Heilige Ferne

[374] An ein Lied mußte Hainlin denken, das sein Landsmann Hölderlin gesungen hat: Vom Strom, den der Frühling weckt, so daß Winters Fessel, die Eiskruste, bricht – der nun jauchzend seiner Bestimmung entgegenrollt, talab zum grenzenlosen Ozean. Ein Bild der Menschenseele, die vom Glastelfinger Heimweh zum Ewigen gezogen wird: »Der Frühling kommt, es dämmert das neue Grün. Er aber wandelt hin zu Unsterblichen. Denn nimmer darf er weilen, als bis ihn in die Arme der Vater aufnimmt.«

Ja, nimmer darf er rasten, der Erdensohn, den Zeitlichkeit umfangen hält. Werden und Vergehn reißen ihn vom Ruheplätzchen, das er liebgewonnen hat – und nichts, woran sein Herz hängt, bleibt ihm eigen. Wieder einmal sollte Hainlin das erfahren, im dritten und vierten Jahre seines Bonner Aufenthaltes. Zunächst verlor er seinen Freund Burdinski – und das kam so: Burdinski war Katholik, aber durch seine religiöse Selbständigkeit dem Formeldienste der Kirche entfremdet. Der Schuhmachermeister, bei dem er Arbeit hatte und neuerdings Schlafstelle, war von seinem Beichtvater ausgehorcht worden über den Gesellen und hatte nicht verhohlen, für Messe, Beichte, Kommunion sei dieser kuriose Kerl nicht zu haben. Da hatte der Priester verlangt: wenn der Gesell verstockt bleibe, müsse er entlassen werden; ein räudig Schaf könne ja die Herde anstecken.[375] Bei den paar Meistern, die sonst noch in Bonn Gesellen beschäftigten, fand Burdinski keine Arbeit, – so entschloß er sich, auf Wanderschaft zu gehn.

»So is das Leben!« meinte er wehmütig. »Alles fließt! Un in demsalben Flusse schwimmst du nie zum zwäitenmal. Liebe un Schau der Ewichkäit is der ruhige Pol in der Erscheinungen Flucht – an den halten wir uns, lieber Häinlin! Auf alles andere is käin Verlaß.« Das war Burdinskis Vermächtnis – Hainlin nahm's in sein Herz, und die Freunde trennten sich. Es gellte die Schiffsglocke, das Holzbrücklein wurde an Bord gezogen, zu schaufeln begann der Dampfer. Während er abfuhr und sich entfernte, winkte Burdinski mit himmelblauem Taschentuch. Hainlin fühlte sein Gesicht zucken – wandte sich, und – nun fand er innerlich den Verlorenen wieder, sah ihm ins gute Träumergesicht und hörte die singende Stimme: »Liebe un Schau der Ewichkäit! Auf alles andere is käin Verlaß!«

»Gott« – wie Hainlin das Leben in Licht und Liebe nannte – Gott war jetzt der einzige Freund, mit dem Hainlin Umgang hatte. In der Wissenschaft gab sich ihm als Tiefstes »Gott« zu erleben. Indem Hainlin die Musik mit religiöser Mystik verwob, wurde er ein Kunstphilosoph, dessen Aufsätze in große Blätter des Rheinlandes gelangten und von denkenden Musikfreunden geschätzt wurden. Das Einkommen des Verfassers besserte sich, er hatte mehr Behaglichkeit. Schon knüpfte er an den Erfolg die Hoffnung, sich eine Existenz zu gründen, so daß Rosel die Seine werden könne.

