Beim Madeere-Beck

[149] »Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende!« seufzte mein Vater, als er mit mir von Lustnau nach Tübingen ging, wohin wir übersiedeln mußten. Die Bäume der Landstraße griffen mit leeren Armen in kalten Herbstdunst, dürr raschelte das Laub unter unseren Füßen, geschorene Wiesen waren von Reif versilbert. Dem Fuhrwerk, das unsern Hausrat zur neuen Wohnung beförderte, folgten wir in gedrückter Stimmung, als wär's ein Leichenwagen. Und allerdings wurde unser schwäbisches Dorfidyll gewissermaßen zu Grabe getragen. Aus dem Obst- und Rosengarten, wo Immen summten, aus der Nachbarschaft sonniger Weinberge und Schnützelputzhäusel sollten wir unser Heim in die Altstadt verlegen, in die Neckargasse, wo Marktleute strömten und Wagen rasselten.

Das Haus lag dicht gegenüber dem Chorschiff der Stiftskirche und war ein uraltes Kleinbürgernest. Mit vorgekragten Stockwerken, krummen, rissigen Balken und einem steilen, schadhaften Ziegeldach. An der Außenwand war in Stein gemeißelt: Dies haws ward 1493 erbawt. – Ein daneben befindliches Holzschild nannte die »Bäckerei von Forstbauer«. Gebacken freilich wurde hier nicht, bloß Backware verkauft. Dazu Getränk, das mit Nachsicht zu genießen war. Weil der Beck einmal – vor Jahrzehnten – einen gezuckerten Krätzer als »Madeira« verzapft hatte, war er von den Studenten »Madeere-Beck« getauft,[150] und so hieß er seitdem im Volksmunde. Wer das Haus zum Madeere-Beck betreten wollte, stieg vom schmalen Bürgersteig ein paar Steinschwellen empor und war nun in einer Nische. Rechts führte die Tür zur Gaststube, wo der Madeere-Beck, ein gebeugtes Männlein mit wirrem Grauhaar, den Marktleuten seine Wecken auftischte, dazu Schwartemage, Backsteinkäs und einen sauren, desto mehr angepriesenen Moscht. Links bei der Hauspforte war das Fenster, hinter dem die Madeere-Beckin zu sitzen pflegte, eine knochige Alte mit einem hängenden Kropf. Ihre fischartig vorstehenden Augen lugten durch die Scheibe nach der Kundschaft. Dem Mädle, das Brot holen wollte, reichte sie durch die Fensterklappe den Brotlaib und strich das Geld vom Außenbrett ein.

Des Hauses Haupttür war aus schwerem Holz, mit großköpfeten Nägeln beschlagen. Ueber der Eisenklinke befand sich ein Klopfer aus Eisen, wie er in alter Zeit statt der Klingel diente – eine Art Hammer, mit dem man pochte, daß es durchs Haus dröhnte. Vom dunklen Hausflur, der eine Falltür zum Keller hatte, gelangte man auf abenteuerliche Weise zu den oberen Stockwerken. Aus wackligen Steinplatten war die Treppe gefügt, ähnlich einer Wengert-Steige. Nahezu ohne Licht, bog sie nach links, und die auf dieser Seite schmalen Stufen machten das Emporsteigen für den Uneingeweihten bedenklich. Wenn die Hand nach einem Geländer tastete, fand sich nur ein Strick – mittels dieses urwüchsigen Anhaltes mochte man sich emporarbeiten. Die ersten Bewohner des Oberhauses, die sich bemerkbar machten – durch Laute und durch Duft – waren eine Kuh, ein Schwein und ein paar Gänse, untergebracht in einem finstern Stalle, der hier im ersten Stockwerk lag. Wand an Wand mit solch wirtschaftlicher Einquartierung, nach der Straße zu, hatte das madeerebecksche Ehepaar seine Privaträume. Sie dienten zugleich als Speicher für Mehl, Bohnen, Erbsen und[151] getrocknetes Obst. Vor den Fenstern hingen an Schnüren Maiskolben, schön gelbe Reihen, an dicke Halsketten aus Bernstein mahnend.

Zum zweiten Stockwerk führte eine steile Holztreppe, und hier war die neue Wohnung der Familie Wille. Die drei Vorderzimmer ließen es an Breite und an Helligkeit nicht fehlen, waren aber niedrig und bäurisch. Die Wände ungeschickt mit Kalk beworfen, weiß getüncht. Die Decke ruhte auf ungeschlachten, etwas krummen Balken. Vor der kalten Küche hatte meine Mutter eine Scheu. Mit Backsteinen war sie gepflastert, hatte einen Ausguß, der durch eine Mauerlücke in den Hof führte, und diese Oeffnung stand in peinlich ventilierender Wechselwirkung mit einem Herdrauchfang, der so frei in den Schornstein führte, wie's unsere Altvorderen eben gewohnt waren.

