|
[203] Titel: »Der Glasberg, Zeitschrift für solche, die hinauf wollen«. »Mit diesem Organ« – so hieß es darin – »vertreten wir Glasberg-Knappen das Recht der Jugend auf eignes Leben. Das verkümmert uns die Schule. Von ihren Verschrobenheiten möchten wir uns innerlich frei halten. Aeußerlich müssen wir uns ja fügen dem Werkelgange dieser Philisterfabrik. Die Faust ballen wir in der Tasche: Blitz und Donner! Heimlich wenigstens wollen wir uns austoben. Das Ideal verehren, das uns im Herzen blüht. Lachen und spotten über das Unterfangen der verknöcherten Schulmeister, aus uns solche Karikaturen zu machen, wie sie selber sind.
Unser Mitschüler Fritz Bählamm schrieb neulich in seinem Aufsatz (der von Adrast, diesem Kamel, natürlich belobt wurde), es sei unsere Pflicht, nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden. Blödsinn! Wenn diese Gesellschaft hauptsächlich eine Proles ist – was wir behaupten –, so folgt daraus, daß sie ihrer Natur gemäß auf nichts Bessres ausgehen kann, als ihren Nachwuchs zu Proleten ihrer Art heranzubilden. Das aber wollen wir uns nicht gefallen lassen. Wenn's wahr ist, daß Gott den Menschen zu seinem Ebenbilde schaffen wollte, so sollen wir halt etwas andres sein als unsere Honoratioren Herr Präzeptor Bierbauch und Herr Stadtpfarrer Leithammel. Wir fügen uns keiner tötenden Schablone – innerlich nicht![204] Die frisch-lebendige Seele soll man nicht wie eine Sache behandeln. Das ist Mißhandlung der Menschenwürde! Wir verlangen, daß unsere Jugend, jede Stunde ihres Lebens, noch etwas andres sei als ein Mittel zum Zwecke des Banausentums. Auch für sich soll der Mensch etwas sein! So erst kann der Gott in ihm lebendig werdend.«
Auf diesen Leitartikel folgte ein Gedicht »Frau Sonne an die Scholaren«, unterzeichnet: »Der Großmeister«. Hainlin sei das, raunte man – er habe Uli gestattet, Verse aus seiner Maulbronner Pennalzeit mitzuteilen:
Frau Sonne kommt gegangen
Und tausend Spieglein prangen:
Am Klee der bunte Perlentau.
Frau Sonne lacht vom Hügel,
Indes der Lerchenflügel
Den Jubelgruß ihr trägt zum Aetherblau.
Frau Sonne spricht: »Euch allen,
Ihr Kinder, soll gefallen,
Auch dir, du Stadt im Tal, mein Licht.«
Und doch, wie Morgengluten
Durch Winkelgassen fluten,
Verzieht Frau Sonne schmollend ihr Gesicht:
»Was seh ich? Knabenköpfe
Und doch schon Sauertöpfe?
Das schleppt nun seinen Schmökersack
Und läßt in Klostermauern
Das junge Herz versauern ....
O heilger Stumpfsinn! Bakelpfaffenpack!
[205]
›Gymnasten – Leib und Seele
In edler Parallele –
Wie Griechen sollt ihr sein!‹ Ach wohl –
So faselt Herr Magister.
Er selber, das vergißt er,
Ist eine Vogelscheuche, schlapp und hohl.
Bebrillt, mit krummen Rücken,
Die Folterbänke drücken,
Heißt das der Weisheit Jünger sein?
Ihr wollt auf deutscher Erden
Mal Würdenträger werden?
Lernt ducken, Kerle! büffelt Stocklatein!
Grammatik, Tüftelsätze
Und Ciceros Geschwätze –
O eitel Starenmatz-Dressur!
Nur einer sei euch Meister:
Der Innenstrahl der Geister –
Und Alma mater sei die Gottnatur!
Ihr glaubt dem Bibelbuche,
Die Arbeit sei zum Fluche
Für Durst nach Licht von Gott ersehn?
Ihr glaubt, ein Weltregente
Gebiet' im Firmamente,
Die Sonne soll' als Knechtin stillestehn?
Ihr Toren! Ich, die Leuchte,
Die stets das Dunkel scheuchte,
Ich mach' euch frei von Sklaverei.[206]
Laßt ab vom Mottenplunder!
Ich weiß euch holde Wunder.
Versäumt das Schönste nicht: den Jugendmai!
Kein Klauben und kein Knüllen
Entfaltet Knospenhüllen,
Das Zwängen bringt nur Krüppelweh,
Lernt in der Sonne leben!
So wird euch schon gegeben,
Daß ihr wie Lerchen seid und Maienklee.«
Als Gegengewicht zu solcher Schärfe sollten Schelmereien dienen. Darunter befand sich, aus meiner Feder, folgende
Räuberballade
Drei verfluchte Räuber hausten
In dem finstern Gruselwald,
Manche Börse sie schon mausten,
Machten manchen Wandrer kalt.