Sehnsüchtiger Träumerei ergeben, hatte er einen Herzenserguß an Rosel unter der Feder, als von ihr ein Brief anlangte, der ihn von seiner Höhe jämmerlich abstürzen ließ. »Als du von Tübingen gegangen bist, liebster Freund, hast du mir gesagt, ich solle aufhören, mich als deine Braut zu betrachten. Du habest[376] keine Aussicht auf eine Lebensstellung, die dich befriedigen und zugleich zum Eheschluß befähigen könne. Und wie ich vor einem Jahr meine Herzensnot nicht länger hehlen gekonnt und dir geschrieben hab, Herr Bolkendorf wolle mich nimmer entbehren, hast du geantwortet: wenn er mich heiraten möge, sei wohl nichts andres einzuwenden, als daß er vermutlich ein Krüppel bleibe. Neuerdings aber, seit ihn der neue Professor in Behandlung hat, geht's überraschend gut mit ihm. Ohne Krücken, bloß mit dem Stock geht er zur Gartenlaube, hat sich vorgestern übern Neckar setzen lassen und die ganze Platanenallee durchspaziert. Er war selig, und bei der Erdbeerbowle, die zur Feier des Tages die Mutter auftischte, hat er gesagt, jetzt solle sich's entscheiden, ob ich die Seine werde. Er wisse, daß es jetzt aufwärts mit ihm gehe, und ich dürf es mit ihm wagen. Mir war's Weinen net fern – doch um dem guten Mann die Freude net zu vergällen, hab ich ein zuversichtlich Gesicht gemacht – und nichts weiter eingewandt, als daß ich dich halt einmal befragen möcht in der Sach. Mei Mütterle macht geltend, in den vier Jahren, die wir schon mit Bolkendorf hausen, seien wir so aneinander gewöhnt, daß es nicht bloß für ihn hart sein würd, uns von ihm zu trennen. Net grad drängen wolle sie mich, und wenn ich ihn net mög, könn unser Leben in Gotts Namen so weiter gehn, es müsse net grad gheiratet sein. Aber weil's den Bolkendorf doch arg freuen würd, und wegen meiner Versorgung – ich sei ja schon Zweiunddreißig – auch wegen der Leut, die ein bös Maul hänt, sei's besser, wenn's endlich zur Hochzeit käm. Und jetzt, mei Jergle, hilf mir aus dem Zweifel und sag frei: was soll geschehn?«

Das Herz tat Hainlin weh, als solle sein Liebstes zu Grabe getragen werden. In langer Grübelei nahm er Abschied vom zärtlichsten Traume seiner Jugend – dann schrieb er an Rosel:[377]

»Wenn dein Herz nichts gegen die Heirat hat, so brauchst du sie nicht zu unterlassen.« Dies Wort entschied, und es dauerte nicht lange, so sandte Hainlin einen Glückwunsch an »Frau Rosel Bolkendorf, geborene Funk«.

Als wolle ihn das Geschick verhöhnen, erfuhr gerade um diese Zeit sein Einkommen eine Besserung, die ihm erlaubt haben würde, Rosel zu heiraten. Ein Verlagsbuchhändler trug ihm an, ein Werk über Musik herauszubringen, Hainlin erwärmte sich für den Gegenstand, die viertausend Mark Honorar dünkten ihn ein Vermögen, und er begann aufs neue von Gärtnerei zu träumen – die sollte ihn trösten.

Einstweilen versuchte er's noch einmal mit der Menschengärtnerei. Bonn hatte nicht bloß eine Universität, auch viele Mädchenpensionate – und vom Töchter-Institut Bouvier ließ sich Hainlin als Lehrer für Literatur und Kunstwissenschaft beschäftigen. Auch diese Stellung war gut bezahlt, und nichts erschwerte den Unterricht. Die jungen Damen, Töchter rheinischer Kaufleute und Fabrikanten – darunter ein paar Belgierinnen und Engländerinnen –, benahmen sich gewählt und zeigten Interesse für die Vorträge. Allmählich zwar entdeckte Hainlin an mancher Schülerin Stumpfsinn, und die Sache wurde ihm nun etwas langweilig. Es verdroß ihn, daß Fräulein Bouvier auf oberflächlichen Drill ausging, auf eine Scheinbildung, die im Salon funkeln soll. »Pfui, nein! Das darf man nicht merken lassen!« »So was sagt man nicht in Herrengesellschaft!« »Mit der Frisur werden Sie keinen Staat machen!« »Zum Teebereiten legt man Tändelschürzen an, das sieht hausmütterlich aus.« Mit solchen Ermahnungen putzte Fräulein Bouvier am Gefieder ihrer Gänse herum. Besonders streng ging es her, wenn sie die Herde spazieren führte durch die Poppelsdorfer Allee. Die Damen gingen zwei und zwei hintereinander[378] und mußten sittig tun – Geschwätz, Gelächter, Kokettieren mit Studenten war streng verboten.