Was im Hinblick auf die rauhe Zeit tröstete, war unsere Holzkammer überm Salon der Madeere-Kuh. Gleich nach vollendetem Umzug war sie mit zersägten Buchenstämmen angefüllt. Mit dem Beile waren die Blöcke noch zu zerscheitern, und das geschah auf einem Hackeklotz, der sich in der Holzkammer befand.

Daß diese derbe Hantierung mir von der Mutter anvertraut war, paßte dem Betätigungsdrange des hochgeschossenen Jungen. Das Beil in der Faust, kam er sich mannhaft vor und hieb, daß die Scheiter flogen. Einen Dämpfer erhielt mein Eifer durch eine Entdeckung: die Holzdielen der Kammer waren vor Alter so morsch, daß ich mit aufgestampftem Stiefelabsatz einen Eindruck machte, als sei Pferdehuf in Erde gedrückt. Indem ich einen tüchtigen Buchenknubben vorhatte und das Beil mit äußerster Gewalt hindurchkeilen wollte, tat ich einen Hieb, daß der Hackeklotz in die Diele einbrach. Ein Glück, daß darunter noch Balken lagen – sonst wär' ich wohl durchgebrochen und der Madeere-Kuh auf die Hörner gepurzelt.[152]

Als die Familie bei der Abendlampe um den Tisch saß, brachte meine Mutter, der ich gebeichtet hatte, den Vorfall zur Sprache und jammerte: »Mit dieser Wohnung sind wir gründlich reingefallen. Ich glaube, der Schwamm ist drin. Da hinten ist alles verstockt und zermürbt. Das kommt von den feuchten Stalldünsten, kommt von der Madeere-Kuh. Eine unerhörte Verschrobenheit, im ersten Stock, in der Beletage, eine Kuh zu halten. So was kommt nur in diesem Spießernest vor.«

Mein Vater antwortete nach Ueberlegung: »Bedenke, wie Tübingen mit der Landwirtschaft verwachsen ist. Jeder Hausbesitzer hat vor der Stadt ein Aeckerle oder Weingärtle – und unserm Madeere-Beck ist durch seine kropfige Ehehälfte ein Stück Land eingebracht, das eine Kuh nähren, dazu noch Kartoffeln und Welschkorn tragen kann, um Schweine und Gänse zu mästen. Die Kuhmilch kann er für seine Kaffeegäste brauchen. Uebrigens beziehen wir die Milch von der Madeere-Kuh. Was mir, nebenbei gesagt, nicht koscher vorkommt. Das arme Vieh, das so gut wie gar keine Sonne kennt und keine frische Luft, kann nicht gesund sein wie eine Kuh, die ins Freie kommt.«

»Wie?« fragte ich – »die Madeere-Kuh kennt keine Sonne und kommt nicht ins Freie? Wird sie denn nicht von Zeit zu Zeit auf die Weide geführt?« – »Sprich nicht gedankenlos, Junge!« sagte die Mutter. »Die Kuh kann doch nicht die Treppe 'runter spazieren und wieder herauf.« – »Es gibt noch einen andern Zugang zum Stall –,« entgegnete ich – »dies Haus ist an den schrägen Schulberg gebaut – zu dem führt vom Kuhstall eine bretterne Brücke – ich habe mal gesehn, wie von dort ausgemistet wurde.« – »Das mag sein,« – sagte mein Vater – »aber mit der Kuh machen die Leute nicht solche Umstände, daß man sie spazieren führt. Die hat wohl kaum als Kälbchen die Wiese gesehn. Sie kommt mir vor wie[153] Kaspar Hauser.« – »Wer ist denn das?« – »Den hatte man bald nach seiner Geburt geraubt und in ein finsteres Gefängnis gesteckt – da ist er aufgewachsen, so daß er als Jüngling von der Welt nichts kannte als seinen Wärter und die lichtlos öde Enge. Wie er nun auf einmal freikam, war er taumlig vor Verwirrung über all das Neue, Großartige, das ihm begegnete. Sonne, Blumen, Kornfeld, Himmelblau mit Wolken, nachts das prangende Sternenmeer, alles sah er jetzt zum erstenmal. Die Madeere-Kuh ist eine Art Kaspar Hauser.«

