VIII

[174] Wenn die Frage wäre, in welchen Wiener Salons oder Häusern ich die meisten Menschen kennen gelernt, so müßte ich wohl antworten: bei Heinrich Laube und bei Leopold Rosner. Zu Laube, der alltäglich von Fünf bis Sieben in Gemeinschaft mit seiner vortrefflichen Frau Iduna empfing, kam ich in meinen Wiener Junggesellenjahren oft und sah Gestalten über Gestalten, darunter nicht wenige, die ich mit Nutzen oder Genuß studierte; wenn wohl auch keine so interessant war wie der Hausherr selbst. Der Salon meines Verlegers und Freundes Leopold Rosner war sein kleiner Laden unter den Tuchlauben; in diesem Taubenschlag begegneten sich ungezählte Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler und ähnliches Volk. Rosner hatte selber zu den Komödianten gehört und unter Nestroy gemimt; mit seinem Büchlein »Aus Nestroy« hat er uns einen Schatz von Witz und Geist aus dessen Theaterstücken[174] gegeben, den ich oft verschenkt und aus dem ich noch öfter vorgelesen habe. Er übersetzte auch ungarische Erzähler, Jokai und andere; er schrieb in Wiener Blätter; kurz, er war Kollege von allen, die bei ihm verkehrten. Eine richtige Freundesseele, ein talentvoller Geschichtenerzähler, ein Mann, der alle kannte und von allen wußte, war er ein geborener Mittelpunkt und Taubenschlagsbesitzer. Wie manchen merkwürdigen Menschen hab' ich nur bei ihm, aber oft genug gesehn; so den Schriftsteller Friedrich Schlögl, der in seinen Büchern »Wiener Blut« und »Wiener Luft« manche lebensvolle Figur mit gutem Humor gezeichnet hat; nur daß er, wo er über Menschen und Dinge schrieb, sich in Kraft- und Fremdwörtern gradezu verschwelgte. Die »Fülle der Gesichte« in Rosners Laden war freilich oft ein Hindernis, wenn ich in Geschäften kam und mit ihm als Buchhändler oder Verleger zu tun hatte. Ja auch wenn ich ihn allein traf, mußte ich mich waffnen: er war gewöhnlich randvoll von Neuigkeiten oder Geschichten, die er sogleich mit schauspielerischer Lebendigkeit vorzutragen begann. Ich bin manches Mal mit dem geöffneten Taschenbuch in der Hand gekommen, in das ich meine Fragen und Wünsche eingetragen hatte; so hielt ich das Buch, solange ich ihm gegenüberstand; hätte ich es in die Tasche gesteckt, so war ich verloren. Sobald ein Vogel aus seinem Neuigkeitssack herausgeflogen war, schlug ich mit der Hand auf mein Buch: »Jetzt die nächste Nummer!« Und eh ich nicht wenigstens ein Anliegen erledigt hatte, durfte kein neuer Vogel fliegen.