Persönliches Interesse an seinen Schülerinnen konnte Hainlin nicht nehmen, da sie vor lauter Getue nicht zur Aufrichtigkeit kamen. Aber ein Mädchen fesselte ihn, die zwanzigjährige Marga Deutges, eine zarte Blondine vom Niederrhein. Wenn er unterrichtete, ruhte ihr Blauauge auf ihm mit kindlicher Gläubigkeit. Wurde sie gefragt, so errötete sie freudig, hatte ein wehmütiges Lächeln, ihre Antwort war schüchtern, doch naturfrisch.

Eines Nachmittags im Januar, als Hainlin ein Buch aus dem Töchter-Institut holen wollte, fand er im Salon Fräulein Deutges. »Fräulein Marga? So ganz allein?« Am Fenster saß sie, bei einer bunten Stickerei und erhob sich grüßend: »Ach ja! Vom Spaziergang hab ich mich gedrückt. Ich mag den Gänsemarsch nicht, die schreckliche Ehrpusseligkeit.« – »Und da ziehn Sie vor, sich hier die Augen zu verderben? Es ist ja fast dunkel! Ihre Stickerei ist wohl für den Karneval, gelt?« – »Ach nein, Herr Kandidat! Ich wollte, Sie hätten recht! Oh, ein Kostüm für den Karneval! Aber hier läßt man keine Allotria gelten, hier versauert man vor Langerweile, uff!« – »Sie sind unverblümt, Fräulein Marga!« – »Bloß Ihnen gegenüber wag ich das. Darf ich nicht? Uebrigens war's ungeschickt von mir, über Langeweile gerade dem zu klagen, der hier meine Oase in der Wüste ist.«

Ihre zarte Hand, die sie in überströmender Herzlichkeit bot, hielt er in der seinen, erfreut über ihre Zutraulichkeit. »Also am Karneval möchten Sie teilnehmen? In den Jahren, die ich hier bin, hab ich vom Karneval grad nicks Erbaulichs gspürt.« – »Aber der Kölner Karneval soll großartig sein. Den Zug durch die Stadt möcht' ich sehn.« – »Daran könnt ebbes sein! Die[379] bunten witzigen Bilder interessieren auch mich – und vielleicht mach ich diesmal nen Abstecher nach Köln.« – »Ach, tun Sie das, Herr Hainlin! Und, wenn ich bitten dürfte – nehmen Sie mich mit!« – »Ha, Fräulein Marga, wo denken S hihn? Wie wär denn dees statthaft?« – »Statthaft? Fräulein Bouvier braucht davon nichts zu wissen! Ich nehme einfach Urlaub zum Geburtstag meiner Düsseldorfer Tante, und in Köln auf dem Bahnhof treffen wir uns; übrigens kann ich ja 'ne Maske vors Gesicht tun. Den Festzug erwarten wir in einer Straße, und wenn Sie mich dann los sein wollen, fahr' ich eben wirklich zu meiner Tante.«

