir bestimmten Zeit nach Berlin gegangen bist, so hast Du eine Schande vermieden, die Dir nach Deiner Denkungsart äußerst empfindlich sein müßte. Ich zittre für Dich, lieber Freund, wie ein Vater für sein Kind, solange ich über diesen Punkt keine Gewißheit von Dir habe.

Den Aufenthalt der Baronesse hat die Oberstin ausgekundschaftet, und man wird nächstens unfehlbare Maßregeln ergreifen, sie in Sicherheit zu bringen, wenn es nicht schon geschehen ist. Also, lieber Freund, wenn Du nicht durchaus Dein Unglück willst, so laß Dich nicht gelüsten, in Deine Torheit zurückzufallen; und wenn Ulrike mit Dir in einem Hause wohnte und aus einer Schüssel äße, so verschließe Deine Augen! Wache über Dein Herz! Laß ihm nicht eine Minute lang den Zügel schießen! es reißt gewiß mit Dir aus, wenn Du ihn nicht beständig straff anziehst. Entsage lieber dem Vergnügen alles weiblichen Umganges! habe den Mut, den Beifall der Frauenzimmer zu entbehren! Besser ist Dir's, ein Dummkopf oder ein trockner, kalter, blödsinniger Mensch von ihnen gescholten zu werden, als daß Dich eine verliebte Betörung für einige Augenblicke Vergnügen zeitlebens unglücklich[338] macht. Du kennst nunmehr Deine Stärke und Schwäche: nütze diese Erfahrung!

Noch eine Nachricht will ich Dir, statt einer Belohnung für die Besiegung Deiner selbst und für Deine Rückkehr zum vernünftigen Verhalten, geben; und warum sollte es nicht für den beleidigten ehrlichen Mann eine Erstattung des erlittnen Unrechts sein, zu sehen, daß seine Feinde sich selbst strafen? Jakob, unser aller Verfolger, ist mit seinem Vater in die größte Uneinigkeit geraten: sie haben sich über einen kleinen Vorteil entzweit, den sie sich bei dem Verkaufe einiger Kostbarkeiten zur Schuldenbezahlung des Grafen machen wollten oder gemacht haben: jeder glaubte von dem andern an seinem Anteile verkürzt zu sein. Im ersten Zorne entdeckte der Vater dem Grafen die Spitzbübereien des Sohns, und der Sohn rächte sich durch ähnliche Entdeckungen am Vater; das Blut starrt mir in allen Adern, wenn ich die Betrügereien, Bosheiten und Schelmenstreiche höre, die bei dieser Gelegenheit herausgekommen sind und noch täglich herauskommen. Sie haben unstreitig das meiste zum Ruine des Grafen beigetragen, der seine Gläubiger durch die Bezahlung einiger Posten besänftigt hat: aber ich fürchte, sie sind nur auf einige Zeit besänftigt: doch läßt sich wenigstens hoffen, daß diese Besänftigung von längerer Dauer sein wird, wenn sich der Graf überwinden kann, jene beiden Bösewichter von sich zu schaffen. Man arbeitet aus allen Kräften daran, und der Vater ist sogar in gerichtliche Untersuchung geraten: aber der Sohn, der itzt bei kälterm Blute den Schaden einsieht, den sie sich durch ihre beiderseitige Unbesonnenheit zugezogen haben, gibt sich unendliche Mühe, den Grafen zur Aufhebung der Inquisition zu bewegen; und seine Mühe wird ihm zuversichtlich gelingen; denn die Untersuchung wurde nur im Anfalle der ersten Hitze anbefohlen, und der Stolz des Grafen, wenn der Zorn vorüber ist, erträgt lieber den Verlust seines ganzen Vermögens, als daß er durch die Bestrafung eines offenbaren Diebes das Bekenntnis ablegen sollte, er habe sich geirrt und sein Vertrauen einem Unwürdigen gegeben. Inzwischen ist doch zur Erniedrigung unsrer Feinde[339] so viel geschehen, daß der Vater die Oberaufsicht über die Herrschaft verloren hat und in Pension gesetzt werden soll. Auch mir hat der Habsüchtige, wie es sich nunmehr erweist, seit Ulrikens Abreise von hier die Hälfte meines Gehalts entzogen: ich wußte diese Verringerung zwar und ertrug sie gelassen, weil sie mir der Betrüger auf vorgeblichen Befehl seines Herrn ankündigte: allein der Graf hat sich nie so einen Befehl einfallen lassen, und die ohne sein Wissen abgezogene Hälfte hat jener Elende, der diese Auszahlungen besorgte, an sich gerissen und in der Rechnung verfälschte Quittungen untergeschoben. Fräulein Hedwig hat ein gleiches Schicksal erlitten. Was mich am meisten kränkt, ist der Betrug, womit er Deinen Vater hintergangen hat: nach der Verordnung des Grafen sollte er nach seiner Absetzung sein ganzes Salär behalten, bis er eine andre Versorgung fände: allein der gewissenlose Siegfried setzte ihn auf den vierten Teil herab, der so wenig betrug, daß Deine Eltern nicht ohne Not davon leben konnten: auch hier hat er sich durch verfälschte Quittungen geholfen. Hätten Deine Eltern nicht bei einem herrenhutischen Leinweber, einem alten Freunde Deines Vaters, Schutz gefunden, so wären sie nicht sicher vor dem Mangel gewesen. Ihre eignen Briefe, die ich Dir hier übersende, werden Dich vermutlich näher davon belehren –‹ usw.