Bei diesem meinen guten Leopold Rosner – auch[175] er lebt nicht mehr! – lernte ich auch das edle Dichterpaar kennen, mit dem mich bald herzliche Freundschaft verbinden sollte, Graf Albrecht und Gräfin Wilhelmine Wickenburg. Er ein Steiermärker, in der kaiserlichen Burg zu Graz als Sohn des Statthalters geboren, sie ungarischen Bluts, aus dem gräflichen Haus Almasy, hatten sie sich zu einem Dichterbund vereinigt, wie er sich wohl nicht oft wiederholen wird; denn in beiden lebte eine schöne lyrische Flamme, die freilich, wie es so vielen ergeht, erst in Leidens- und Trauerzeiten zu höchst emporsteigen und am stärksten leuchten sollte. Damals, in den Siebzigerjahren, waren sie noch im Land des Glücks; jungvermählt, mit zwei reizenden Kindern gesegnet, schaffensselig, beide schön, beide gut, er mehr der Sinnige, sie die Feurige, zwei sich ergänzende Seelen. Sie übersetzten auch, aus allerlei Sprachen; Gräfin Wilhelmine versuchte sich auch in epischen und dramatischen Dichtungen, denen indessen, bei viel Geist und Kraft, die volle Gunst des glücklichen Stoffs und die letzte Vollendung fehlt. Vielleicht gehörte sie zu den Künstlernaturen, deren Talente einander Konkurrenz machen: sie war auch musikalisch stark begabt und eine eifrige Sängerin, die nicht ganz zureichende Schulung ihrer nicht sehr großen Stimme durch Geist und Feinheit des Vortrags ausgleichend. So konnte sie es wagen, im Zwiegesang mit Pauline Lucca zu singen, die ich an einem musikalischen Abend bei ihr kennen lernte und sogleich in all ihrer lustig feurigen Lebendigkeit, ihrer sozusagen derben Grazie bewundern konnte. Auch Felix Mottl, damals noch ein junger, wild begeisterter und begeisternder Wagnerspieler,[176] erschien an solchen Abenden, die singende Gräfin am Klavier stimmungsvoll begleitend. Mir war sie am merkwürdigsten, wenn sie französisch, besonders wenn sie »Carmen« sang; hier fand ich sie erstaunlich echt oder erstaunlich blutsverwandt, etwa so, wie Wilhelmine Mitterwurzer im Burgtheater Molières Toinetten und Dorinen genial deutsch-französisch spielte.

Im Dezember 1878 ward Graf Albrecht, der Gräfin glücklichster Zuhörer, vierzig Jahre alt; dazu dichtete ich ein Dal-Dal, das längste, das ich kenne, und schickte es der Gräfin – zum Scherz auf einer Korrespondenzkarte – ins Haus. »Ein Dal-Dal«? Ich weiß schon: der verehrte Leser weiß nicht, was das ist; darum sag' ich es. Wir hatten es in der Villa Wertheimstein vom Professor Franz Brentano gelernt: man bringt irgend eine kleine Geschichte oder Behauptung oder was immer vor, die mit einem Wort (oder auch mehreren) schließt, das gleichsam ein Echo hat, sich selber mit einem andern Sinn wiederholend. Dieses Wort aber und sein Echo sagt man nicht; man sagt nur: Daldal – Daldal, oder Daidaldat – Daldaldal und so weiter, je nachdem das Wort zweisilbig oder drei-oder mehrsilbig ist. Hier ein einfachstes Beispiel: »Ein Wandrer hatte sich in einer Wüste verirrt; vergebens suchte er ihr zu entkommen; immer Öde ringsumher. Endlich rief er verzweifelnd aus: O wenn ich doch einen Ausgang aus dieser Daldal Daldal!« Der Hörer soll nun raten, was diese beiden Daldal bedeuten. Die Auflösung ist: »O wenn ich doch einen Ausweg aus dieser Wüste wüßte

Professor Brentano, in solchen Geistesspielereien sehr bewandert, hatte die Besucher der Villa Wertheimstein[177] eine Weile zu Daidaltisten gemacht; wir wetteiferten, dergleichen sinnigen Unsinn zu erfinden. Als Graf Wickenburgs Geburtstag kam, tat ich mein Äußerstes, indem ich auf der Postkarte an die Gräfin einen ganzen Vers mit anderm Sinn wiederholte:


Es schütze noch vierzig Jahre lang

Apoll Deinen Sänger von eignem Gesang,

Vordem Übersetzer des Shelleyschen Stücks,

Vor dem Übersetzer des höllischen Styx!


Ich habe die Auflösung gleich hieher geschrieben, denn ein Daldal von dieser Länge könnte niemand raten. Graf Albrecht hatte, mit großer Kunst, Shelleys gedankenvolles Drama »Der entfesselte Prometheus« übersetzt; 1876 war es bei seinem und meinem Verleger Leopold Rosner erschienen.