Lächelnd blickte Hainlin auf die kleine Versucherin, und da er nicht rundweg ablehnte, verstärkte sie ihr Bitten durch stürmischen Frohsinn. »Sie werden schließlich enttäuscht sein, Fräulein Marga!« mahnte er. »Erstens paßt meine Schwärblütikkeit net in die Ausgelassenheit.« – »Aber Sie sind doch Künstler! Dichter!« warf sie ein – »streiten Sie nicht. Aber weiter! Zweitens? he? Schießen Sie los!« – »Zweitens werden Sie enttäuscht sein, weil manche Sach ihren Reiz bloß so lang hat, als sie fern ist! Kommen wir zu nah, treten wir aus der reinen Beschaulichkeit heraus, so – verwandelt sich die holde Ferne in – etwas Gewöhnliches.« Sie war ernst geworden und schwieg – dann blickte sie ihm ins Gesicht: »Was Sie da sagen, ist Wahrheit – bloß daß ich erwidern kann: Wenn uns der Kölner Karneval enttäuscht, so schadet das nichts weiter, die Sache ist geringfügig. Uebrigens bin ich nun mal so, daß ich einer Sehnsucht nachlaufe – auf die Gefahr hin, enttäuscht zu werden. Lieber sich mal die Finger verbrennen, als unerfahren bleiben und – in der Enge versauern!« – »So hat die Eva auch gedacht!« scherzte er; und sie erwiderte: »Ach was! Ein Paradies steht nicht gleich auf dem Spiel! Fräulein[380] Bouvier schaßt mich nicht sofort – und wenn selbst mein Verlobter was davon erführe, mag er mich doch ausschelten!« – »Sie sind verlobt?« – »Wußten Sie das nicht? Haben Sie noch nie den Ring an meinem Finger bemerkt? Uebrigens war mein Verlobter neulich hier.« – »Ach, der – korpulente Herr? Entschuldigen Sie – ich hielt ihn für Ihren Onkel.« – »Das könnt er auch sein – ist schon Fünfundvierzig. Aber gut ist er zu mir – hat mich armes Ding ... Fabrikmädel hätt' ich werden müssen, wenn er nicht ... der also will mich heiraten. Ich soll erst noch etwas Bildung lernen. Hermann hat nämlich eine große Fabrik und verlangt von mir mal 'ne vornehme Häuslichkeit ... Und sehn Sie, drum soll ich feine Benehmigung lernen, und so braucht er natürlich nicht zu wissen ... Was aber die holde Ferne betrifft, die man nach Ihrer Ansicht respektieren soll, so macht mir diese Frage nichts zu schaffen. Denn die Fernen, die mir aufdämmern, bleiben ohnehin fern, ich gerate nicht mal in Versuchung, zuzugreifen. Und wenn ich's täte, will ich – lieber enttäuscht sein, als ein Schaf bleiben.«

Also gut, der Plan wurde ausgeführt, Hainlin und Marga trafen sich in Köln, kostümierten sich in einem kleinen Gasthof – sie als Zigeunerin mit schwarzseidener Halbmaske, er als rotbemützter Jakobiner. Arm in Arm ging's durch die närrische Stadt, erst durch volkstümliche Lokale, wo ein paar bunte Szenen erlebt wurden, dann in eine Gasse, durch die der Karnevalszug kommen sollte. Der Ort schien insofern gut gewählt, als es da nicht viel Zuschauer gab. Unser Paar stand auf der Steinschwelle einer Haustür, so daß Marga gut sehen konnte. War auch das Warten langwierig, so hatte Marga doch Spaß an den Witzeleien, die rings laut wurden. Als Kind vom Niederrhein verstand sie das Köllsche Platt.[381]

Nun ging eine Bewegung durch die Menge, an den offenen Fenstern erschienen Neugierige. Die Haustür, an die sich Hainlin und Marga lehnten, wurde zweiflügelig geöffnet, und Hausbewohner drängten hervor, so daß Marga ihren erhöhten Posten nicht behaupten konnte. Klein, wie sie war, hatte sie hinter der Menschenmauer, die den Bürgersteig einnahm, einen ungünstigen Stand. Während unter frohem Gejohl der Menge die Vorreiter und ersten Wagen des Zuges erschienen, nahm Hainlin das Mädchen bei der Hand und hastete in die vorderste Zuschauerreihe. Aber da liefen sie Gefahr, von den Wagen erfaßt zu werden. Sie drängten rückwärts, unter Geschrei erfolgte Gegendrängen, und plötzlich sah Hainlin, daß sein Kopf vom weit ausladenden Borde eines Fuhrwerks bedroht war.