»Rasch verkaufen sollten sie das Vieh – oder schlachten,« meinte die Mutter. »Abgesehen von der Milch, die sie uns gibt, ist sie eine üble Eigentümlichkeit dieses Hauses. Nicht bloß den Stalldunst verbreitet sie, stört auch zu nachtschlafender Zeit mit ihrem Kettengerassel ... Oh, dies Tübingen! Hier ist alles rückständig und vermurkst. Die Gassen eng, ohne Sonne; die Häuser uralt, dumpfig, elend bäurisch. In manchen Quartieren soll der Krebs hausen. Wenn wir nur nicht in ein Krebshaus geraten sind! Oh! Daß uns das Schicksal in dies Schwabennest verschlagen mußte! Weißt du, wie es mir vorkommt? Wie die Madeere-Kuh!« – Mein Vater seufzte und blieb zuerst stumm, meinte dann: »Schade, daß wir nicht in Lustnau bleiben konnten! Da hatten wir Sonne und Luft. Freilich muß ich gestehn: Da hocktest du in der Wohnung, statt dich im Rosengarten zu sonnen. Aber so ist der Mensch! Was er hat, nimmt er nicht genug wahr!«

»Du redest, wie du's verstehst!« erwiderte meine Mutter. »Wenn ich im Haus zu tun habe, kann ich nicht wie eine Gräfin im Park sitzen. Uebrigens vertrage ich Gartenfeuchtigkeit nicht. Wir hätten eben weiter nach Süden ziehen sollen.« – »Wohin denn aber? Freiburg hatten wir in Betracht gezogen. Aber die Verhältnisse waren da nicht so günstig.« – »Sonne! Sonne[154] tut mir not!« klagte die Mutter leidenschaftlich. »Ich kann nicht genug Sonne kriegen, hat auch der Arzt gesagt. Schmoren möcht' ich in Sonnenglut. Südfrankreich wäre was für mich – Nizza, Avignon, Montpellier. Da gedeihen Apfelsinen und Feigen wie bei uns die Aepfel. Solch ein Sonnenland ist ein richtiger Garten Eden. Ja, wenn wir dahin gezogen wären!«

»Aber bedenke doch die Kinder!« – »Na ja! Ich weiß!« antwortete die Mutter bitter, »es ist eben ein Traum! Das beste Leben bleibt immer Träumerei. Das Schicksal narrt uns! Sein Glück phantasiert man sich zusammen – dann stellt sich heraus, daß es Seifenblase ist oder – wie du sagst – ein Glasberg. Manchmal denk' ich: Unsereins ist dazu verurteilt, im Engen, Dumpfen, Finstern zu hocken. Ein Kaspar Hauser ist man hier! Eine Madeere-Kuh! Hier versauert und verbauert man!« Schweigend stand der Vater auf, zündete sich ein Licht an und ging ins Nebenzimmer. Ich wußte, daß er an seiner Augenhöhle mit Höllenstein zu beizen hatte.

In dieser Nacht träumte mir von einer paradiesischen Landschaft. Sie hatte etwas vom Wengert an der Waldhäuser Halde, auch Schnützelputzhäuser waren da. In weißer Sonne saß die Mutter, ich hatte ihr Apfelsinen gebracht, wie sie leuchtend an allen Bäumen hingen. Feigen schmauste ich, die wild an den Wegen wuchsen. Meine Mutter sagte zu mir: »merci, mon enfant,« und ich dachte: So wird hier ohne Grammatik parliert – hier braucht man keinen Ssaubock!

Es war mir aber, als ob jemand riefe »Ssau-Beck« – und plötzlich zerstob mein Traum wie eine bunte Seifenblase. Als ob ihn jener Schlag zertrümmert hätte, den ich dröhnen hörte. Es war ein Schlag des Klopfers an der Haustür. Und ich war nicht im Südenparadies, sondern lag in meiner Kammer, die vom Hofe her einen matten Abglanz des Mondes bekam, so daß[155] ich den krummen Balken unterscheiden konnte. – Unten ging neues Klopfen los – Studenten waren's. Sie schwatzten, johlten; einer rief: »Aufgemacht, Madeere-Beck! Bring' uns Moscht ond heiße Weck!« Gelächter lohnte den Witzbold. Die Zechkameraden hatten sich darauf versteift, ihren Rausch mit einem derben Katerfrühstück zu dämpfen. Fanden aber keine Gegenliebe beim Wirt. Als er nicht erscheinen wollte, schwatzten sie noch eine Weile dummes Zeug; ein Baß blökte: »Im tühfönn Köll – lör sütz üch hür ...« Dann war die Bande wie tobsüchtig und brüllte: »Ssau-Beck!« Endlich entfernte sie sich – die Stimmen verhallten. Zuweilen kam noch ein Gemurmel. Aber nein, das war Novemberwind. Dann dumpf ein Stampfen, Kettenrasseln – unsre Madeere-Kuh!

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 149-156.
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