Bald nach dieser Zeit endete der schöne Verkehr zwischen den Häusern Wickenburg und Wilbrandt: ich verschwand aus Wien, und als ich wiederkam, zum Burgtheaterdirektor geworden, zogen bald die Freunde fort, um für des Grafen und dann auch der Gräfin Leiden in wärmerem Klima Heilung zu suchen. Während Graf Albrecht nach und nach gedieh, erkrankte die Gräfin mehr und mehr; ihre Feuerseele fuhr in einem Schiff, das seine Seetüchtigkeit verlor, das sie kaum mehr trug. Als ich sie 1886 in Bozen, in der Villa Gerstburg, wiedersah, fand ich ihren Geist erstaunlich gereist, gewachsen, seine Hülle kläglich widerstandslos; »schauen Sie,« sagte sie mit einem philosophischen Lächeln, in dem großen Saal umherdeutend, auf dessen Balkon der Rosengarten und die Mendel schauten, »wenn da eine Fliege vorbeifliegt,[178] spür' ich's in der Schulter!« Wie wenn der Körper von der inneren Flamme verzehrt würde, schwand sie langsam hin; immer noch sich fortentwickelnd und schaffend, immer noch zu höchstem Genuß des Lebens fähig, sobald die Seele sich fassen konnte, und die heiße Sehnsucht nach Glück und Gesundheit in die Welt hinaussingend, in herzergreifenden Tönen. Ihre letzten Gedichte sind auch ihre schönsten; wenigstens für mich. So das vielleicht allerletzte: »Geduld!«, in dem sie zu dem Gries-Bozener Tal spricht, das sie mit so vielen Hoffnungen aufgesucht, dessen Herrlichkeit nun schon so oft vor ihr geblüht und gewelkt hatte:


Und jeder Lenz, der dich geschmückt,

Hat mir ein Hoffnungsreis geknickt.

Ein Jahr – noch eins – und wieder eines –

So zieh'n sie hin und keines, keines

Bringt mir die alte Kraft zurück!

So starr' ich oft mit nassem Blick

In martervollen Sehnsuchtsschauern

Nach dieser Felsen Kerkermauern

Und denk' in meinem Wahn: Da drüben,

Da ist dein altes Ich geblieben!

Dort rauscht das Leben seinen Gang

In Schaffenslust und Tatendrang,

Raff' dich nur auf mit Wandermut

Und dann ist alles wieder gut!...

Horcht auf! Mein Lied sei keine Klage,

Nur lang entbehrte Lebenslust!

Ich war so lange stumm und trage

Gefang'ne Lerchen in der Brust![179]

Laßt sie zum Himmel schmetternd steigen,

Anstimmen einen Jubelreigen,

Wie nach dem Winter, lang und kalt,

Im Lenzhauch er durchjauchzt den Wald!


Aber dieses Wähnen lügt; sie fühlt schon wieder: nichts ist ihr geblieben als das Sehnen, und nichts kann ihr helfen als vergessende Geduld.


Vorbei! Aus dunklem Nebelschleier

Taucht der Erinn'rungsbilder Schar –

Hinweg! Vergessen will ich euer,

Vergessen, was ich selber war!

Vergessen, daß des Lebens Fluten

Aus vollem Becher mir geschäumt,

Vergessen, was in Wunschesgluten

Der Ehrgeiz noch vorausgeträumt!

Nur eins, in Tagen und in Nächten,

Sei's noch, wonach die Seele wirbt:

Jedweden Lebenstrieb zu knechten,

Bis auch der letzte Wunsch erstirbt....

Geduld – du stille, nie gekannte –

Sei du nun meine Trösterin,

Du, die ich frevelnd sonst verbannte –

Mein Nacken beugt sich – nimm mich hin! – –


Als ich im Februar 1890 wieder nach Bozen kam, hatte sie ausgeduldet; auf dem Friedhof von Gries schlief sie schon ihren langen Schlaf. Graf Albrecht, nun mit seinem unendlichen Gram allein, konnte zu all den Elenden und Niedergedrückten auf der Erde sagen:


Die ihr in Leiden wandelt durch das Leben,

Wer hat mir fürder noch was zu vergeben,[180]

O wer von euch?

Reicht mir die Hand, daß ich euch Bruder werde,

Es liegt mein Glück sechs Fuß tief in der Erde

Und wir sind gleich!