Hainlin hatte die Geistesgegenwart, sich rasch zu ducken – so verhütete er das Unglück, bloß daß er einen Stoß an den Backenknochen bekam. Da der nächste Wagen mit Abstand folgte, hatte er noch Zeit, die Jakobinermütze, die ihm abgerissen war, aufzuraffen und Marga fortzureißen, bis ein erträglicher Standpunkt gefunden war.

»Sie bluten ja!« raunte das Mädchen erschreckt, »wir wollen fort!« – »Es ist nichts!« behauptete er, obwohl ihm der Kopf dröhnte. Er wollte Marga nicht um das Vergnügen bringen, auf das sie sich gefreut hatte.

Was sie zu sehen bekamen, war allerdings unbedeutend – oder kam ihnen deshalb so vor, weil die Stimmung einmal verdorben war. Die Gruppen der altkölnischen Stadtsoldaten, der sogenannten Funken, der Winzer, Brauer, Schiffer, der Wagen des Prinzen Karneval, all diese bunten Bilder, die witzig und gar künstlerisch sein sollten, waren grell und roh, albern, zumal die Darsteller kein Feuer mehr hatten und hinter Fratzen ihre Müdigkeit versteckten.[382]

In einer Konditorei erholte sich das Paar. Hainlin kühlte die Backe mit Wasser, Marga bemutterte ihn, fütterte ihn mit süßem Eis. Das war der Glanzpunkt des Tages, zumal ihre blauen Augen rührend blickten und im Geplauder ihr Herz sich auftat, als wär's ein Pförtlein zum Paradiese. Nachdem sie in einer stillen Weinstube gespeist hatten, begaben sie sich auf den Maskenball. In Dunst und Tabaksqualm raste der Tanz, gepeitscht von der stampfenden Musik. Ein Strudel war's, Rausch, Taumel der Sinnlichkeit, stumpfe Hingabe an die Bewegung des Menschenknäuels. Doch daß Hainlin die zierliche Gestalt in sei nen Armen halten durfte, war ihm Wonne – die Menschen störten ihn. Plötzlich wurde Marga weggerissen von einem Pulcinell in kreidiger Larve, verschwunden war sie. Er mußte suchen. Aber da hing sie wieder an seinem Arm. Und raunte: »Du hattest recht! So was läßt man in Distanz! Der Kerl war widerwärtig. Wenn du willst, gehen wir!« Es war auch Zeit, sonst hätten sie den Abendzug verpaßt. Sie hatten solche Eile, daß sie sich nicht einmal umkleiden konnten im Gasthof, wo sie einen Teil ihrer Garderobe gelassen hatten. Im Karnevalkostüm mußten sie reisen.

In Bonn angelangt, verstand es Marga, in der Garderobe eines Lokals, wo getanzt wurde, sich umzukleiden, um wieder als braves Pensionsfräulein zu erscheinen. Hainlin behielt seine Halblarve mit der langen Nase auf, weil er Marga in die Gegend des Instituts begleiten wollte. Er führte die Verhüllte durch eine einsame Gasse, wo der Mond schien. Hier ging er langsam, blieb stehen und sagte weich: »Marga! Das Narrenfest hatte uns angesteckt. Was wir da fanden, war Stumpfsinn! Meinst du nicht auch?« – »Ja,« raunte sie, »aber bitte, nimm die Nase ab!« Er warf die Larve fort, faßte ihre Hände und sah in die feucht schimmernden Augen: »Marga! Alles sonst[383] war nichts! Aber als du mich füttertest und mir dein Herz auftatest, und als ich dich beim Tanz in den Armen hielt, da – war ich sälik.« – Ihr Busen hob sich, sie seufzte: »Ich auch!« – »Marga! Und weshalb hänt mr net lieber das Glück im stillen genossen – ohne störendes Beiwerk?« – »Gescheiter wär's gewesen,« hauchte sie. – »Und jetzt, da wir scheiden müssen – du willst ja Ostern heiraten – hier, wo's grad keinen Störer hat, gelt? Marga! Willst mir e Bussel geben?« Da hing sie an seinem Halse, sanft drückten auf seinen Mund die lieblichen Kinderlippen. Doch wie ein Traum war dies Glück verflattert. Nur daß ein heimlicher Schatz blieb, als sei auf eine Perlenschnur eine neue Perle gereiht, schön wie eine Wonneträne.

