Die Vogelscheuche

[70] »Doch das tote Haupt,

Blut- und feuerbedeckt,

Wild und drohend dort am Zweig

Richtend aufgesteckt, –

Lautlos gellt sein Schrei

In die heiße Welt des Lichts:

Nichts von dem war mein,

›Nichts und ewig Nichts!

Sah die Sonne nur

Kochend in heißem Hof,

Wenn von schwülem Dunst

Wie von Gift sie troff.

Hier in Lumpen häng' ich,

Und ich klage – klage – klage

Über meines Lebens

Leer und stumpf verbrachte Tage ...‹

Bleicher Kläger du,

Toter Richter dort,

Auf mein Haupt die Schuld,

Schuld an diesem Mord!

O, auf unser aller Haupt

Fällt dies Menschenblut,

Und auf unsrer Seele brennt

Deine Todesglut.

Düster gellt dein Fluch,

Deines Mundes Klage,

Mitten in unsres Lebens

Goldne Maientage ...«

(Julius Hart.)


Der Lenzwind stürmt dem Gutshof zu

Durch Zeilen schwanker Pappeln[71]

Und läßt auf braunem Ackerland

Die Vogelscheuche zappeln.

Am Pappelwege sitzt ein Strolch;

Der knotet an einem Strick

Und legt die Schlinge zur Probe

Zerrend um sein Genick.


»Die hält! Ach wohl, nun kannst du gehn

Aus dieser verdammten Welt.

Nur schade, daß hier unterm Gurt

Noch immer der Hunger bellt!

O Schande, mit Bauchweh zu verrecken!

Giebt Keiner den letzten Happen? – –

Vielleicht ist drüben im Hofe

Bei den Knechten was zu erschnappen.« –


Und müde humpelt die hungerfahle

Dürre Lumpengestalt zum Gutshof,

Drängt das Thor behutsam auf,

Spähend vorgestreckt den Kopf ...

Verdammt! Da steht der Gutsherr,

Reitstieflig, zornrot das feiste Gesicht;

Er pfeift dem Hunde gellend;

Schon rennt das Vieh, die Zähne gefletscht ...

Hastig zugeschlagen das Thor!

Fort! mit schlotternden Knieen ...


Fern hält der Arme zitternd, keuchend,

Und schüttelt die Händeknochen:

»Warte nur! Was ein Sterbender flucht,

Ist nicht in den Wind gesprochen.[72]

Ihr Reichen rafft uns alles weg

Und freßt es in den Magen,

Und wollt uns selbst den Abfall

Nicht gönnen zum Benagen?«


Wutglotzend, knirschend hastet er

Auf braunes Ackerland

Zur Vogelscheuche und zerreißt

Ihr zundriges Gewand;

Dem Holzgerippe zieht er an

Den eignen Lumpenrock

Und seinen schäbigen Filzhut

Stülpt er über den Stock;


Und schaut sein Werk mit Grinsen an:

»Du dürres Lappenluder,

Du gleichst fürwahr mir bis aufs Haar

Als wie ein Zwilligsbruder.

Das bin ich selbst! Nun kann ich

Dem reichen Hunde trotzen

Und, wenn mein Leib als Aas verwes't,

Die Satten frech beglotzen.« –


Am Weg ein greiser Pappelbaum

Mit niedrigem Geäst,

Der hilft dem Strolch zu sich herauf

Und hält die Schlinge fest:

»Hinein den Hals, du Menschenkind!

Ich will dich treulich henken.

Spring ab! Nun mag der tolle Wind

Die zuckende Leiche schwenken.« – – –
[73]

Doch drüben auf dem Ackerland

Da flattert des Toten Rock,

Schüttelt die schlaffen Arme grimm

Und zerrt an seinem Stock;

Er möchte würgelustig

Zum Hals des Feindes zappeln ...

Der Lenzwind aber wächst und heult

Bedrohlich in den Pappeln.

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 70-74.
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