Ihm gab wenigstens »ein Gott, zu sagen, was er leide«; er hat seinem Schmerz in einer Reihe von Liedern Gestalt gegeben, die zu den schönsten Blüten gehören, welche auf Gräbern gewachsen sind, und die jeder (in seinen »Neuen Gedichten«) lesen, mitfühlen sollte. Ich kann und mag mir nicht versagen, wenigstens eines davon, »Dein Zimmer«, hier niederzuschreiben:


Sie hatten dich hinabgesenkt so tief.–

Ich wankte heim von deinem frischen Grabe

So wirr und stumpf – mein brennend' Auge rief

Umsonst nach Tränen, die des Schmerzes Labe.


Vor deinem Zimmer dämpft' ich meinen Schritt,

Denn war ich auch allein mit meinem Kummer,

Mir war, als könnte jeder laute Tritt

Die Kranke wecken aus dem leisen Schlummer.


O Gott! da stand's noch auf dem Tischlein da,

Das Kruzifix mit den verlöschten Kerzen,

Die man gezündet, als dein Ende nah'

Und schon die Kälte schlich nach deinem Herzen.


Der bleiche Wintertag sank schon zu Tal

Und ging zur Ruhe, wie in stillstem Frieden,

Und leise wob ein matter Sonnenstrahl

Ums leere Bett, darin du jüngst verschieden.


Da lagen noch die Ringe deiner Hand,

Auch er, der dich »für immer« mir verbunden,[181]

Die treue Uhr, die trauernd stille stand

Und abgelaufen war mit deinen Stunden.


Das letzte Buch, drin du gelesen, war

Auf einem Tische offen noch geblieben,

Ein Zettel lag dabei, drauf deutlich klar

Die liebe Hand zum letztenmal geschrieben.


Dein letzter Wunsch war's und dein letztes Wort –

Es war zu viel und ich ertrug es nimmer,

Und nach dem Friedhof stürzt' ich wieder fort –

Dein Grab war nicht so traurig wie dein Zimmer!


Andere dieser Trauerlieder, kleinere, kurzzeilige, wie mit dunklen Schmetterlingsflügeln flatternde, singen wie Musik; es ist rührende, weiche Melodie darin. Aber dem Sänger sollte es nicht so ergehn, wie eines dieser Liedchen es ihm vorschmeichelte:


Mein Trost in allem Weh

Ist, daß ich eilen seh'

Die Jahre,

Daß Tag um Tag verrinnt

Und mir der Reif schon spinnt

Im Haare.


Deckt dich der Schnee, so kalt,

Wart' nur, auch mich wird's bald

Verschneien,

Dann wird die Sehnsucht stumm,

Dann sind wir wiederum

Zu zweien!


Es war noch zu viel edles Leben in ihm, und der Jungbrunnen des Schaffens rauschte noch. Drei Jahre[182] später erschienen seine »Tiroler Helden«, vaterländische Gedichte, darunter viele so kräftig, so warm, so lebensvoll ins Holz geschnitzt, daß sich jedes Volk ihrer rühmen könnte. Dann folgte sein Liederbuch »Mein Wien« und bald eine zweite Sammlung »Altwiener Geschichten und Figuren«; seine Muse kehrte (mit ihm) an die Donau zurück und fand dort alle die Humore und Freudentöne wieder, die der Friedhofswind ihr verweht hatte. Nein, teurer Freund! Dich hat's nicht verschneit und wird's auch noch lange nicht. Von den zweiten vierzig meines Daldal fehlen noch so viele! Deine Kinder leben in glücklichen Ehen, Enkel wachsen dir wie mir, deine Freunde lieben dich, deine Bronchien verjüngen sich, deine Kehle singt noch. Mög' sie uns noch hohe und süße Lebenstöne singen!

