Der grüne Strom

[368] Hainlins Tagebücher, die ich vom Professor Ritter erhielt, beschäftigten mich für Wochen.

Sie behandelten zunächst seine in Bonn verlebten Jahre. Da waren Notizen über die Rheinlandschaft. Als ihre Seele empfand der Sohn des Schwabenlandes den grünen Strom. Heilig kam er ihm vor, weil er so schön ist und mit seiner Feuchte die Rebenhügel, Gärten und Fluren lieblicher Dörfer tränkt, besonders aber, weil er eine Straße bildet aus der Enge ins Weite. Wie er aus Schlüften die Büchlein und Flüsse holt und geeinte Fluten zum Weltmeer wälzt, verbindet er die rings wohnenden Menschen mit dem großen Völkerleben.

Wenn Hainlin schauend an der Rheinwerft wandelte und die Wassermasse breit und wuchtig hinrollen sah, wenn ein Kettendampfer die Reihe belasteter Kähne keuchend stromaufwärts schleppte oder ein Salondampfer, wimmelnd von Vergnügungsreisenden, mit Musik zur Landung kam, wenn Hainlin die Aussteigenden Englisch, Holländisch, Französisch parlieren hörte und die verschiedenen Mundarten deutscher Stämme belauschte, das singende Platt von Köln, die rauhen Kehllaute des Schweizers, die vorlaute Witzelei des Berliners, das hastige Geschwätz des Frankfurters – wenn alsdann unser Kind der Schwäbischen Alb ans heimische Dörfle dachte, an die Schulen, die seine Jugend unter Klausur gehalten hatten, an das Spießernest am Neckar – so kam er sich vor wie ein Vogel, der aus dem Käfig[369] schlüpfen durfte und im Freien die Schwingen erstarken fühlt. Noch mehr! In dieser Erweiterung seines sozialen Erlebens spürte er einen religiösen Gehalt: Der Rheinstrom war ihm Sinnbild der Menschenseele, die aus ihres Ursprungs Kleinlichkeiten sehnsüchtig drängt zum göttlichen Ozean: in der Unendlichkeit aufzugehen.

Solchem Fühlen gab sich Hainlin gern auf dem Balkon einer Schifferkneipe hin, genannt »Zum Rheinkranen«. Einsam saß er da beim Weinschoppen – vor ihm, unter ihm rauschend die grüne Flut. In den Atem des Wassers mischt sich Teergeruch. Fernher dumpf eines Dampfers Ruf, das Gellen der Schiffsglocke. Drüben vom Dörfchen Beul kommt die Fähre geschwommen. Stromaufwärts lila im Abendschein das Siebengebirge, über Königswinter schroff der Drachenfels. Wie Hainlin so träumte und auf die hineilenden, wirbelnden Wassermassen schaute, kam es ihm vor, als bewege sich das Plätzchen, wo er saß – als sei es ein Kahn und trage ihn einem geheimnisvoll großen Ziel entgegen.

»Antschuldijen Sie!« sagte jemand, und Hainlin fand sich wieder auf dem Balkon der Schifferkneipe. Der ihn angeredet hatte, war ein blasser Jüngling mit blondem Schnurrbärtchen, schäbig gekleidet. Hainlin erinnerte sich, ihn bereits gesehen zu haben, am Schalter der Bibliothek – da hatte er ihm Bücher ausgehändigt. »Herr Bibliothekar,« fuhr der junge Mann fort und verbeugte sich linkisch – »antschuldijen Sie, daß ich Sie anspreche, außerdienstlich in äiner Bibliotheksanjelejenhäit.«

Ein armer Student aus Ostpreußen! dachte Hainlin und erhob sich höflich: »Ha freili! Om waas handelt sich's?« – »Um ein Buch! Können Sie mir sagen, unter walchem Titel die Jedichte von Angelus Silesius erschienen sind?« Hainlin konnte Auskunft geben. Der junge Mann machte Notiz in sein Büchlein,[370] verbeugte sich dankend und nahm am Nachbartische Platz. Der Wirt brachte den üblichen Porzellanschoppen, der Gast nippte und ließ seinen Träumerblick über den Rheinstrom gleiten.