Dem Seelenrausch folgte ein garstiges Nachspiel. Das Paar war erkannt, war beobachtet worden. Hainlin erhielt von Fräulein Bouvier einen bissigen Brief, der ihm die Stellung kündigte. Gleichzeitig schrieb Marga, ihr Bräutigam komme, sie zu holen: »Aber unser Karneval ist doch keine Enttäuschung. Das Beste – wie treffend hast Du das gesagt – hat seinen Reiz eigentlich nur, solang es fern ist. Du sollst mir fortan fern sein, das Schicksal will es so. Nun wohl, so bleib' mir im Herzen, meine nie verblühende Seligkeit!«

Hainlin beschloß, nach Berlin zu übersiedeln – was übrigens seinem Werk über Musik und weiteren Unternehmungen zustatten kommen konnte. Durch eine Rheinfahrt wollte er Abschied nehmen vom grünen Strome. Der Wirt zum »Rheinkranen« vermittelte ihm die Fahrt auf einem Schleppdampfer – ungestört konnte er da träumen. Die Sonne ersten Frühlings lächelte, das Ufer mit den Rebenterrassen war ein lila Duft, wie Veilchen die schimmernde Ferne. Am Bugspriet saß Hainlin – so sah er fast nichts vom Schiffe, nur grüne Wasserfläche[384] und die Ufer, die sich wie Teiches-Gestade ausnahmen. Das machten die Windungen des Stroms. Da sie das Uferbild fortwährend verschoben, sah es aus, als ob vor dem nahenden Schiffer das Ufer zurückweiche.

»Ihr habt recht!« lächelte er wehmütig – »meinem Glastelfingen darf ich nicht nahe kommen – nur schauen will ich, nicht begehren! Klarer Spiegel sein, geistig lieben! Das allein heißt teilhaben am Ewigen ...«


Mein Auge träumt. Auf glattem Teiche gleitet

Mein Segelkahn,

Dem Abendhauch die Schwinge hingebreitet,

Als wär's ein Schwan.


Die Ufer grün und blumig – Hügel blauen –

Rings Duft und Glanz,

Als wöbe bunt ein Volk von Elfenfrauen

Den Schleiertanz.


In Staffeln klimmt die Rebe – Schattenlauben

Bergan geschmiegt.

Um Dorf und Turm ein Silberblitz von Tauben,

Im Kreis gewiegt.


Zur Hürde ziehn die Herden von der Halde –

Purpuren blinkt

Ein Fensterlein: mein Märchenschloß am Walde

Es winkt mir, winkt.


Ich komme! Schwill nun, Segel! Sei mir Flügel!

Es gilt mein Glück!

Schon naht der Kahn – da ziehn die Uferhügel

Sich scheu zurück.
[385]

Und will mein Arm erhaschen, sie entgleiten

Wie Traumgebild –

Und ach, mein Heimweh nach den Wunderweiten

Bleibt ungestillt!


»Du stillst es, wenn du still bist!« lächeln milde

Die Uferhöhn –

»Daheim in deiner Tiefe blühn Gefilde

Wie Eden schön.


Sei du ein Teich! Die Unrast all versunken

In kühler Flut!

O selig, wer von heilger Ferne trunken

Im Schauen ruht!«


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 374-386.
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