Der Träumer

[62] Ich war ein Kind/ mit großen Kinderaugen,

Die nur zu träumerischem Schauen,

Nicht zum Berechnen und zum schlauen

Erwerben taugen;

In dumpfen Stuben bangte mir, ich scheute

Gespräche nüchtern kluger Leute

Und stahl mich fort mit stiller Wonne

Zu Blumen, Gras und Sonne.


Da sog ich Luft wie ein Befreiter, lauschte

Den Bienen, Grillen, schwankendem Gesträuch,

Das wogengleich im weichen Winde rauschte;

Mit Staunen und Entzücken schaute

Mein Aug empor/ zu ihm,

Der tief und weithin blaute;

Und der betörte Träumersinn

Schwamm mit dem wunderbaren,

Wie Schneegebirge klaren

Gewölke sanft dahin.


So wuchs ich auf. Und allezeit getreu

Blieb meinem Aug das träumerische Schauen.

Doch ich bedachte nie: der Schatz der Auen

Sind nicht die bunten Blumen, sondern Heu;[63]

Was blau und rot im Ährenfelde blüht,

Ist nicht dem Bauch des Erntesackes hold;

Und eines Dichters träumereich Gemüt

Trägt wenig Körnchen irdisch Gold.


Nun stehn die Äcker braun und stopplig nackt,

Geschorne Wiesen werden bleich und bleicher,

Und mir zum Spotte tanzt im fremden Speicher

Der plumpe Flegel trocknen Erntetakt.

Am Dornstrauch sitz ich, trübe wie der Himmel;

Verwelkte Blätter zerrt ein rauher Wind,

Scheucht mürrisch fort das raschelnde Gewimmel;

Und träumend starr ich nach/ ich dummes großes Kind!


Der Winter kommt. Ich werde frieren, darben

Und wie die arme Maus im Stoppelwald

Mich nähren von dem Abfall fremder Garben;

Vielleicht auch sterb ich bald ...

Mag sein! Doch schließ ich ohne Reue

Und segne dankbar meinen Träumerblick.

Er ließ mich lieben Flur und Himmelsbläue;

Und diese Liebe war mein Lebensglück.

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 62-64.
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