Da sind wir denn wieder in Wien, das ich eine Weile verlassen hatte; und ich wandre nordwärts nach Döbling hinaus, den Weg, den ich in jenen Jahren so oft gemacht: zu der Villa Wertheimstein. Im Sommer 1871 fuhr ich zum erstenmal mit Bauernfeld hin; mit wie vielen andern fuhr ich dann desselben Wegs, Hunderte von Malen; zweimal hab' ich dort mit den Meinen als Gast gewohnt, zuerst in der sogenannten »Mühle«, einem einsamen Haus im Park, dann in einem Flügel der Villa, beim Eingang. Josephine von Wertheimstein, die Hausfrau, war die eigentliche Seele, der Magnet, der Genius; eine der holdesten, adeligsten, wärmestrahlendsten Frauen, die in mein Leben getreten sind. Ein großes, dunkles Schicksal lag hinter ihr, als ich sie kennen lernte: von ihren beiden Kindern hatte sie den Sohn, der als noch blutjunger Bildhauer[183] viel versprach, mit neunzehn Jahren verloren; der Schmerz nahm ihr Schlaf, Nahrung, alles, bis ihr Geist sich umnachtete. In einer Anstalt, mit heutiger Methode, hätte man sie wohl bald geheilt; ihre Mutter aber, ganz Liebe und noch in der alten Denkart befangen, die solche Erkrankungen zu verstecken suchte, setzte durch, daß sie in der Familienpflege verblieb; so genas sie langsam. In der Halbdämmerzeit dieser werdenden Genesung entfalteten sich Flügel in ihr, die sie nicht gekannt hatte, die auch später wieder still vergingen: sie ward Dichterin. Sie hat mir einmal ein Buch zu lesen gegeben, in das sie alle die Träume und Gedanken dieses Zustands, in Versform gebracht, eingetragen hatte; zuerst wirrten sie noch dann und wann, wunderbar ergreifend, dann war es, wie wenn die Nebel wichen, der Tag hineinleuchtete und die Sonne durchbrach. Die ganze Tiefe und Hoheit ihrer Seele sah mich aus diesen monologischen Gesängen an. Leider nur dies eine Mal; Frau Josephine zeigte das Buch nicht wieder, sie kam später, wie mir schien, nicht gern auf diese Zeiten zurück. Doch vielleicht war es nur die urweibliche, fast jungfräuliche Bescheidenheit, Keuschheit, der auch vor dem Schein bangte, daß sie ihr Innerstes zu enthüllen liebe.

Sie war aber gesellig, menschenhungrig, für reichen, bunten, geistvollen Verkehr wunderbar begabt und geschaffen; wie viele, die den Ehrennamen Mensch verdienen, hab' ich denn auch in der Villa Wertheimstein erlebt! Die alten und treuen Freunde des Hauses, Bauernfeld, Unger, Dessauer, Wessel (der die Kinder erzogen hatte, ein geliebtes Inventarstück der Familie, ein Ostpreuße voll Geist und Gemüt, der zuzeiten[184] zweimal täglich vom Bezirk Landstraße zu Fuß hinauspilgerte und zweimal zurück); dann die Späteren, Lenbach, Maler Penther, Ferdinand von Saar, Karoline Gomperz-Bettelheim, Gräfin Dönhoff, Gräfin Wickenburg-Almásy, Malvine von Dutschka, Professor Fleischl, Exners – damit ich nur die wenigen nenne, die mir eben vor die Augen treten. Das Haus selber war nicht menschenarm: die Tochter Franzi, der Gatte, die Mutter (eine seine, liebenswürdige Patriarchin), die Schwester Fräulein Minna Gomperz (heiter, warm und klug); das »Fischerl« nicht zu vergessen, die Hausdame, die einzige, die auch heut noch mit der Tochter in der Villa waltet. Franzi von Wertheimstein, jetzt die Letzte des einst so lebendigen Hauses, war wie ihr Bruder schön begabt, sie für Malerei und Musik; vom Vater, einem echten Gentleman von gebildetem und seinem Verstand, hatte sie ähnliche Gaben, von der Mutter die Poesie der Seele geerbt; bedeutende Menschen aller Art umgaben ihre Jugend. Sie sang uns die Volkslieder der österreichischen Alpenländer so kernecht und so grundmusikalisch, wie's wohl nur wenige können; und die schönsten, feierlichsten, süßesten, gleichsam durch die Mondnacht emporschwebenden Jodler – wunderbare gibt es – die sang sie so überirdisch schön, daß mich manchesmal eine schmerzende Sehnsucht packt. Dabei nun das sinnigste Weltverstehn, der mitlebendste Humor, bei Mutter und Tochter. Sie waren immer urgesteinsmäßiger zusammengewachsen, je mehr die Reihe der alten Freunde sich lichtete. Ihre Verschiedenheiten umzogen sich mehr und mehr mit dem holden Duft des selbstverständlichen Zusammengehörens.[185] Wären nur nicht die Störer gewesen, die nervösen Hemmungen, die von Zeit zu Zeit die schöne Entwicklung der so reichbegabten Tochter gleichsam unterbrachen. Das erlitten wir dann alle mit. Wie es Tage gibt, wo über einer schönen, sonnigen, blühenden und duftenden Landschaft eine immer drohende Wolke hängt, so lag zuweilen auf der Villa Wertheimstein ein zäh dunkler Schatten, gegen den die tapfere Heiterkeit der Bewohner, die Urgemütlichkeit des sogenannten »Speckkammerls«, in dem man nach Tische saß, der übermütige Humor der Gäste, die fröhliche Ansteckung von Witz und Geist, die edlen Spieler und Sängerinnen doch oft schwere Kämpfe kämpften.