Der erste unter diesen Briefen, den Herrmann erbrach, war von seiner Mutter.


›Got zum Krus herzgelibtes Kint, liber son wir sint alle gesunt und frelig in dem liben Heiland, megte wol wisen wo Du Stikst hast so lange nicht geschriben und uns allen so weh nach tir Gemacht, Ich unt Dein fater sind forigen Monad von einen kristligen leinwäwer zu unsern liben Heilant bekert und haben diesen Monad als am ersten huigus zum erstenmale das heilige Libesmal gehalten. winschen von Herzen das der libe heilant dich bald nachholen mege, bereie deine Sinden libes Kint, unt schlag an teine Prust, teinen fater wars nicht recht lustig di weld zu ferlasen und den liben heilant anzuzin, Wir haben dem Alten starkop was rechtes zugerett, ta lachte uns der hellenbrant aus das wir in bekeren wolten[340] der kristlige leinwäber unt ich, unt hat geflucht das der kristliche Leinwäber in nicht mehr im hause leiten wolte. Er hat Dir geflucht libes Kint das einem grin und Gälb vor den Augen wurte. ta bädte der christliche leinwäber so fil das mein gotloser man das kalde fiber krigte das schittelte ihn das ich nicht andersch tachte als er wirte in seinen sinten dahinfaren libes Kint s hat in geschitelt wol ellenhoch unt in der Hitze hing im di Zunge armsticke zum halse heraus und er hat ausgestanten wie ein Fich (Vieh) ach da lernte er gar balt den liben Heilant erkennen und hat sich bekert und ist widergeboren man sit seinen spektakel an ihn weil er fon dem garstigen fiber noch so elent aussicht libes Kint, sick tich for unt tue buse, s sind gar ser schwäre Zeiten. Der kristliche Leinweber bätt alle Dage for dich das der libe heilant auch balt iber dich kommen mege, der her Hofmeister Schwinger hat uns gar ser ankst gemacht als wen tu werst verfallen in sintliche liste und fleischeslust unt das er nicht sagen tirfte wo tu werst, las tich ja nicht fom satan blenden das tu dich verlibst unt lose Streiche machst wir werten uns wol in tisem leben nicht witer sehn bis wir alle heimgegangen (gestorben) sint Deine getreie Mutter bis in den Dod

A.M.P. Herrmannin.


Aeben erfaren wir das tu in Perlin bist, ta wars nicht anters als wen mir gemand eine rechte derbe Maulschelle gebe ta ich das las ins Herrn Hofmeister Schwingers Brife ach tu liber son da habe ich mich recht gekrämt das tu an einen so garstigen Orte bist. ter kristliche Leinwäber hat mich noch getrest er sagte s weren ser fil Widergeborne unt fromme Brider dort di tich zu dem liben Heilante bekeren wirten, das wünschen wir tir von Herzen Amen.‹


Endlich zeigte sich auch ein Briefchen vom Vater, so zitternd und unleserlich geschrieben, daß man jedem Zuge das Fieber ansah.