Nach längerem Schweigen nahm Hainlin das Gespräch wieder auf: »Darf ich fragen? Sind Sie Theolog?« – Leichte Röte überflog des Jünglings Gesicht: »Ach näin! Studant bin ich käiner – bloß Schusterjesalle.« Hainlin stutzte, wollte es aber nicht merken lassen, und ermunterte lächelnd: »Ha no! Hans Sachs, der war ein Schuhmacher und Poet dazu! Ein andrer Schuster, Jakob Böhme, e großer Philosoph.«

Des jungen Mannes Augen leuchteten: »Es freut mich, daß Sie so vorurteilslos sind! Darf ich mich vorstellen? Burdinski häiß ich. Herr Professor Knodt war so jütich, mir Erlaubnis zu erwirken zur Benutzung der Bibliothek. Ich hab ihn kennen jelernt, als er sich bei meinem Mäister Stiebel anmessen ließ. Säitdem darf ich zu ihm kommen, und er läiht mir wohl ein Buch. Aber ich möcht ihn doch nicht viel behallijen. Un Sie, Herr Bibliothekar ...« – »Hainlin ist mein Name.« – »Also, Herr Hainlin, auch Sie möcht ich nich wäiter ...« – »Aber gar net! Im Gegeteil! Möchten S' noch ebbes plaudere, so tun S' an meim Tischle da Platz nemme, gelt?« Das tat Burdinski gern, und Hainlin hatte Teilnahme für den geistig strebsamen Schustergesellen.

Burdinski war der Sohn einer armen Sachsengängerin. Sein Handwerk, das ihm ein Zufall vermittelt hatte, galt als Notbehelf, solange sich kein besseres Mittel zur Fristung des Lebens bot. Daß er mit seinem Wochenlohn – fünfzehn Mark – auskam und sogar zuweilen ein Schöppchen Wein genehmigen durfte, war zwei Umständen zuzuschreiben: Abgelegte Kleidung, die ihm paßte, bekam er von Professor Knodt, und als Vegetarier wußte er sich sehr billig zu nähren. Als er einmal ohne[371] Arbeit gewesen war, hatte er für sechs Mark, die er als letztes besaß, Bohnenkerne gekauft – davon kochte er täglich ein paar Hände voll und tat die Bohnen in ein Linnensäckchen. Während er nun in Kölns Straßen Arbeit suchte, aß er von Zeit zu Zeit Bohnen und – spürte dabei keine Erschöpfung. Nur eine Kleinigkeit Obst und Brot hatte er sonst noch.

Ersparnisse, die er seinem ärmlichen Einkommen noch abgewann, befähigten ihn, zuweilen eine Rheinreise zu machen, auf Lastkähnen, die von Kettendampfern geschleppt wurden. Dafür, daß er den Schiffern die Stiefel flickte oder durch Belehrung gefällig war, durfte er an ihrer Mahlzeit teilnehmen. So war er wiederholt von Bonn bis Bingen gefahren, einmal auf einem holländischen Dampfer sogar bis Rotterdam. Burdinski war ein eremitischer Lebenskünstler, eine Art Diogenes – nur daß er Freuden des Daseins nicht verschmähte, wo sie auf unschuldige Weise zugänglich wurden.

Hainlin, der bisher einsam gelebt hatte und schon deshalb Zurückhaltung üben mußte, weil ihm die Stelle als Bibliothekargehilfe nur fünfzig Mark monatlich einbrachte, wozu Onkel Guhl allerdings noch zwanzig fügte, Hainlin wurde durch Burdinski, mit dem er in Verkehr blieb, veranlaßt, auch mal unternehmungsfroh in die Außenwelt zu tauchen. An manchem Abend plauderte er mit dem Schustergesellen beim Kölschen Bier im »Bären«; und wenn der eine oder andere sein Geld für ausreichend hielt, gingen die beiden zum »Rheinkranen«. Sogar dörfliche Kirchweihfeste besuchten sie, und in Küdinghofen, Dollendorf, Godesberg wurde mit Mädchen, die man im Tanzsaal vorfand, zu Klarinette und Hörn Rheinländer gewalzt.