Doch die so Gehemmte oder Gequälte bewährte sich mehr und mehr als erhabene, lächelnde Heldin; und nur um der Heldin willen hab' ich die Leiden er wähnt. Ihrer unerschöpflichen Lernfreude kam in einem so reichen Kreis von begabten Lehrern und Forschern immer neue Anregung entgegen; der größte Anreger war der Naturforscher Ernst von Fleischl, der in erstaunlicher Begabung Unterhaltung und Belehrung verband. Wie viel hab' ich da mitgelernt! – Wie schön und so recht tief innen genießend erlebten wir miteinander die Frühlings-, Sommer- und Herbstpracht des Parks; am eindringendsten und traulichsten wohl in dem Frühsommer 1880, den ich als Gast ganz daselbst verlebte. Da fanden wir uns am liebsten unter den rotblühenden Kastanien, herrlichen Bäumen mitten im Park (schöne Goldamseln sangen gern hoch oben); dort rüstete ich auch endlich zum Abschied, in Versen, in denen ich die seelenvolle Poesie dieses Parks zu[186] schildern suchte, den Freundschaft auf allen Wegen durchwandelte:


»Bald kam sie edel, schön im Silberhaar,

Bald mit gerötet jugendlichen Wangen;

Jetzt zart im Leiden, jetzt so freudeklar;

Gefahren jetzt (im Rollstuhl), jetzt gegangen.

Bald folgt' ihr eine neckisch lust'ge Schar,

Spottvögel, Satyrn, witzig kluge Schlangen,

Bald ernste Schatten, gleich der Abendkühle:

Die traurig hohen, ewigen Gefühle.«


»Und so umringt von allem Erdesegen,

Von Liebe, Güte, Frieden, Wonnezeit,

Von immer wachsend neuem Blütenregen,

Den Flieder, Ölbaum, Linde niederstreut,

So blüht' ich hier der Sommerglut entgegen,

Die mich zu neuen Erntepflichten weiht.

Und so leb wohl, geliebte, zauberische,

Süß heimlich fruchtend milde ›Frühlingsfrische‹!«


So viele Wochen haben wir nicht wieder miteinander gelebt; es war wohl die idealste Zeit. Doch ward es jedesmal eine Lebenshöhe, wenn ich mich mit Mutter und Tochter in Sommern oder Herbsten irgendwo im Gebirg zusammenfand: so in Wildbad Gastein, in Hallein, in Salzburg, in Markt Aussee; zuallerletzt in Meran, in der Winterfrische. Wundervolle Tage: wo Mutter und Tochter jeden Zoll Bodens kannten, wo sie alles tiefverstehend genossen, die Mutter mit ihrer strahlenden Einsaug-Freudigkeit, die Tochter doch etwas wählerischer, mit dem feinen Auge der Künstlerin.[187] Hier hörte ich denn auch noch einmal die in den Himmel einziehenden Jodler, die ich nie vergesse.

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 174-188.
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