B** den 26. Novemb.


Heinrich!

Mein kaltes Fieber und meine Nille haben mich so lange geplagt, bis ich ein Herrenhuter geworden bin: aber ich werde[341] es wohl nicht lange treiben. Des Kopfhängens und Pimpelns und Seufzens bin ich nachgerade überdrüßig: fluchen und reden darf ich auch nicht, wie ich will: wenn mir nur einmal so ein kleines »Hol mich der Teufel!« über die Zunge fährt, so schrein sie gleich alle auf mich zu, als wenn das Haus brännte. Es ist ein rechtes Hundeleben, wenn man nicht reden darf, wie einem der Schnabel gewachsen ist: aber ich muß freilich ein übriges tun und mir das Maul verbinden lassen, sonst jagt mich der Leinweber zum Tempel hinaus: alsdann kann ich mich in den Schnee legen und an den Fingern saugen, wenn mich hungert. Solang es noch Winter bleibt, seh ich mir das fromme Leben mit an: sobald ich aber die erste Schwalbe wieder höre – heida! fort mit mir! dann werd ich wieder der alte Adam. Man kann ja des Guten auch zuviel tun: der Leinweber betet den ganzen Tag mit meiner Nille. Ihr Leute, sag ich immer, ihr fallt ja unserm Herrgott recht beschwerlich: das nennen sie eine Gotteslästerung: »Du bist noch nicht wiedergeboren, lieber Bruder«, sprechen sie, »wir wollen beten, daß der liebe Heiland bald über dich kommen möge.« Zu allem dem Gikelgakel muß ich nun schweigen, als wenn ich aufs Maul geschlagen wäre. Aber kurz und gut! sobald die Schwalben fliegen, laß ich meine Nille bei dem Leinweber sitzen und komme zu Dir nach Berlin: da mögen sie miteinander pimpeln und seufzen, soviel sie wollen. Lebe wohl.

A.C. Herrmann.


Herrmann beantwortete diese Briefe unverzüglich, meldete Schwingern den erlittenen Verlust, doch mit sorgfältiger Verschweigung seines Bekehrungsprojektes, stattete auch dem Doktor Nikasius und seiner Ehefrau von der Dieberei des Magister Wilibald getreuen Bericht ab und versicherte, daß ihn der schändliche Bösewicht verleitet habe, Dresden heimlich zu verlassen, wozu er sich außerdem nie entschlossen hätte: zugleich bat er um Übersendung seiner zurückgelaßnen Habseligkeiten, welche auch ein paar Posttage darauf erschienen, nebst diesem Briefe vom Doktor Nikasius.
[342]

Dresden, den 6. Jan.


Wertgeschätztester lieber Freund!

Nachdem Dieselben in einem Schreiben de dato 28 Decembris a.c. schriftlich an mich gelangen lassen, wasmaßen Dieselben Dero mibilia von Dresden nach Berlin mit der ordinären Post bringen zu lassen gewillet sind und dannenhero um die Verabfolgung gedachter Ihrer mobilium geziemend angesucht: als habe nicht ermangeln wollen, solche durch meinen Bedienten, Johann Friedrich Hartknoch, in Dero mit Seehund überzogenen Kuffer getreulich einpacken und verwahren zu lassen. Welchergestalten nun Dieselben nur berührte mobilia benebenst diesem meinen ergebensten Schreiben verhoffentlich erhalten werden, als bitte mir über den richtigen Empfang derselben schriftliche Nachricht aus: wie denn auch Dieselben in vorbemeldetem Dero Schreiben beizubringen beliebt, wie der S.T. Herr, Herr Magister Wilibald Dero sämtliche bei sich habende actiua an sich zu nehmen und mit denenselben ab und von dannen zu gehen sich nicht entblödet, absonderlich auch sich nicht nur propter dolosam rei alienae ablationem eines Diebstahls schuldig gemacht und durch sein hinterlaßnes Schreiben handschriftlich angeklagt, sondern auch Dieselben per simulationem amicitiae schändlich und lästerlich hintergangen: solchemnächst will denn nun meine teure Ehegattin allen dergleichen und sonstigen Anschuldigungen als Verunglimpfungen seines ehrlichen Namens und anmaßlichen Beschönigungen anderweitiger selbsteigner Zersplitterung Dero bei sich habenden Geldes keinen Glauben angedeihen lassen, inmaßen denn sie dem Herrn Magister beständig als einen gottesfürchtigen und wohl conduisireten Candidatum gekannt und befunden.