Spät am Abend war's, da lauschten
Im Verstecke diese drei,
Schauerlich die Bäume rauschten,
Und es scholl des Uhus Schrei.
Plötzlich ihre Augen funkeln,
Denn es regt sich was im Tann,
Und sie sehen aus dem Dunkeln
Treten einen Wandersmann.
[207]
Wie drei wilde Tiger brechen
Sie hervor mit Mordgebrüll
Und mit ihren Dolchen stechen
Sie den Wandrer kalt und still.
Als sie darauf ihm die Tasche
Gierig wenden hin und her,
Finden sie nur eine Flasche,
Drauf geschrieben steht: Likör.
Durstig setzen sie sich nieder
Auf des Waldes blut'gen Grund;
Um zu stärken ihre Glieder,
Geht der Trank von Mund zu Mund.
Aber jeden bösen Lümmel
Schließlich seine Strafe trifft:
In der Flasche war kein Kümmel,
Sondern schnödes Rattengift.
Dieses zwickt und zwackt die Bäuche,
Und das Mordtrifolium
Mit Geröchel und Gekeuche
Wird auf einmal kalt und stumm.
Der Moral von der Geschichte
Schenket aufmerksam Gehör:
Werdet keine Bösewichte
Und mißtrauet dem Likör.
Obwohl unsere Schülerzeitung unter dem Siegel der Verschwiegenheit erscheinen sollte, gingen Abschriften unter den[208] Pennälern herum. Nur daß glücklicherweise geheim blieb, von wem die einzelnen Beiträge verfaßt waren. Die Räuberballade hätte ihrem Autor keinen weitern Vorwurf zuziehen können, als daß er eben beteiligt sei am Unfug einer Schülerzeitung. Ein anderes Opus aber, das ich verbrochen hatte, war geeignet, mich auf der Schule unmöglich zu machen. Es ging unter den Pennälern wie ein Lauffeuer herum, wurde aber nicht mir, sondern dem Kandidaten Hainlin zugeschrieben. Ich schwieg dazu, war sogar stolz darauf, daß Verse von mir einem Hainlin zugetraut wurden. Was ihnen den Beifall der Pennäler zuzog, war ihre Giftigkeit, die sich gegen den Ssaubock und das Schulsystem richtete. Pikant war noch, daß sie einen Stadtklatsch behandelten, der einen Beinbruch Bocks deutete.
Bock-Ballade
Tatze-Bock
Mit der Glatze –
Manche Tatze
Haut sein Stock.
Tatze-Bock
Und Schneider Gock
Minnen beid'
Eine Maid.
Lisle Rettig,
Im Hotel
Schankmamsell,
Etwas fettig.
Gock der Schneider
Wird galant –
Bock, sein Neider,
Wutentbrannt,
Schimpft den Schneider
Hungerleider
Und infame
Dessen Dame.
Puh, in Galle
Ritzt das Mädel
Mit der Kralle
Ssaubocks Schädel.
[209]
In die Fratze
Schmeißt ihm Lisle
Ein Servisle
Leberspatze.
Schneider Gock
Auch nicht faul,
Klebt dem Bock
Eins aufs Maul.
Hui, sie packen
Sich am Nacken
Und zerzwacken
Ihre Jacken.
Sonderbar
Putzig Paar!
Wer erfaßt
Den Kontrast:
Hier die volle
Kürbisknolle –
Dort die schlanke
Hopfenranke.
Gock waschlappig,
Heuschreckartig –
Bock froschquappig,
Schweineschwartig.
Arme zappeln,
Beine trappeln,
Krallen kratzen,
Es knallen Pratzen.
Gäste lachen,
Gekrümmt im Schreikampf,
Brüllend entfachen
Sie noch den Zweikampf.
Uff, im Geraufe
Wird übel dem Frosche –
Rötliche Traufe
Tropft von der Gosche.
Fritz, der Hausknecht,
Zieht den Rock aus –
Hurra, das Hausrecht
Uebt er an Bock aus:
Sämtliche Gäste
Helfen feste –
Bock muß fliegen
Abi die Stiegen
Hei, Pennäler!
Euer Quäler
Lieg im Kot –
Mausetot!
[210]
Nein, nur scheinbar!
Weh, die Glieder
Regt er wieder!
Höchst beweinbar!
Nichts gebrochen
Als der Knochen
An der Wade –
Jammerschade!
Soll denn Schweinheit,
Bocks Gemeinheit,
Uns am Leben
Ewig kleben?
Oh, dies Schwein
Ist Höllenplage!
Donner schlage
Krachend drein!
Zuchthaus Schule,
Stürz' in Flammen
Ueberm Stuhle
Bocks zusammen!
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro