Der verlorene Bruder

[33] Wie ein gezäumtes Wildroß

Mit weiten Nüstern lauscht,

Wenn frei durch Grases Wogen

Der Brüder Herde rauscht:

So horcht mein Haupt und taucht

Vom Fenster in die Nacht,

Wenn draußen freier Lüfte

Stürmender Drang erwacht.


Da neigen sich und flüstern

Willkommen Baum und Strauch,

Die heiße Stirn umschmeichelt

Des Regens kühler Hauch.

Und aus des Laubes Rauschen,

Aus Sturmes wogendem Laut

Tönt rührend eine Stimme,

Geschwisterlich vertraut.


Da ist mir, als erwach ich

Aus langem schweren Traum/

Ich bin ja euer Bruder,

Sturm, Regen, Fels und Baum!

Weh, daß ich mich verirrte

Von euch in fremdes Land,

Wo mich ein Fluch in banges

Gemäuer hält gebannt!
[33]

Nun steh ich hier und breite

Die Arme schmachtend aus,

Und lausch', in Weh verloren,

Dem lockenden Gebraus.

O könnt ich zaubern lernen/

Ich spräch ein kräftig Wort,

Entrollte stolz den Mantel

Und flög im Sturme fort.

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 33-34.
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