Der ich nebst freundlichem Gruß von meiner Ehe-Liebsten mit geziemender Liebe und Inclination allstets verharre

Meines wertgeschätzten lieben Freundes

gutwillig geneigter Freund und Diener

D.F.M. Nicasius.


Da der Doktor Schwingern seines Freundes heimliche Abreise von Dresden sogleich gemeldet hatte, erschien schon[343] wieder ein nachdrücklicher Verweis von diesem äußerst besorgten Manne, daß sich Herrmann später, als er sollte, wegbegeben und in eine so verdächtige Reisegesellschaft eingelassen hatte: doch freute er sich, daß die Abreise nicht weiter war hinausgeschoben worden, weil ihm Nikasius geschrieben, daß man ihren gemeinschaftlichen Freund auf Ansuchen des Grafen Ohlau gefänglich habe einziehen und verhören wollen. Herrmann freute sich nicht weniger, einer so nahen Gefahr, obgleich mit Verlust seiner Barschaft, entgangen zu sein, und erblickte mit ungemeinem Vergnügen im Briefe einen Louisdor, den ihm Schwinger zur Schadloshaltung für den Diebstahl schickte.

Sonach war nun Herrmann von allen Seiten glücklicher, als er vermutete, aber nur nicht so glücklich, wie er wünschte. Die Unterwürfigkeit und der Gehorsam eines Lehrburschen, sosehr beides gemildert wurde, war für ihn eine bittere Speise. Befehle anzunehmen und auszuführen tat ihm nicht sonderlich weh: Verweise schmerzten ihn schon mehr und oft bis zur tiefsten Verwundung: doch wäre alles dies noch erträglich für ihn gewesen, nur seine Lage wurde es täglich weniger: das Licht, in welchem er sich und seine Beschäftigungen sah, die enge kleine Sphäre, wo er unter allen war, die ihn umgaben, wo er dienen mußte, selten ein kleines Lob wegen einer geringfügigen Verrichtung, worauf er sich sowenig zugute tun konnte als auf Essen und Trinken, und niemals Ehre erwerben sollte – diese so eingeschränkte, auf Kleinigkeiten geheftete Tätigkeit machte abermals seine ehrbegierige Seele unmutig, unzufrieden mit sich und den Dingen um ihn. Eigennutz und Begierde nach Gewinn waren bei ihm unendlich klein und in Vergleichung mit seinem Ehrgeize fast so gut als gar nicht da: Kaufmannsgeschäfte mußten also unter allen für ihn die geringste Anzüglichkeit haben: mit einem Worte, er war itzt ein ebenso schlechter Kaufmannsbursch als vor dem Jahre ein schlechter Schreiber. Immer zerstreut, in Gedanken, verdrießlich stand er da, hörte nicht eher als zum zweiten oder dritten Male, wenn ihm sein Herr etwas befahl, tat jedes Geheiß mit Verdrossenheit und begegnete niemandem[344] freundlich, der in den Laden kam. An andern deutschen Orten hätten ihn seine Kameraden den Träumer genannt, doch hier hieß er bei jedermann vom Herrn bis zur Kindermagd – ›Herrmann le misanthrope‹ –, und jeden Augenblick wurde er ermahnt, nicht so pensif zu sein. Trotz aller Ermahnungen blieb er es, und seine Tiefsinnigkeit vermehrte sich sogar, weil sich bei einer so großen Leere in seinem Herze, bei so geringer Tätigkeit und so wenigen Beschäftigungen für andere Leidenschaften die Liebe wieder zu regen anfing: an Ulriken erlaubte er sich zwar nur mit Schüchternheit zu denken: er wünschte und wünschte, daß er sie lieben dürfte, aber ein Kaufmannsbursch und eine Baronesse! Je mehr ihm dieser Abstand einleuchtete, je mehr fühlte er freilich, daß es Notwendigkeit und Klugheit sei, dieser Liebe zu widerstehen, je mehr schien es ihm töricht und gefährlich, sie wieder aufwachen zu lassen. Zudem wußte ja Graf und Gräfin Ulrikens Aufenthalt, wollten sie auffangen lassen, und vielleicht war sie schon längst wieder bei ihnen auf dem Schlosse und mußte sich mit Vorwürfen und Mißhandlungen peinigen lassen: sie war so gut als verloren. Gar nicht zu lieben, wie Schwinger von ihm verlangte, das war hart und bei seinem Charakter und seiner innern und äußern Verfassung unmöglich: eine andere zu lieben als Ulriken, das war noch härter: wenn sich ihm auch die leibhafte Venus dargeboten hätte, wäre ihre Wirkung doch unter dem Eindrucke gewesen, den die Baronesse eine so lange Reihe von Jahren hindurch ihm einprägen mußte.