Auf einer Kirmeß lernte Hainlin den Vater seiner Tänzerin kennen, einen Goldarbeiter namens Hannes, der gleich Burdinski zu den Autodidakten gehörte. Es war ein graubärtiger,[372] aus dunkeln Augen hohl blickender Mann, der pathetische Ausdrucksweise liebte. Ueber die französische Revolution verbreitete er sich mit Sachkenntnis, hatte lebhaften Sinn für Arbeiterfragen und war ein glühender Anhänger Lassalles. Durch ihn erhielt Hainlin die ersten Einblicke in den Sozialismus. Was ihn daran fesselte, war nicht so sehr seine volkswirtschaftliche Seite als die von ihm eröffnete Aussicht auf Veredelung des Menschentums. »Mich erschüttert«, sprach Hainlin, »die Tatsache, daß die besitzlose Masse neunzehn Zwanzigstel unseres Volkes ausmacht, daß also der Hauptteil des Ackers für geistige Kultur brachliegen bleibt, und daß gute Anlagen, mit denen die Natur den Proletar ausgestattet hat, massenhaft verkümmern, während man doch folgern darf, Bebauung des ganzen Volksackers werde die Leistungen in Wissenschaft, Technik, Kunst verzwanzigfachen. Eine Zivilisation, zu deren Art solche Vergeudung von Werten gehört, hat eigentlich keinen Ahnspruch auf den Ehrennamen Kultur.«

»Stimmt!« erwiderte Burdinski, »es ist übertünchte Barbaräi – und alle soziale Kulturpolitik soll man natürlich unterstützen. Die Frage is bloß, ob die sozialistischen Häilrezepte radikal jenuch sind – ob sie die Wurzel des Uebels besäitijen. Die Wurzel der Barbaräi is nämlich äinfach der Ejoismus. Zu eng im Jemüte sind die Manschen, nehmen nich jenuch Antäil aneinander. Sollen sie veredelt werden, so kann es bloß durch höhere Lebensanschauung jeschehn. Aber an diesem Hauptziel schießen fast alle Sozialen vorbäi – sie sind zu öißerlich. Vom Wohlstand erwarten sie schon das Himmelräich auf Erden. Darüber denke ich anders. Anjenommen, ich hätte hinfort dräitousend Mark Verdienst, – na? was wär's denn nu? Kurz wäre mäin Jlück – die paar Jenüsse, die man mehr hätte, wäre man eben rasch jewöhnt, na ja! un würde noch höher hinous[373] wollen, müßte schon fünftousend haben – un siehste, so is das soziale Emporkommen ne Schroube ohne Ende – schäinbar schroubt man sich hoch, das Jlück wird aber dabäi nich jrößer – das Jemüt sojar oft schlechter. Jald macht's Herz äijennützig – un durch Bildung – was man so nennt, will sagen Kanntnisse, werden die Manschen jewöhnlich bloß raffinierte Ejoisten, wo den Dümmern überflüjeln und ausböiten. Na, ja, was der Hannes von Ausböitung sagt, stimmt nich janz. Nämlich die Sozialen halten den Manschen für äin Produkt der Verhaltnisse – ich aber behoupte, aus'm Herzen kommt des Menschen Jeschick, verstehste? Nich aus den Kanntnissen – vielmehr aus säiner Jefühlswelt. Erkanne dich selbst! steht jeschrieben am Tempel der Wäishäit. Findet man die Jotthäit in sich, so erschließt sich das wahre Himmelräich – nich durch Lösung der sozialen Frage – sie erlöst uns nich in dem, worauf es äijentlich ankommt.«

In einer Mainacht war's, daß Burdinski so sprach; die beiden Freunde gingen bei Mehlem dicht am Rhein, dessen Spiegel der Vollmond silbern überbrückte. Ins leise Rauschen und Gurgeln der Wasser mischte sich fernes Flöten einer Nachtigall. Lauschend blieb Burdinski stehen: »Drüben im Fliederbusch singt sie, wie ihr ums Herz – un is selich, sich ihrem Liebchen mittäilen zu können. Mansch! ich behoupte, jlücklich is jedes Jeschöpf, wenn's mit nem andern verbunden is durch Mitjefühl un Verstandnis. Bedenke doch bloß, wie sich 'n Hundeken fröit, wenn sein Herrchen zu ihm 'n jütiges Wort spricht oder es bloß anlacht – wie's dann hüpfen tut un wedelt und jauchzt ... Ja, ja, lieber Häinlin! Sich äins fühlen mit jetrennten Wesen, was man Liebe nennt, das ebent ... Un Mansch, ich behoupte, je jroßartiger de Jeschöpfe fortschräiten in jejensäitiger Mittäilung, desto selijer werden se ... Da, da hast es!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 368-374.
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