Straße

[102] An düster ragenden Häuserwällen

Durch flammenbesäte steinerne Schlucht

Branden die rasselnden Wagen, die Menschen/

Wie Wellen in klippiger Meeresbucht.

Der rote Vollmond taucht empor.


Die Menge wühlt und drängt und stößt;

Jedweden kümmert nur seine Not/

Wie auf dem Deck des lecken Schiffes,

Das in den Tod zu sinken droht.

Der rote Mond schaut düster drein.


Auf glattem Bürgersteige kauert/

Gleichwie am Felsenriff das Wrack/

Ein Mann mit vorgesunknem Kopfe,

Zur Seite einen Lumpensack.

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.


Die Leute auf dem Bürgersteige

Treiben vorbei und blicken kalt;

Die Straßenbahn beglotzt im Rollen

Mit grünem Auge die Gestalt.

Der rote Mond schaut düster drein.
[103]

Dort drüben lockt die blutige Flamme

Dem Schnapswirt manchen Gast ins Haus;

Und öffnet sich die Schänke dunstig,

Dringt Schelten und Gejohl heraus.

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.


Des Handelshauses Fensterreihe

Ist noch vom Gaslicht grell erhellt;

Papier und Pult und blasse Schreiber;

Der Chef durchzählt des Tages Geld.

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.


Nun heult vom Hofe die Maschine

Zur Vesper; da entläßt das Tor

Viel arbeitsmatte Blusenmänner;

Nur der Fabrikschlot stößt empor

Zum roten Monde schwarzen Rauch.


Ein würdiger Bürger kommt geschritten,

Den Lump am Steige trifft sein Blick;

Entrüstet mit dem Kopfe schüttelnd

Geht er zu Bier und Politik/

Und zornrot glüht der volle Mond.

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 102-104.
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