»Es ist keine Schönheit mehr in der Welt«, sagte er sich an einem Morgen, als er sich seine Schürze vorband, setzte sich auf das Bett und lehnte sich an das Fußbrett. »Es ist keine Schönheit mehr in der Welt, gar nichts, das mein Herz nur mit einem Zucke schneller bewegte. Da zeigt mir bald der Diener, bald ein Kamerad ein Gesicht: ›ach‹, rufen sie, ›welche Schönheit! welcher Wuchs! welcher Gang!‹ – Ich sehe mir nichts daran, worüber ich mich nur mit einer Fingerspitze freuen könnte. Es ärgert mich in der Seele, daß die Leute allenthalben soviel Vergnügen finden, und ich muß so[345] trocken dabeistehn und mich ausschimpfen oder verachten sehen, daß mir gar nichts gefällt. Hier liebäugelt der Diener mit einem vorbeigehenden roten Pelze, des Abends hör ich ihn, wenn er mich auf der Stube bei sich duldet, von einer blauen Pelzsaloppe erzählen, die er vorigen Sonntag geführt, gestreichelt, geliebkost, die mit ihm gelacht, getändelt, gegessen, getrunken, getanzt hat. Da schäkert in der Schreibstube mein Herr mit einem Mädchen; sie lachen und sind so vergnügt, so entzückt, als wenn sie gar nichts vom Kummer wüßten: werd ich in die Stube geschickt, so find ich auf dem Kanapee die Frau mit einem jungen Franzosen: wenn sie mir nur den Gefallen täten und sich vor mir scheuten! aber nein! mit verschlungnen Armen, lachend und tändelnd sitzen sie da: alles liebt rings um mich her, alles darf lieben, alles wird geliebt, nur ich Elender, allein ich darf nicht, ich kann nicht. – Das Schicksal drückt mich mit schwerer Hand danieder, daß ich kaum atmen kann: ich soll mich unter seinem Drucke langsam zu Tode arbeiten. Ich soll die einzige Schönheit, die es auf der Erde für mich gibt, erkennen, fühlen, ihr Bild in der Seele mit mir herumtragen, vor Augen schweben sehn, in Gedanken mit ihm reden, es umarmen, liebkosen, alle Ergießungen des Herzens, alle Wonne, alles Sehnen der Liebe dabei empfinden; und wenn ich Unglücklicher die Arme zuschließen, mein Glück greifen will, dann ist es ein Schatten, eine Idee, ein Gedanke, den ich liebe, und mit meinen Armen fasse ich Luft. – Nie, nie hoff ich Ulriken wiederzufinden, nie mich ihr nähern zu dürfen: – aber wie müßt es nur sein, wenn ich sie wiederfände? wie nur, wenn wir uns Tag für Tag sehen, frei und ohne Zwang sprechen, ohne Furcht lieben dürften? – Das ist für mich ein so unbegreiflicher, so unvorstellbarer Zustand wie die Freuden der Seligkeit. Er schwebt mir im Gehirne wie in einer dunkeln Ferne: gleich einer Sonne durch Nebelwolken, strahlt dies überschwengliche Glück aus der Ferne daher: ich strebe mit allen Gedanken und Empfindungen nach ihm hin; aber wer kann die Sonne über seinem Scheitel erreichen?« –

Sein Selbstgespräch hatte ihn so lange beschäftigt, daß er[346] einen Teil seiner Pflicht darüber versäumte: weil er zu lange über die bestimmte Zeit nicht im Gewölbe erschien, kam sein Kamerad, rief ihn und störte den Lauf seiner trüben Gedanken.

Kaum eine Viertelstunde hatte er mit seiner gewöhnlichen Träumerei dagestanden und saumselig einige aufgegebne Geschäfte verrichtet, als der Herr, ein Porträt in der Hand, in den Laden kam. Er stellte es hin und fragte alle Anwesende, ob jemand ein Frauenzimmer in Berlin gesehn habe, das diesem Porträte ähnlich sehe. Herrmann erschrak, ließ seine Arbeit auf die Erde fallen und trat so dicht an das Bild, als wenn er es verschlingen wollte: er erkannte es bei dem ersten Blicke für Ulrikens Porträt, das in der Gräfin Zimmer über dem Sofa hing: Rahmen, Ähnlichkeit, Größe, alles traf ein.

»Oh«, fing der Diener an und sahe starr hin, »die hab ich oft gesehn.«

»Wo? wo?« rief Herrmann entzückt. Der Kaufmann sah ihn an und lachte. »Kennst du das Frauenzimmer?« fragte er.

»Nein – nicht recht – ein klein wenig!« antwortete Herrmann und blickte seinen Herrn geheimnisvoll an, als wenn er ihn fragen wollte, ob er sich entdecken dürfte.

»Ja, es ist wahr«, fuhr der Kaufmann fort, »du mußt sie kennen: sie ist ja aus deiner Vaterstadt. Wer sie unter euch zuerst sieht und auf meine Stube bringt, der hat zehn Dukaten verdient. Es ist ein liederliches Mädchen.«

»Glauben Sie das um des Himmels willen nicht!« unterbrach ihn Herrmann ereifert: doch hurtig besann er sich, daß er sich so verraten könnte, und setzte des wegen, um den gemachten Fehler zu verbessern, kaltblütig hinzu: »Ich dächte nicht, daß sie liederlich aussähe.«

»Meinetwegen mag sie aussehn, wie sie will!« fiel ihm der Kaufmann etwas heftig ins Wort. »Sie ist ihrem Onkel, dem Grafen Ohlau, durchgegangen; und er hat mich gebeten, sie ihm zu überschicken, wenn ich sie finde; und weil er mein speziell guter Freund ist – ich hab ihm manche hundert und wohl tausend Louisdore verschafft –, so könnt ich's ihm nicht[347] abschlagen. Wer sie auf meine Stube schafft, kriegt zehn Dukaten: aber die Sache muß heimlich betrieben werden.«

Der Diener versicherte, daß er sie wohl tausendmal unter den Linden und im Tiergarten gesehn habe; sie sei in einem gewissen öffentlichen Hause, das er auch nennte und wo er sie ehestens suchen wollte.

Herrmann war des Todes über diese unglückliche Nachricht und fragte den Diener, sooft er ihn müßig sah, ob sie gewiß in einem öffentlichen Hause sei, daß der andre endlich des Fragens müde wurde und es auf immer untersagte.

Freude und Glück war es genug, daß er itzt selbst den Auftrag bekam aufzusuchen, was er so lange gern gefunden hätte: aber das verdammte öffentliche Haus! das versetzte seiner Freude so einen empfindlichen Schlag, daß sie einen großen Zusatz von Angst, Besorgnis, Eifersucht und verachtendem Widerwillen gegen Ulriken bekam. Er ging wie vor den Kopf geschlagen herum.[348]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 337-349.
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